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12.08.2024 | Pathologie

„Ein schrecklicher Todeskampf mit blutigem Erbrechen“

verfasst von: Susanne Krejsa MacManus

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Am 2. Jänner 1890, fünf Tage nach einem Mittagessen mit seinem Schwager, dem Lepra-Forscher Vicente Urbino de Freitas, starb José António Sampaio Junior völlig unerwartet an einer Hirnstauung. Nicht lange zuvor hatte seine Schwester Maria den berühmten Professor für Physiologie geheiratet. Der bald zum Hauptverdächtigen avancierte, weil sein Alibi Lücken aufwies. Es hieß: Mord oder Fleischvergiftung? Der Fall prägte die Entwicklung der modernen Toxikologie in Portugal wie kein zweiter.

Als es José António schlecht ging, war Schwager Vicente zu Hilfe gerufen worden und hatte ihm eine Pilocarpin-Injektion verabreicht, woraufhin der Kranke ins Delirium gefallen war. Bei der geplanten zweiten Injektion brach die Nadel ab. Weil er die Verantwortung für die Behandlung nicht alleine tragen wollte, holte der Professor den Hausarzt seines Schwagers dazu, der auf Selbstmordversuch oder Vergiftung tippte. Schließlich wurde noch ein weiterer Kollege zugezogen, um den Schwerkranken zu retten, aber es war zu spät. Der Tote wurde eilends begraben, bevor die amtliche Totenbeschau durchgeführt werden konnte.

Einige Wochen danach brachte der Briefträger seiner Tochter Berta Fernanda ein Päckchen mit bunten Mandeln und Schokoladekuchen. Da sie nach dem Tod ihres Vaters Vollwaise war, lebte sie mit ihrer Cousine Maria Augusta und ihrem 12-jährigen Cousin Mário Guilherme bei den reichen Großeltern. Oma war anfangs misstrauisch, da ihr der Name des Geschenksenders „Lucio Martins“ unbekannt war, gab aber schließlich nach. Kurz nach dem Essen fühlten sich die Kinder schlecht, klagten über starke Müdigkeit, Übelkeit, Muskelschwäche, kalten Schweiß, Taubheit, Schwindelgefühl und starke Schmerzen. Wieder wurde Onkel Vicente herbeigerufen und verschrieb ihnen Einläufe mit Zitronenmelisse zur Darmreinigung. Nach ein paar Stunden wachte sein Neffe schreiend auf und rief: „Mama, der Einlauf hat mich umgebracht, aber ich will nicht sterben! Mama, ich kann Dich nicht sehen! Es geht mir sehr schlecht! Ich fühle mich vom Haus umzingelt, aber ich kann nichts sehen.“ Ähnliche Beschwerden hatten auch die beiden Mädchen. Der Onkel tippte auf Vergiftung und empfahl die Beiziehung weiterer Ärzte.

Bald lag Mário bewusstlos und mit fest zusammengebissenen Zähnen in seinem Bett. Wenige Stunden darauf war er tot – drei Monate nach seinem Vater. Die beigezogenen Ärzte tippten auf Vergiftung durch Opium und Belladonna und empfahlen, den Generalkommissar der Polizei zu verständigen. Als er kam, flüsterte Vicente seiner Schwiegermutter ins Ohr, sie solle nichts von seinen Behandlungen verraten, denn der Polizeikommissar sei ein Franzose und daher ein Schurke.

Zwei Tage später fand in Anwesenheit eines Richters die Öffnung von Mários Leiche statt. Das Protokoll spricht unter anderem von blutigem Schaum aus Nase und Mund, zähflüssiger gelblich-grünlicher Flüssigkeit auf der Magenschleimhaut und großen Mengen von koaguliertem schwarzem Blut in den Nebenhöhlen. Mangels geeignetem Instrumentarium konnten nicht alle nötigen Untersuchungen durchgeführt werden. Teile der inneren Organe wurden entnommen und in Ethanol eingelegt. Bei einer zweiten Autopsie kurz danach wurden weitere Proben entnommen, diesmal aber nicht in Ethanol eingelegt. In seinen Eingeweiden identifizierten die Experten zwei giftige Pflanzenalkaloide: Morphin und Delphinin. Morphin lag in hoher Konzentration vor, „genug, um ein Kind zu töten“. Narcein, ein stark psychotroper Bestandteil des Opiums, wurde ebenfalls in Mários Eingeweiden und Urin nachgewiesen. Die Sachverständigen kamen zu dem Schluss, dass der Tod durch Vergiftung mit Morphin, Narcein sowie dem Rittersporn-Gift Delphinin verursacht worden war. In den übrig gebliebenen Mandeln konnten keine giftigen Substanzen nachgewiesen werden.

Nun wurde auch das Grab des kürzlich verstorbenen Vaters von Mário – dem Schwager von Vicente – geöffnet. Seit seinem Begräbnis hatten Gesicht, Hals und Hände eine violette Farbe angenommen und waren angeschwollen. Die fast verflüssigten Reste der Gehirnsubstanz, des Magens, der Eingeweide, der Lunge und des Herzens wurden gesammelt, um sie im städtischen Chemielabor von Porto zu analysieren. Vier international renommierte Experten wurden mit den toxikologischen Analysen betraut. Doch wegen des fortgeschrittenen Fäulnisprozesses ließen sich weder Indizien für einen gewaltsamen Tod feststellen noch eindeutige toxikologische Ergebnisse gewinnen.

