Psychiatr Prax 2009; 36(6): 299-300
DOI: 10.1055/s-0029-1239618
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Das Asperger-Syndrom aus der Sicht einer Betroffenen

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Publication Date:
01 September 2009 (online)

 

Mit dem Begriff "Autismus" assoziiert man meist schwer behinderte Menschen, die der Sprache nicht mächtig sind und ganz in ihrer eigenen Welt leben, oder aber Menschen mit rätselhaften Sonderbegabungen. Beides trifft für einen Großteil der Betroffenen jedoch nicht zu. Das Asperger-Syndrom als eine Form des Autismus war bis vor wenigen Jahren kaum bekannt, Diagnosen erfolgten in der Regel zufällig und oft auf starke Eigeninitiative der Betroffenen hin, die im Erwachsenenalter eine Erklärung dafür verlangen, weshalb bei ihnen so einiges "anders" verläuft. So war es auch bei mir.

Die Unterschiede im Vergleich zu Gleichaltrigen werden oftmals im Jugendalter größer und auffälliger, wenn andere Jugendliche Kontakte knüpfen und Freundschaften eingehen, der Mensch mit Asperger-Syndrom aber in der Regel außen vor bleibt. Ich selbst hatte eine erste schwere depressive Phase gegen Ende meines Studiums, als ich bemerkte, dass andere Menschen Freunde hatten und ich nicht. Auf Anraten eines Facharztes nahm ich Kontakt zu einer Therapeutin auf, deren Begleitung noch heute eine sehr wertvolle Unterstützung für mich darstellt, indem sie mir hilft, im Umgang mit anderen Menschen sicherer und kompetenter zu werden. So kam es dann schließlich auch zur Diagnosestellung.

Danach macht man sich natürlich Gedanken, wie das Leben wohl verlaufen wird, ob es langfristig möglich sein wird, Freunde und einen Partner zu finden, Kinder zu haben und den Beruf auszuüben. Aber in erster Linie war es für mich eine Befreiung zu erfahren, dass es für mein "Anderssein" einen Begriff gibt und dass auch Hilfen möglich sind. Bis dahin bekam ich oft gesagt, ich sei "so komisch", weshalb ich mir Vorwürfe machte. Es war eine große Erleichterung, dafür endlich eine Erklärung zu haben. Das heißt nicht, dass ich nun alles als unabänderliches Schicksal ansehen und die Hände in den Schoß legen sollte. Im Gegenteil. Je besser ich über meine persönlichen Einschränkungen und Schwierigkeiten, aber auch die eigenen Stärken und Ressourcen Bescheid weiß, umso eher kann es gelingen, mein Leben nach meinen eigenen Bedürfnissen ausrichten und für mich sorgen zu können. Unbestritten hätte mir eine frühere Diagnose viel Leid ersparen können.

Auffällig bei Menschen mit Asperger-Syndrom sind insbesondere das Kontaktverhalten und die soziale Interaktion; soziale Regeln, die andere Menschen intuitiv beherrschen, verstehen die Betroffenen oft nicht, sondern müssen sich diese erst mühsam aneignen. Sie zeigen Schwierigkeiten im nonverbalen Kontakt - so gelingt es ihnen nur schlecht, Mimik, Gestik oder Blickkontakt anzuwenden und richtig zu interpretieren. Daher entgeht ihnen im Gespräch so manches, was andere Menschen ganz selbstverständlich nebenher aufnehmen können. Auffällig sind außerdem die mangelnde Fähigkeit der Betroffenen zum wechselseitigen Austausch von Gedanken, Absichten und Empfindungen sowie ihre oftmals plumpen und ungeschickten Versuche der Kontaktaufnahme. Die zunächst nur unverbindliche, "spielerische" Beziehungsaufnahme beherrschen sie häufig nicht, die Bedeutungen von Sprichwörtern und Redewendungen können sie sich aufgrund ihres wörtlichen Sprachverständnisses meist nicht erschließen. So erklärte der Kursleiter bei einer meiner beruflichen Fortbildungen vor wenigen Jahren, es würden spätestens um 18 Uhr im Ort die Bürgersteige hochgeklappt, was mich sehr erschreckt hatte. Gebannt stand ich am Fenster, um nicht zu verpassen, was da geschehen würde. Ich wusste nicht, dass es sich nur um eine Redewendung handelte.

