Open Access 31.10.2018 | Originalien
Postprandiale Hypoglykämie nach Magenbypass
Erschienen in: Journal für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel | Ausgabe 4/2018
Zusammenfassung
Bariatrische Operationen haben sich in der Behandlung der Adipositas als Therapieoption bewährt. Zu den postoperativen Risiken gehört neben dem Dumpingsyndrom auch die postprandiale Hypoglykämie. Sie entwickelt sich oft erst einige Monate bis Jahre nach der Operation und kann in Einzelfällen mit bedrohlichen Symptomen wie Bewusstseinsstörungen und Krampfanfällen einhergehen. Als eine wichtige Ursache gilt die inkretininduzierte inadäquate postprandiale Hyperinsulinämie. Auch erhöhte präoperative Konzentrationen von Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1) können mit einem erhöhten Risiko für die postprandiale Hypoglykämie verbunden sein.
Grundlage der Therapie ist eine intensive diätologische Betreuung mit Identifikation der auslösenden Mahlzeiten. Schnell resorbierbare Kohlehydrate sollten generell vermieden werden. Medikamente wie Acarbose können den postprandialen Glukoseanstieg reduzieren und damit den Stimulus für die Insulinsekretion minimieren.
Insgesamt ist die postprandiale Hypoglykämie noch nicht ausreichend erforscht; die Entwicklung standardisierter diagnostischer Tests ist dringend erforderlich.
Übergewicht ist ein weltweit zunehmendes Gesundheitsproblem. In westlichen Ländern sind 10–30 % der erwachsenen Personen übergewichtig [1]. Die progrediente Expansion der Adipositas in den letzten Jahrzehnten ist verantwortlich für erhöhte Prävalenz von Diabetes, kardiovaskulären Ereignissen [1], aber auch psychiatrischen Komorbiditäten in der Bevölkerung [2]. Neben einer Lebensstilmodifikation, die viel Disziplin erfordert und oft keine guten Langzeitergebnisse zeigt, hat sich die bariatrische Chirurgie, insbesondere der Roux-en-Y Gastric Bypass (RYGB) [3], als etablierte Therapieoption erwiesen. Bariatrische Operationen spielen somit eine zunehmend wichtigere Rolle in der Therapie der morbiden Adipositas. Die Gewichtsabnahme nach Magenbypassoperation wird einerseits durch die Restriktion des Nahrungsvolumens und Malabsorption, andererseits aber auch durch die Aktivierung der sättigungs- und appetitregulierenden intestinalen Peptide unterstützt [4]. Die Effekte der bariatrischen Operation auf die Gewichtsabnahme sowie auf die Verbesserung der adipositasassoziierten metabolischen Komplikationen sind klinisch bedeutend und inkludieren metabolische Effekte wie z. B. verbesserte Insulinsekretion oder sogar Diabetesremission [5] und positive Auswirkungen auf die Lebensqualität [6].
Allerdings ist die bariatrische Chirurgie, wie auch alle anderen invasiven Verfahren, mit einem gewissen sowohl peri- als auch postoperativen Risiko verbunden. Auch die Langzeitkomplikationen können in Einzelfällen schwerwiegend sein und reichen von erneuter Gewichtszunahme, Neuropathie, Hernien, Mängeln an wichtigen Mikronährstoffen bis zur noch nicht komplett erforschten postprandialen Hypoglykämie [4].