Zwei familiäre Todesfälle innerhalb so kurzer Zeit gaben Anlass zu Spekulationen: Wer könnte Nutzen davon haben? Der Verdacht fiel auf Vicente Urbino de Freitas (1849 -1913), zwar selbst sehr wohlhabend, der aber am meisten profitieren würde. Im April 1890 wurde er wegen des Verdachts verhaftet, den Neffen seiner Frau vergiftet zu haben, um sich einen Konkurrenten für das Erbe seiner Frau von 4 Millionen Peseten vom Hals zu schaffen. Dazu passte auch sein großes Wissen von Pflanzen-Alkaloiden. Er leugnete jede Schuld an den Todesfällen, nach Beweisen wurde gesucht.

Das Gericht braucht Beweise

Viele angesehene Wissenschaftler aus Portugal und Deutschland bemühten sich um Aufklärung, kamen aber zu unterschiedlichen Ergebnissen. Alle Überlegungen, Schlussfolgerungen und Ergebnisse der Untersuchungen wurden laufend publiziert und stießen in der wissenschaftlichen Community auf großes Interesse, sowohl auf heftige Zustimmung als auch heftige Ablehnung, ein ‚Krieg‘ zwischen den Universitäten von Coimbra (der früheren Hauptstadt Portugals) und Porto entbrannte. Zweifelsfreie Nachweisergebnisse fehlten eben noch.

Allen Kritikern zum Trotz überzeugte schließlich der Toxikologe António Joaquim Ferreira da Silva (1853-1923), Professor für Chemie am Polytechnikum von Porto und Direktor des Städtischen Laboratoriums Porto. In dreijähriger Arbeit hatte er neue Methoden und Gerätschaften entwickelt, mit denen er viel kleinere Substanz-Mengen nachweisen konnte. Damit gelang es ihm, die Nachweisgrenze für Kokain-Hydrochlorid auf 50 Mikrogramm zu senken. (Mittels Gaschromatografie liegt die Nachweisgrenze im Blut heute bei 20 μg/l.) Weiters verbesserte da Silva die bestehenden Farbnachweise für Morphin und Codein und erweiterte sie generell auf Alkaloide. Seine Ergebnisse präsentierte er vor der Pariser Akademie der Wissenschaften und erhielt dafür sowohl von Kollegen als auch vom Gerichtshof in Porto große Zustimmung.

Vicente Urbino de Freitas‘ Alibi für den Tod des Neffen war löchrig. Zwar war er nachweislich in Lissabon gewesen und hatte eine Packung Ostermandeln gekauft, aber zum Zeitpunkt der Absendung des Paketes an die Kinder bereits wieder zurück in Porto gewesen. Inzwischen wurden auch weitere ungeklärte Todesfälle in Zusammenhang mit Professor de Freitas gebracht, Namen wurden genannt. Giftmord(versuche) scheinen in seiner Familie Tradition gehabt zu haben: Die Großmutter wollte ihren Mann mit vergiftetem Essen umbringen, und sein Vater war von einem seiner Söhne mit Suppe vergiftet worden, als Vicente erst neun Jahre alt war.

Das Gerichtsverfahren begann am 30. November 1890, der Zuhörersaal war gesteckt voll: Der Angeklagte bestritt, die Taten begangen zu haben. Es wurde das Gerücht in Umlauf gebracht, dass der Staatsanwalt Miguel Pestana da Silva Urheber der Verdächtigungen gewesen wäre, da er Prof. de Freitas‘ Frau heiraten wollte. Eine andere Erklärung für die Unschuld von Prof. de Freitas wurde im April 1891 in einem medizinischen Journal publiziert: Danach hätten die Ergebnisse der chemischen Analysen ergeben, dass es sich um typische Reaktionen einer Fleischvergiftung gehandelt hätte, denn Morphin, Delphinin und Narcein wären selbst nicht toxisch.

Das Gerichtsverfahren zog sich „mit der im Lande selbst sprichwörtlichen, echt portugiesischen Langsamkeit“ dahin. Die allgemeine Aufmerksamkeit war groß, jede und jeder hatte eine Meinung dazu.

Täglich berichteten Medien in aller Welt über den Fortgang der Untersuchungen, verbreiteten korrekte Details oder Gerüchte. Dadurch wurde im fernen Brasilien der Kaufmann Manuel Bento aufmerksam. Er hatte Professor de Freitas im Zug kennengelernt. De Freitas trug Sonnenbrillen, hatte sich den Hut tief über die Stirn gezogen und den Mantelkragen aufgestellt. Er bat den Sitznachbarn, für ihn das Päckchen in Lissabon zur Post zu bringen und gab ihm dafür Geld. Manuel Bento zögerte, sich bei der Polizei zu melden, um nicht mit einem Giftmord in Zusammenhang gebracht zu werden. Sein Bruder, dem er sich anvertraut hatte, gab schließlich den Hinweis weiter und Manuel Bento schilderte dem Gericht sein Erlebnis.

