Psychiatr Prax 2010; 37(4): 206-207
DOI: 10.1055/s-0030-1254199
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Psychiatrische Rehabilitation: "deutscher Sonderweg" – wo geht es hin?

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Publication Date:
18 May 2010 (online)

 

Psychiatrische Erkrankungen sind häufig, folgenschwer und unterversorgt. Das Thema Rehabilitation ist für diejenigen psychischen Störungen besonders relevant, die aufgrund ihrer Schwere, Art oder Dauer langfristig zu Beeinträchtigungen und Behinderungen im sozialen und beruflichen Kontext führen. Rehabilitation hilft bei der Bewältigung der Krankheit und zielt auf die Herstellung einer optimalen Lebensqualität. Soweit möglich, stellt sie auch die Teilhabe am (allgemeinen) Arbeitsleben wieder her. Die drei Bereiche medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation werden dabei nach Möglichkeit verbunden.

Für seelisch behinderte und von seelischer Behinderung bedrohte Menschen besteht unabhängig von der Ursache der Behinderung in Deutschland ein Rechtsanspruch auf Rehabilitation (§10 SGB I). Die sozialrechtlichen Grundlagen für die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen wurden in dem 2001 verabschiedeten IX.Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) zusammengefasst. Die jeweilige Kostenzuständigkeit richtet sich weiterhin nach den Spezialvorschriften, wie sie in den übrigen Teilen des Sozialgesetzbuches niedergelegt sind.

In Deutschland werden als Rehabilitation im engeren Sinne, den sozialrechtlichen Festlegungen folgend nur zeitlich befristete und zielgerichtete Maßnahmen, die schwerpunktmäßig der Erhaltung oder Wiederherstellung der Teilhabe in relevanten Lebensbereichen dienen, abgegrenzt. Aus Prävention, Akutbehandlung, Rehabilitation und langfristiger Integra.tion chronisch psychisch kranker Menschen entsteht zwar ein Versorgungskontinuum, das jedoch leistungsrechtlich und konzeptionell aus klar beschriebenen Segmenten zusammengesetzt ist.

Durch Vereinbarung der beteiligten Kosten- und Leistungsträger (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Bundesagentur für Arbeit) wurde in Deutschland ein spezielles Rehabilitationsangebot für (v.a. schwer und chronisch) psychisch kranke Menschen durch nahtlose Verzahnung medizinischer und beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen bei begleitender psychosozialer Betreuung unter der Bezeichnung "Rehabilitation für psychisch Kranke und Behinderte" (RPK) geschaffen. Die Empfehlungsvereinbarung RPK von 1986 wurde 2006 durch eine aktualisierte Neufassung abgelöst. RPK-Angebote existieren, wenn auch nicht flächendeckend, so doch inzwischen in vielen Regionen des Bundesgebietes [1] und konnten ihre Erfolge hinsichtlich des Erreichens der gestellten Rehabilitationsziele belegen [2]. Prinzipiell stehen auch andere Einrichtungen wie etwa Berufsbildungswerke und -förderungswerke sowie berufliche Trainingszentren für psychisch Kranke und seelisch Behinderte zur beruflichen Rehabilitation zur Verfügung, doch haben sich nur manche dieser Einrichtungen dem Personenkreis geöffnet und spezielle Angebote entwickelt. Menschen mit affektiven, Angst- und Persönlichkeitsstörungen werden rehabilitativ häufig in medizinischen (psychosomatischen) Rehabilitationskliniken behandelt, was wiederholt kritisiert wurde, da oft die längerfristige Berücksichtigung des sozialen und beruflichen Umfeldes für die Rehabilitations- und Therapieplanung fehlt. Das im SGB V vorgesehene Angebot der "Soziotherapie" (§37a SGB V) muss inzwischen als weitgehend gescheitert gelten.

Psychiatrische Rehabilitation soll einerseits am Individuum orientierte Bedürfnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten berücksichtigen, andererseits kontextbezogene Faktoren des soziokulturellen Umfeldes der Betroffenen einbeziehen. Dem steht die in Deutschland praktizierte Trennung zwischen Therapie und Rehabilitation entgegen. Nachteile ergeben sich auch, da bei psychischen Erkrankungen keine regelhafte zeitliche Abfolge von Akutbehandlung und Rehabilitation gegeben ist: mit Rückschritten während der Rehabilitation durch Erkrankungskrisen ist zu rechnen. Eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist entscheidend von einem gelungenen Zusammenwirken akuter und rehabilitativer Interventionen abhängig. Dies wird durch das sehr vielgestaltige System an unterschiedlichen Kostenträgern psychiatrischer Versorgungsangebote in Deutschland verkompliziert.

Deshalb muss sich in Zukunft das deutsche Versorgungskonzept an internationalen Modellen orientieren und dabei insbesondere das Augenmerk auf außerstationäre, integrierende Angebote richten. Beispiele sind u.a. die in Großbritannien im Zuge der Deinstitutionalisierung entstandenen und gut etablierten Community Mental Health Teams (CMHT).