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Die postprandiale Hypoglykämie sollte im Rahmen der klinischen Evaluation von einem frühen Dumpingsyndrom unterschieden werden. Der Verlauf der Glukosekonzentrationen nach einer kohlenhydratreichen Mahlzeit nach Magenbypass ist charakterisiert durch normale Nüchtern-Plasmaglukosespiegel, einen starken und schnellen postprandialen Anstieg von Glukose, Insulin und C‑Peptid sowie einen daran anschließenden schnellen Abfall der Glukosekonzentration mit zum Teil deutlichen Hypoglykämien. Die Beschwerden entwickeln sich oft erst Monate bis einige Jahre postoperativ und treten meistens eine bis drei Stunden postprandial auf [4, 7]. Im Gegensatz dazu entwickelt sich ein frühes Dumpingsyndrom unmittelbar postoperativ, tritt meistens innerhalb der ersten Stunde nach Nahrungsaufnahme auf und wird von einer Reihe autonomer hypoglykämieähnlicher Symptome begleitet [7].
Die postprandialen Hypoglykämien können in Einzelfällen schwer verlaufen und mit bedrohlichen Symptomen wie Bewusstseinsstörungen und Krampfanfällen einhergehen. In diesen Fällen ist mit einer relevanten Gefährdung unserer PatientInnen zu rechnen [4]. Aus der Behandlung von PatientInnen mit Diabetes mellitus ist bekannt, dass die sympathische Gegenregulation und damit die wichtigen Warnsymptome von Hypoglykämien bei häufigen Unterzuckerungen abnehmen können, was das Gefährdungspotenzial noch erhöht.
Im Gegensatz zur letztlich durch eine überschießende Insulinwirkung bedingten postprandialen Hypoglykämie stehen beim frühen Dumpingsyndrom andere Mechanismen im Vordergrund. Die durch den postoperativen Verlust der Reservoirfunktion schnelle Magenentleerung führt zu einer Distension des Dünndarms durch Übertritt von hyperosmolarem Speisebrei. Die nachfolgende Flüssigkeitsverschiebung aufgrund des osmotischen Gradienten kann zu Symptomen wie Hypotension mit Kollapsneigung und Sympathikusaktivierung führen [7].
Die bisher verwendeten diagnostischen Tests geben keine klare Aussage über die echte Prävalenz der postprandialen Hypoglykämie nach bariatrischen Eingriffen. So wurde vergleichsweise eine Prävalenz der postprandialen Hypoglykämie bei 72 % der bariatrisch operierten Patienten nach einem oralen Glukosetoleranztest (oGTT) und bei 29 % der bariatrisch operierten Patienten nach einem flüssigen Mixed-Meal-Test berichtet. Krankenhausaufnahmen aufgrund von schweren postprandialen Hypoglykämien sind jedoch nur bei 0,2 % der bariatrisch operierten PatientInnen nötig [8‐10].
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Ein oGTT mit Verabreichung von 75 g Glukoselösung in kurzer Zeit ist ein unphysiologischer Stimulus und kann eine Hypoglykämie bei Patienten mit der Anamnese eines chirurgischen Eingriffs im Bereich des oberen Gastrointestinaltrakts induzieren. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass bei ca. 10 % der gesunden Individuen Blutzuckerwerte von <55 mg/dl ohne Hypoglykämie-Symptomatik nach einem oGTT auftreten können. Aus den genannten Gründen ist der oGTT als diagnostischer Test bei Verdacht auf postbariatrische Hypoglykämie nicht geeignet. Der in der Literatur beschriebene flüssige Mixed-Meal-Test könnte einen höheren diagnostischen Wert haben, da nicht nur Glukose, sondern auch Proteine und Lipide zugeführt werden. Allerdings ist auch eine flüssige Mahlzeit kein gutes Modell für die alltägliche Nahrungsaufnahme. In den bisher durchgeführten, sowohl flüssigen als auch festen Mahlzeitentests variiert die Kohlenhydratmenge zwischen 40 und 75 g pro Mahlzeit, und es gibt bisher keinen standardisierten und akzeptierten Mahlzeiten-Test, der diagnostisch, aber auch therapeutisch im klinischem Alltag zum Einsatz kommt [7, 8].
Hypoglykämien nach bariatrischen Operationen sind multifaktoriell bedingt und noch nicht komplett erforscht. Eine wichtige Ursache ist sicher die inkretininduzierte inadäquate postprandiale Hyperinsulinämie [11].
