Bei der medizinischen Versorgung von Kindern gibt es in Österreich Versorgungslücken. Die bestehenden Kinderambulatorien sind mehr oder weniger planlos über das Land verstreut.
„Immer weniger Kinderärzte sind bereit, einen Kassenvertrag anzunehmen. Damit finden immer weniger Eltern eine kostenlose kinderärztliche Betreuung ihrer Kinder“, sagt Dr. Sonja Gobara, MSc, Ärztliche Leiterin des Kinderambulatoriums Sonnenschein und Obfrau der Plattform Politische Kindermedizin. Nicht weniger als ein Viertel der kinderärztlichen Vertragsstellen in ganz Österreich ist unbesetzt.
Große Wiener Bezirke wie Brigittenau oder Penzing – beide mit jeweils fast 100.000 Einwohnern in der Dimension größerer Städte – haben gerade noch einen Kassenkinderarzt, Städte wie Purkersdorf oder Bad Ischl keinen einzigen. Doch der Mangel an Pädiatern mit Kassenvertrag ist nicht die einzige Versorgungslücke im Bereich der Kindermedizin, wie kürzlich die Arbeiterkammer (AK) bei einer Pressekonferenz warnte.
Ideales Behandlungssetting
„Die Behandlungsnotwendigkeiten bei Kindern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert“, sagt Gobara. Für neue Krankheitsbilder wie Entwicklungsstörungen, psychische und Lebensstilerkrankungen sind multiprofessionelle Teams in sozialpädiatrischen Ambulatorien oft das ideale Behandlungssetting. Dort werden neben kinderärztlicher Diagnose und Behandlung auch die wesentlichen funktionellen Therapien ( Anm.: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie ) sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie unter einem Dach geboten.
„Diese Ambulatorien bieten zwar qualitativ exzellente Versorgung, sind aber ohne Planung und Steuerung über das Bundesgebiet verstreut und haben bei Weitem nicht die erforderlichen Kapazitäten“, erklärt Gobara. Die Folge sind Aufnahmesperren oder Wartezeiten von einem Jahr und mehr. Multidisziplinarität ließe sich in Form von Primärversorgungszentren auch im niedergelassenen Bereich herstellen, erläutert die Kinderärztin. Allerdings scheitert das daran, dass Kinderärzte von der Gründung von Primärversorgungszentren ausgeschlossen sind.
Enorme Versorgungslücken gibt es auch bei den funktionellen Therapien und der Psychotherapie im niedergelassenen Bereich, wohin viele Eltern zwangsläufig ausweichen. Zwar gibt es seit Kurzem Gesamtverträge zwischen der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) und den Berufsgruppen der Physiotherapeuten, der Ergotherapeuten und der Logopäden – doch nur „solange der Vorrat reicht“. Finden Eltern keine Kassentherapeuten, so müssen sie sich an „Wahltherapeuten“ wenden, für deren Leistung sie – analog zu einem Wahlarztbesuch – lediglich 80 Prozent des Kassentarifes erstattet bekommen. „Für Kinder aus sozial benachteiligten Familien ist das eine unüberwindliche Hürde“, kritisiert Christoph Klein, Direktor der Wiener Arbeiterkammer. In der Psychotherapie gibt es gar keinen Gesamtvertrag. Stattdessen hat die ÖGK Verträge mit regionalen psychotherapeutischen Versorgungsvereinen abgeschlossen, die den Patienten voll finanzierte Stundenkontingente zur Verfügung stellen. Wenn das Kontingent des jeweiligen Therapeutenpools erschöpft ist, gibt es 28 Euro Kostenzuschuss pro Stunde für die freie Honorarvereinbarung beim privaten Psychotherapeuten. „Hier geht es nicht nur um menschliche Tragödien, also dass Kindern Entwicklungsmöglichkeiten verbaut werden, sondern auch um volkswirtschaftliche Dummheit“, sagt Klein. „Kosten, die sich die Träger jetzt sparen, treffen in den Jahren und Jahrzehnten danach um ein Vielfaches vermehrt die gesamte Gesellschaft. Chronifizierte Krankheiten sind langfristig viel teurer für das Gesundheitssystem als frühe, zielgerichtete Interventionen.“
Antworten, wie die Versorgungslücken geschlossen werden sollen, erhoffen sich Gobara und Klein vom Nationalen Aktionsplan (NAP) zur Umsetzung der Europäischen Kindergarantie. Im Juni 2021 hatte der EU-Rat die „Europäische Garantie für Kinder“ beschlossen, die insbesondere auch den effektiven und kostenlosen Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung sichern soll. Der NAP hätte bereits mit Stichtag 14. März vorgelegt werden sollen.