Die anonyme Plattform feiert ihr 15-jähriges Bestehen. Die meisten der mehr als 1.300 Meldungen über die Dinge, die falsch laufen im Gesundheitswesen, stammen aus Krankenhäusern und Pflegeheimen.
Ende Juni 2024. Das Thermometer klettert schon am Vormittag über 30 Grad C. Im Inneren des Rettungsfahrzeug fühlt es sich an wie mehr als 40 Grad, die Luft steht, es ist stickig, weil die Fahrzeugfenster geschlossen sind. Die 84-jährige Frau mit den Lymphödemen im ganzen Körper sitzt allein und im Rollstuhl im rückwärtigen Teil des brennheißen Wagens und wartet auf den Rücktransport in ihre Wohnung. Sie wartet nun schon ca. 15 Minuten auf die Rückkehr der beiden Sanitäter, die eine zweite Patientin aus einem anderen Spitalsabteilung abholen. Der Durst wird immer größer. Ihr wird langsam schwindelig.
Dem Grunde nach wäre so ein Vorfall (aus dem Umfeld des Autors, Anm.) etwas, das Patienten einmelden könnten in das Berichtssystem CIRSmedical. Denn: „Uns interessiert, was ist passiert, was war das Ereignis. Uns interessiert nicht, wer hat das gemacht, sondern wir wollen den Fall analysieren.“ Das sagt Artur Wechselberger, der frühere Präsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK). Wechselberger sitzt neben seinem Nach-Nachfolger Johannes Steinhart und zieht Bilanz über die vergangenen 15 Jahre.
2009 hatte er, damals in seiner Funktion als Referent für Qualitätsfragen in der Kammer, das Fehler-Lern- und -Meldesystem eingerichtet. Vorbilder waren die deutsche Plattform „Jeder Fehler zählt“ und der US-Report „To err is human“ erschienen (Anm.: National Academies Press; 2000) , der gezeigt habe, wie viele Fehler im Gesundheitssystem passieren und dass die Opferzahl die Zahl der Verkehrstoten übersteige. (Zitat aus einer Episode des Springer-Podcasts Hörgang, August 2021: https://tinyurl.com/bdhf9v3n).
Der Schwerpunkt der Meldungen, die seit der Gründung eingegangen sind, beziehen sich auf Verwechslungen bei der Medikation, sagt Wechselberger. heute. „Das beginnt meist damit, dass die Dosierung nicht passt, dass Medikamente zu kurz oder zu lang eingenommen werden. Und wenn man der Sache nachgeht, kommt man oft darauf, dass z. B. innerhalb der Einrichtung von einer Abteilung an die andere eine Information nicht weitergegeben wurde.“
Die meisten CIRS-Meldungen stammen aus Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Bisher sind 1.367 Berichte eingegangen, 956 wurden auf der Plattform veröffentlicht, 407 wurden aufgrund von unzureichendem Lerneffekt gelöscht. „Ich bin davon überzeugt, dass es der Österreichischen Ärztekammer mit dieser Online-Plattform gelungen ist, wesentlich dazu beizutragen, die Patientensicherheit zu erhöhen“, sagt Steinhart. „Es geht uns mit diesem Projekt zur Patientensicherheit nicht um Berichtsrekorde, sondern darum, dass sich möglichst alle Bereiche des Gesundheitswesens daran beteiligen“, erklärte Steinhart.
Damit aber überhaupt Fehler gemeldet und beurteilt werden, bleibt der Melder anonym. Wechselberger dazu: „Anonym deshalb, weil wir in einer Welt leben, wo Menschen Angst haben, auf etwas hinzuweisen. Nach wie vor ist diese Offenheit und Transparenz nicht gegeben. Wir wollen einen Kulturwandel schaffen, wir kehren nichts unter dem Teppich, sondern wir legen es jetzt auf den Tisch."
Ende gut, alles gut?
Die 84-Jährige kehrt wohlbehalten in Ihre Wohnung zurück. Sie ist erleichtert, als sie durch das kühle Stiegenhaus getragen wird. Ihre Tochter hält den Zivildienern, die ihre Mutter haben schmoren lassen, eine Gardinenpredigt. Die entschuldigen sich und geloben Besserung. Zwar war man an diesem Tag unterbesetzt (ein erfahrener Kollege war auch nicht dabei), das sei aber keine Begründung für das Zurücklassen der alten Frau in einem überhitzten Wagen. Eine Meldung unterbleibt. Die Entschuldigung ist glaubwürdig. Doch es fehlt auch das Wissen, dass Patienten ebenfalls einen Missstand melden können.
Wie kann sich CIRSmedical weiterentwickeln? Es gebe Pläne, Bildmaterial, das die gemeldeten Fehler- und Beinahe-Fehler-Situationen besser veranschauliche, hochzuladen. „Auf jeden Fall muss es unser Bestreben sein, das in den 15 Jahren des Bestehens generierte Wissen, das in CIRSmedical.at steckt, in noch größerem Ausmaß den Beschäftigten im Gesundheitswesen zurückzuspielen“, sagt Wechselberger.