Menschen mit Asperger-Syndrom können sich oft sehr gewählt ausdrücken, zeigen aber eine monotone Sprache und verwenden unübliche sprachliche Wendungen. Sie interessieren sich manchmal für sehr ungewöhnliche Dinge in umschriebenen Bereichen. Viele Betroffene fühlen sich zudem sehr von den berechenbaren Dingen der Welt angezogen, sie verbringen oft einen Großteil ihrer Zeit damit, ihren Alltag in allen Einzelheiten zu planen. Unberechenbare oder unkontrollierbare Elemente wie andere Menschen lösen dagegen oft Angst aus. Die größten Schwierigkeiten im Leben erwachsener Menschen mit Asperger-Syndrom bestehen daher bei Freundschaften und Beziehungen aller Art, denn hierbei handelt es sich um extrem unstrukturierte und unberechenbare Situationen. Den meisten Betroffenen gelingt es nicht, in einer Beziehung zu leben, und während sie auf viele andere Fragen ihres Lebens im Laufe der Zeit Antworten finden, bleibt das Thema Freundschaft für sie ein großes Problem.

Auch ich wurde schon in der Schulzeit gemieden, da ich mich in vielen Dingen von meinen Mitschülern unterschied. Ich hatte keine Freude an den Aktivitäten, die ihnen Spaß machten und wusste nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Ihre Witze verstand ich nicht, sie waren laut und unberechenbar und brachten immer wieder meine Planungen durcheinander. Ich hatte Angst vor ihnen. Beruhigung konnte ich mir durch klare Regeln und feste Strukturen verschaffen. Dementsprechend zeigte ich auch großes Interesse an Flughäfen und den dazugehörigen Flugplänen, Plänen von Weihnachtsmärkten etc. Manches davon interessiert mich auch heute noch sehr. Mit den Gesprächsthemen meiner Klassenkameraden konnte ich jedoch nie etwas anfangen, auch deswegen stand ich meist abseits [1].

Ein geregelter und strukturierter Tagesablauf ist für mich auch heute noch sehr wichtig. Ich werde oft ungehalten, wenn es sich anders ergibt, als ich es vorgesehen habe. Dann bekomme ich große Angst, weil ich keine Sicherheit mehr habe. Bei meiner Arbeit in der Klinik kommt mir der strukturierte Tagesablauf im Suchtbereich sehr entgegen. Während meiner Tätigkeit in einer allgemeinmedizinischen Praxis jedoch hatte ich große Probleme, mich auf die vielen Menschen mit ihren unterschiedlichen Anliegen, die in sehr schneller Folge zu mir kamen, einzustellen. Glücklicherweise habe ich nun einen Bereich gefunden, wo ich gute Arbeit leisten kann und mich wohlfühle.

Viele Menschen mit Asperger-Syndrom sind zudem motorisch ungeschickt und benötigen manchmal Hilfe und Anleitung bei scheinbar leichtesten Anforderungen des Alltags, während sie schwierige Aufgaben häufig nahezu mühelos erledigen können. Bereits nur geringe Reize können ihre sehr empfindlichen Sinnesorgane überlasten. So leide ich sehr unter Lärm, kann helles Licht nur schwer ertragen und vertrage nur weiche Stoffe auf meiner Haut.

