Psychiatr Prax 2009; 36(2): 98-99
DOI: 10.1055/s-0029-1220834
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Delirium und Wahn

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Publication Date:
08 April 2009 (online)

 

Der Wahn ist von jeher ein zentrales Thema der Psychiatrie und damit auch ihrer Geschichtsschreibung. Burkhart Brückners 2007 erschienenes zweibändiges Werk "Delirium und Wahn, Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900" reiht sich in eine Anzahl von Arbeiten zu dieser Problematik ein. Es bietet aufgrund seiner vielschichtigen Blickrichtungen ein profundes Bild der Kulturgeschichte des Wahns.

Durch den Rückgriff auf mehr als 100 Selbstzeugnisse in Form von Autobiografien, Briefen, Tagebüchern u.a. gelingt es Brückner, geschichtliche (Krankheits-)Erfahrungen von Menschen verschiedener Epochen einzufangen. Ein solcher Ansatz ist nicht neu. In der Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist er jedoch lange Zeit vernachlässigt worden. Das Werk nimmt somit eine, in der deutschen Medizingeschichtsschreibung der letzten Jahre zunehmend diskutierte Perspektive ein, die weniger arzt- mehr patientenzentriert ist. Es gelingt Brückner, eine große und dennoch expressive Auswahl von subjektiven, bekannten und weniger bekannten, Selbstzeugnissen vorzulegen und diese innerhalb des jeweiligen historischen Kontexts zu interpretieren. Man begegnet Texten von Hildegard von Bingen, Sebastian Brant, Erasmus von Rotterdam, Jean Jacques Rousseau, Friedrich Nicolai, Marcus Herz, August Strindberg und vielen anderen mehr.

Der erste Band umfasst die Zeit von der Antike bis zur Aufklärung. Neben dem Stand der historischen Forschung und einer ausführlichen Methodenkritik, bespricht der Autor in den einzelnen, entweder epoche- oder länderspezifisch orientierten Kapiteln die wichtigsten ideengeschichtlichen Diskurse über den Wahn(sinn). Zur Untermauerung dienen die von Brückner ausgewählten und von ihm erläuterten Selbstzeugnisse. In den ersten drei Abschnitten erörtert er exemplarisch, dass die Medizin der Antike bis hin zur frühen Neuzeit keine eindeutigen kategorialen Definitionen der uns heute unter den Phänomenen Wahn bzw. Halluzination geläufigen Termini kannte. Erst im ausgehenden 16.Jahrhundert waren durch die Einbindung in die medizinische Melancholielehre erste Modifikationen erkennbar. Diese mündeten in den seit dem 17.Jahrhundert erstmals verwendeten und im Verlauf der Zeit zunehmend akzeptierten medizinischen Begriff des Deliriums als zentrale Kategorie wahnhaften Verhaltens. Auch wenn Brückner keine erschöpfende Darstellung der verschiedenen Theorien des Deliriums vorlegt - ein zugegebenermaßen schwieriges Unterfangen - gelingt es ihm, dem Leser einen aufschlussreichen Einblick in "delirantes" Verhalten, jeweils bezogen auf den historisch soziokulturellen Kontext, zu gewähren. Besonders die Kapitel 6-8, in denen britische, französische und deutschsprachige Selbstzeugnisse vom 17. bis zum frühen 19.Jahrhundert in Verbindung mit zeitgenössischen Theorien und der aktuellen Sekundärliteratur untersucht werden, bereichern den psychiatriehistorischen Diskurs hinsichtlich einer subjektorientierten erfahrungsgeschichtlichen Perspektive.

Der zweite Band umfasst das für die Herausbildung und Etablierung der Psychiatrie so wichtige 19.Jahrhundert, wobei Brückner spezifisch auf die deutschen Verhältnisse fokussiert. Nach den einleitenden methodischen Fragestellungen, gewährt er im zweiten Kapitel einen psychiatriehistorischen Überblick, in dem wichtige Etappen der institutionellen Entwicklung der Anstaltspsychiatrie, der Konstituierung eines psychiatrischen Lehrgebäudes durch die anthropologisch-motivierte Psychiatrie und deren Weiterentwicklung durch die zunehmend naturwissenschaftliche Ausrichtung schlaglichtartig beleuchtet werden. Wichtige Vertreter der deutschen Psychiatrie und Spezifika ihrer Werke werden vorgestellt (Heinroth, Ideler, Jacobi, von Feuchtersleben, Griesinger, Kraepelin u.a.). Im dritten und umfangreichsten Kapitel widmet sich Brückner wiederum seinem eigentlichen Anliegen, den Selbstzeugnissen. Auch wenn die zweifelsohne notwendige Beschreibung der Methodik der Textauswahl z.T. ein wenig ermüdend ist, gelingt es ihm letzten Endes immer wieder, den Leser in den Bann der ausgewählten Selbstzeugnisse zu ziehen. Dass es ihm gelingt, liegt an dem zweifelsohne erfolgreichen Versuch, ein differenziertes Bild narrativer Darstellungen gegeben zu haben, der unseren Blick auf psychiatrisches Krankheitserleben, historisch oder auch aktuell, erweitern kann.

Wer eine detaillierte und erschöpfende Darstellung der Geschichte des Wahns (des Deliriums) - die stattliche Zahl von beinahe 1000 Seiten des Gesamtwerks könnte es nahelegen - erwartet, ist möglicherweise enttäuscht. Als ein Beispiel sei genannt, dass die von Esquirol aufgestellten, aus den Elementen des Deliriums hervorgegangenen Hauptformen der Seelenstörungen nicht erwähnt werden. Man könnte weitere Beispiele anführen. Aber dies war auch nicht das Anliegen des Autors. Seine Intention war es, eine subjektorientierte Erfahrungsgeschichte im Verhältnis zur den psychiatrischen Auffassungen der jeweiligen Zeit zu schreiben, die sich sowohl aus philosophischen, gesellschaftstheoretischen, medizinischen, kultur- und sozialhistorischen Positionen speist. Dies ist ihm gelungen. Die Psychiatrie und ihre Geschichtsschreibung tun gut daran, die Einsicht in das Wachsen und die Entwicklung grundlegender wissenschaftlicher Ideen weniger einseitig, jenseits der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften, aufzuarbeiten. Auf dieser Ebene könnte sich Brückners "Delirium und Wahn" zu einem wichtigen Werk einer anderen Art psychiatrischer Geschichtsschreibung entwickeln. Es ist einem breiten, an der Geschichte des Wahns interessierten Publikum, Psychiatern, Psycho-logen, Medizinhistorikern, Historikern, Kultur- und Literaturwissenschaftlern u.a.m., sehr zu empfehlen.

Kathleen Haack, Rostock

Email: kathleen.haack@uni-rostock.de

Brückner B. Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. 2 Bände (insgesamt 944 S.), Guido Pressler Verlag, 2007, 220,- €

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