Dtsch Med Wochenschr 1909; 35(35): 1520-1523
DOI: 10.1055/s-0029-1201693
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Ueber das physiologische Osteoid bei Föten und Neugeborenen und dessen Bedeutung für die histologische Diagnose der sogenannten angeborenen Rachitis und der Osteochondritis syphilitica1)

E. Wieland - Dozent für Kinderheilkunde in Basel 1) Nach einem in der Versammlung der Vereinigung südwestdeutscher und niederrheinisch-westfälischer Kinderärzte am 18. April 1909 in Wiesbaden gehaltenen Vortrage. (Diskussion s. No. 20, S. 911.)
Further Information

Publication History

Publication Date:
01 August 2009 (online)

Zusammenfassung

Indem ich bezüglich aller Einzelheiten auf meine beiden ausführlichen Publikationen in Virchows Archiv (August-Heft) und im Jahrbuch für Kinderheilkunde verweise, begnüge ich mich hier mit folgender Resümierung der wichtigsten Punkte meiner Arbeit.

1. Unverkalkte jüngste Knochenanlagerungen, wie sie systematisch zuerst von Pommer im Skelett von Säuglingen, Kindern und erwachsenen Personen, örtlich und zeitlich verschieden, im allgemeinen aber in relativ beschränkter Ausdehnung nachgewiesen worden sind, finden sich konstant und in vermehrtem Maße in den Knochen Neugeborener; ferner in immer größerer Flächenausbreitung, je weiter wir in der fötalen Knochenentwicklung zurückgehen.

2. Im Gegensatz zur wechselnden Flächenausbreitung zeigen die Breitendurchmesser dieses physiologischen Osteoids dagegen ziemlich konstante Werte und gehen nicht leicht über 8—12 µ hinaus (Standardzahl des physiologischen Osteoids in den Rippenenden und Schädelknochen von Föten und Neugeborenen = 3—10 µ).

3. Erst eine erhebliche Ueberschreitung dieser Standardzahl vermöchte nach unseren heutigen Anschauungen die Diagnose auf „angeborene” Rachitis zu rechtfertigen. Eine solche aber haben wir, so wenig wie anderweitige histologische Rachitisstigmata, zu dieser Lebenszeit bisher nie nachweisen können, und damit erledigt sich die Frage der sogenannten angeborenen Rachitis vom histologischen Standpunkte aus nunmehr wohl von selbst.

4. In den Knochen hereditär-syphilitischer Früchte erfährt das physiologische Osteoid vielfach eine Abnahme, die gelegentlich bis zu dessen völligem Schwinden gehen und im Verein mit anderweitigen charakteristischen Zeichen der syphilitischen Ossifikationsstörung (gegebenenfalls vielleicht aber auch ohne solche) die Diagnose auf angeborene Syphilis erleichtern kann.

5. Bei der bisher allgemein üblichen Darstellung der physiologischen, endochondralen Osteogenese kommt das physiologische Osteoid in seiner Eigenschaft als selbständige, eine Zeitlang in unverkalktem Zustande verharrende jüngste Knochenbildung nirgends in gebührendem Maße zur Geltung. Es scheint dies mit der immer wieder bei derartigen Knochenuntersuchungen geübten künstlichen Entkalkungstechnik, welche in bezug auf die feineren Verhältnisse der physiologischen Kalkablagerung unwahre Bilder liefert, im Zusammenhang zu stehen. Es dürfte sich daher empfehlen, in Zukunft beim Studium der physiologischen Knochenbildung nicht ausschließlich im Sinne H. Müllers und v. Köllikers, d. h. ohne Rücksicht auf das zeitliche Einsetzen der physiologischen Kalkablagerung, vorzugehen, sondern auch ganz unentkalkte Präparate zu berücksichtigen, wobei das eben beschriebene Verhalten der jüngsten kalklosen Knochenanlagerungen am Rande des fertigen Knochens überall klar zur Anschauung gelangt.

    >