Insgesamt erscheinen viele Betroffene auch im Erwachsenenalter für ihre Umgebung oft merkwürdig und geben den anderen doch einige Rätsel auf. In der Adoleszenz kommt es nicht selten zu depressiven Phasen, wenn die Betroffenen erkennen, dass sie niemals so sein werden wie ihre Alterskameraden, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengen. Es ist wichtig, sie in diesen oder anderen schwierigen Phasen zu begleiten und ihnen zu vermitteln, dass auch sie ihren Platz in dieser Welt haben, dass sie in Ordnung sind, wie sie sind, dass sie nicht nur Defizite haben, sondern auch über einige Ressourcen verfügen, dass es aber für sie auch Hilfsmöglichkeiten gibt, die sie darin unterstützen können, ihr Leben leichter zu bewältigen und ein erfülltes, zufriedenes Dasein zu führen. Sehr wichtig finden Menschen mit Asperger-Syndrom die Hilfestellung bei problematischen Situationen und das Besprechen von konkreten Schwierigkeiten, die sich im Alltag ergeben. Eine therapeutische Begleitung kann eine sehr große Unterstützung darstellen, zudem existiert eine Reihe von Selbsthilfegruppen im gesamten Bundesgebiet.

Insgesamt ist mein Leben, ebenso wie das vieler anderer Menschen mit Asperger-Syndrom, im Laufe der Zeit um einiges ruhiger geworden. Das heißt keineswegs, dass die Schwierigkeiten nicht mehr vorhanden wären, aber ich habe in einigen Fällen gelernt, damit zu leben, und ich habe vor allem gelernt, besser für mich zu sorgen und zu entscheiden, was für mich im Bereich des Möglichen liegt und was mich andererseits hoffnungslos überfordert. Ich habe aufgehört, gegen alles zu rebellieren, was mir nicht möglich ist. Kleinere Probleme werfen mich nicht mehr sofort aus der Bahn; ich versuche, sie mit Hilfe meiner Therapeutin anzugehen. Inzwischen halte ich Referate bei Fachveranstaltungen und schreibe Texte, um so über das Leben, die Wünsche und Bedürfnisse von autistischen Menschen zu berichten und dadurch das Asperger-Syndrom bekannter zu machen und zu einem besseren Verständnis für die betroffenen Menschen beizutragen.

Ich kann meinen Alltag im Großen und Ganzen so einrichten, dass ich, wenn die äußeren Faktoren günstig sind, mit geringer Unterstützung relativ gut und stabil leben kann. Manchmal habe ich das Gefühl, "ich beginne allmählich, meinen Platz in dieser Welt zu finden. Dann bin ich sehr glücklich. Wenn mir dann allerdings bewusst wird, was in meinem Leben fehlt, dass ich immer allein bin und niemanden habe, mit dem ich einen Teil meiner Freizeit und die schönen Momente teilen kann, dann überwiegt die Traurigkeit. Und ich glaube, so wird es wohl bleiben, zwischen diesen Gefühlszuständen werde ich mich wohl auch zukünftig bewegen. Es wird niemals wirklich leicht werden. Aber trotz aller Schwierigkeiten habe ich ein gutes Leben, und vielleicht gelingt es mir eines Tages, meinen eigenen Weg zu finden und ihn trotz aller Widerstände zu gehen" [2]. Das wünsche ich mir sehr.

Dr. Christine Preißmann, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, leidet selbst an Asperger-Autismus und arbeitet derzeit als Assistenzärztin im Suchtbereich einer psychiatrischen Klinik.

Christine Preißmann, Dieburg

Email: Ch.Preissmann@gmx.de

Literatur

  • 01 Preißmann C . ...und dass jeden Tag Weihnachten wär. Wünsche und Gedanken einer jungen Frau mit Asperger-Syndrom. Berlin: Weidler, 2005: 20. 
  • 02 Preißmann C . Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger-Syndrom. Konzepte für eine erfolgreiche Behandlung aus Betroffenen- und Therapeutensicht. Stuttgart: W. Kohlhammer. 2., vollst. überarbeitete und erweiterte Auflage, 2009: 157. 
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