Für einen erfolgreichen Transfer ist nicht zuletzt eine bessere Koordination zwischen den im deutschen psychiatrischen Versorgungssystem durchaus vielfältig vorhandenen Leistungserbringern (z.B. Gemeindenahe Versorgungsverbünde, Sozialpsychiatrische Dienste, Institutsambulanzen etc.) nötig. Letztlich bedarf es grundlegender Reformprozesse, die von den Akteuren des Gesundheitswesens (Leistungserbringer und Kostenträger gleichermaßen) und der Politik getragen werden müssten, um den deutschen Sonderweg der (psychiatrischen) Rehabilitation kritisch zu hinterfragen bzw. entsprechende Modifikationen zuzulassen.

Die unterschiedlichen Formen der medizinischen, Wohn- und beruflichen Rehabilitation sind zukünftig ebenso zu integrieren wie die Ausweitung bzw. Entwicklung von individuumsbezogenen Rehabilitationsprogrammen für schwer psychisch Kranke jenseits der bisher im Rehabilitationsprofil berücksichtigten Krankheitsgruppen.

Auf europäischer Ebene kann positiv Bilanz gezogen werden: im Bereich des rehabilitativen Wohnens wurden innovative Projekte entwickelt und bereits evaluiert [3], [4]. Jedoch sind generalisierbare Ergebnisse bislang nicht verfügbar. Genauere Definitionen der Begrifflichkeiten ("rehabilitatives Wohnen", "Wohnrehabilitation", "supported housing", "housing services" etc. ...), klarere Settingbeschreibungen und differenziertere methodische Zugänge sind u.a. in diesem Forschungsfeld nötig.

Im Bereich der beruflichen Rehabilitation bzw. Teilhabe am Arbeitsleben ist der Trend hin zu Modellen der direkten Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt (supported employment: "first place then train") angekommen [5], [6], [7], obgleich es für bestimmte Subgruppen immer auch Bereiche des "geschützten Tätigseins" z.B. in Werkstätten für Behinderte u.Ä. geben muss.

Nicht zuletzt wird es in der psychiatrischen Rehabilitationsforschung zukünftig um stärkere Berücksichtigung der Betroffenensichtweisen gehen. Der bis heute nicht gut ins Deutsche übersetzte psychiatrische Begriff "Recovery" weist einerseits sprachlich enge Verbindungen zur Rehabilitation auf; das Konzept Recovery [8] findet andererseits gerade unter Betroffenen und Angehörigen große Resonanz. Die Erfahrungen mit dieser neuen Perspektive werden in die Entwicklung evaluierbarer Ergebnisvariablen, wie sie von Born u. Becker angeführt werden [9], einfließen.

Weiterentwicklung und Evaluation rehabilitativer Konzepte bedürfen noch erheblicher wissenschaftlicher Bemühungen. Ausbau und Aufrechterhaltung eines flächendeckenden rehabilitativen Angebotes sind geboten.

Katarina Stengler, Leipzig; Peter Brieger, Kempten; Wolfgang Weig, Osnabrück

Email: katarina.stengler@medizin.uni-leipzig.de

Literatur

  • 01 Weig W , Schell G . Rehabilitation für psychisch kranke Menschen in Deutschland – Zur räumlichen Verteilung des RPK-Angebotes.  Krankenhauspsychiatrie. 2005;  16 107-112
  • 02 Watzke S , Galvao A , Brieger P . Vocational rehabilitation for subjects with severe mental illnesses in Germany. A controlled study.  Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2009;  44 523-531
  • 03 Fakhoury W K, Priebe S , Quraishi M . Goals of new long-stay patients in supported housing: a UK study.  Int J Social Psychiatry. 2005;  51 45-54
  • 04 Priebe S , Saidi M , Want A , et al . Housing services for people with mental disorders in England: patient characteristics, care provision and costs.  Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2009;  44 805-814
  • 05 Drake R E, Bond G R. The future of support.ed employment for people with severe mental illness.  Psychiatric Rehab J. 2008;  31 367-376
  • 06 Anthony W A. Supported employment in the context of psychiatric rehabilitation.  Psychiatric Rehab J. 2008;  31 271-272
  • 07 Burns T , Catty J , White S , et al . EQOLISE Group. The impact of supported employment and working on clinical and social functioning: results of an international study of individual placement and support.  Schizophr Bull. 2009;  35 949-958
  • 08 Anthony A . Recovery from mental illness: the guiding Vision of Mental Health Service System in the 1990s.  Psychosocial Rehab J. 1993;  16 11-23
  • 09 Born A , Becker T  Psychiatrische Rehabilitation im internationalen Vergleich und Forschungsentwicklung. In: Rössler W  Psychiatrische Rehabilitation. Berlin: Springer; 2004
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