Inkretine wie GLP-1 (Glucagon-like Peptide) und GIP (Gastric inhibitory Peptide) sind gastrointestinale Peptide, die zu einer stimulierten postprandialen Insulinsekretion aus den Beta-Zellen beitragen. Bis zu 10-fach höhere postprandiale Konzentrationen von GIP und GLP-1 wurden bei bariatrisch operierten Patienten gemessen [4]. Stark erhöhte postprandiale Insulinspiegel, die verantwortlich für die postprandialen Hypoglykämien bei bariatrisch operierten Patienten sind, scheinen aus dieser stark erhöhten Inkretinausschüttung zu resultieren und werden nach intravenöser Glukosegabe nicht beobachtet [12]. Außerdem zeigte die Antagonisierung des GLP-1 durch eine kontinuierliche Infusion von Exenidin 9-39 einen höheren Effekt auf die Reduktion des postprandialen Insulinanstiegs bei RYGB-Operierten im Vergleich zu Nichtoperierten [13]. Neben der geänderten gastrointestinalen Anatomie könnten auch erhöhte zirkulierende Gallensäuren eine Rolle spielen. In seltenen Fällen könnte eine Inselzellhyperplasie (Nesidioblastose) auftreten [4]. Diese konnte in histologischen Pankreasuntersuchungen von pankreatektomierten bariatrischen Patienten mit neuroglykopener Symptomatik nachgewiesen werden. Im Gegensatz dazu konnte in anderen histologischen Untersuchungen keine Beta-Zell-Hyperplasie, aber ein vergrößerter Zellkerndurchmesser der Beta-Zellen gezeigt werden. Dieses könnte ein Zeichen der Hyperfunktionalität sein und könnte erklären, warum es zu keiner kompletten Remission der Hypoglykämien nach partieller Pankreasresektion kommt [4].
Die Diskrepanz zwischen postprandialem Insulinanstieg und zeitlichem Auftreten von Hypoglykämien könnte ein Hinweis dafür sein, dass dieses Phänomen multifaktoriell ist.
Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1), ein insulinähnliches, in der Leber produziertes Hormon, scheint ein guter Prädiktor für das postoperative Auftreten von postprandialen Hypoglykämien zu sein. IGF-1 stimuliert die Glukoseaufnahme in die Skelettmuskulatur und in das Fettgewebe. Eine Studie konnte zeigen, dass Patienten mit höheren präoperativen IGF-1-Werten ein erhöhtes Risiko für postoperative postprandiale Hypoglykämien haben. Erhöhte präoperative IGF-1-Konzentrationen korrelierten negativ mit postoperativen Plasmaglukosewerten 2 h nach oraler Glukosegabe [11].
Postprandiale Hypoglykämie ist ein noch nicht ausreichend erforschtes Phänomen, und weitere pathophysiologische Studien sind erforderlich, um die therapeutischen Strategien zu verbessern. Auch die Entwicklung von standardisierten diagnostischen Tests ist dringend notwendig.
Grundlage der Behandlung ist eine intensive diätologische Betreuung mit Identifikation der auslösenden Mahlzeiten z. B. mithilfe eines Diät- und Symptomtagebuchs. Generell werden das Meiden von rasch resorbierbaren Kohlenhydraten und die Aufteilung auf mehrere kleinere Mahlzeiten empfohlen. Durch die Verlangsamung der Kohlenhydratabsorption können Medikamente wie z. B. Acarbose den postprandialen Glukoseanstieg reduzieren und somit den Stimulus für die Insulinsekretion minimieren. Neben Acarbose können schwere postprandiale Hypoglykämien auch mit Octreotid oder Diazoxid behandelt werden [4]. Allerdings sind diese Therapien nicht bei allen Patienten ausreichend.
S. Smajis und M. Krebs geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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