Nach der Befragung von rund 100 Zeugen und den Aussagen der vielen vom Gericht oder von der Verteidigung beauftragten Wissenschaftler wurde Vicente Urbino de Freitas am 1. Dezember 1893 trotz seines Leugnens des Giftmordes schuldig befunden. Er wurde zu einer 20-jährigen Gefängnisstrafe mit nachfolgender Verbannung nach Angola verurteilt. Nach Einsprüchen durch die Verteidigung wurde das Urteil neuerlich geprüft und sogar erhöht. Seine Frau hielt weiterhin zu ihm, sein Bruder schrieb eine Belohnung für denjenigen aus, der seine Unschuld beweisen könnte. Auch andere Verwandte glaubten an ihn und wollten ihm helfen, nach Spanien zu fliehen.

Die Universität von Coimbra kritisierte die Untersuchungsergebnisse weiterhin: Entgegen der Aussage der Experten (aus Porto) wären keine Alkaloide nachweisbar gewesen. Weiters wären unsaubere Reagenzien verwendet worden. Die Urintests wären offenkundig verwechselt worden und die Fäulnis der Gewebsproben hätten die Experten zu falschen Schlussfolgerungen geführt.

Unschuldig oder ein dummer Mörder?

Für den portugiesischen Forensiker Ricardo Jorge Dinis-Oliveira, Professor an der medizinischen Fakultät von Porto, brachte die jahrelange Arbeit von António Joaquim Ferreira da Silva (1853-1923) den großen Durchbruch für die portugiesische Toxikologie und Gerichtsmedizin. Da Silva wurde vielfach ausgezeichnet, mit weiteren wichtigen Aufgaben betraut und erhielt sogar eine eigene Briefmarke.

„Heute, fast 135 Jahre später, schauen wir etwas mitleidig auf die damaligen Streitigkeiten unter den Wissenschaftlern“, sagt der Wiener Toxikologe und Gerichtsgutachter Karl Dobianer, „denn mit unseren modernen chromatografischen Verfahren können wir unvorstellbar winzige Mengen nachweisen.“

Um die Dimensionen vorstellbar zu machen, verwendet er ein einprägsames Beispiel: „Wenn ich 1 Teelöffel einer Substanz in den Neusiedlersee gebe, ihn gut umrühre, und anschließend 1 Teelöffel Wasser entnehme, kann ich die Substanz darin immer noch nachweisen und identifizieren, denn die heutigen Chromatografen haben über die angeschlossenen Datenbanken Zugriff auf die Messwerte von mehr als 100.000 Substanzen.“

Ricardo Dinis verfolgte und publizierte über mehr als zehn Jahre jede nur erdenkliche Quelle, um die Frage nach der Täterschaft von Vicente Urbino de Freitas eindeutig zu klären. Denn dieser verhielt sich ungeschickt und naiv, was weder zu seiner Persönlichkeit und Intelligenz noch zu sorgfältig geplanten Morden passt.

Doch vielleicht hatte er sich darauf verlassen, dass die verwendeten Alkaloide – in denen er sich besser auskannte als viele andere – vor der intensiven Entwicklungsarbeit von António Joaquim Ferreira da Silva noch nicht eindeutig nachweisbar waren. „Das wäre heute nicht anders“, sagt Karl Dobianer und setzt fort: „Wer einen Giftmord begehen will und klug ist, greift auf solche Substanzen zurück, die tatsächlich schwer nachzuweisen sind.“

Einige winzige Gewebsproben aus den beiden Todesfällen wurden für weitere Untersuchungen aufbewahrt, sind aber so „kostbar“, dass letzte Untersuchungen aufgeschoben werden. Nach Dobianers Einschätzung sind die Chancen ohnehin sehr gering, nach fast 135 Jahren noch etwas nachweisen zu können, denn die meisten Substanzen werden kontinuierlich abgebaut.

Wie sich bei der Suche im Internet zeigt, beschäftigt der Fall Vicente Urbino de Freitas nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Autoren, Krimifreunde und Hobbydetektive.

Quellen und Weiterführendes:

Ricardo Jorge Dinis-Oliveira:
- Portugal’s first major forensic case and the genesis of forensic toxicology – 10 years of research to reconstruct the event (2018), http://www.ricardinis.pt/wp-content/uploads/2019/01/Portugal`s-first-major-forensic-case-and-the-genesis-of-forensic-toxicology-10-years-of-research-to-reconstruct-the-event.pdf
- Analysis of the testimonial evidence of Portugal s first major forensic case part II (2020), http://www.ricardinis.pt/wp-content/uploads/2021/06/9.1.134-Analysis-of-the-testimonial-evidence-of-Portugal-s-first-major-forensic-case-part-II.pdf
- Analysis of the autopsy, toxicological, and psychiatric reports of Portugal’s first major forensic case – part III (2021), http://www.ricardinis.pt/wp-content/uploads/2021/06/9.1.159-Analysis-of-the-autopsy-toxicological-and-psychiatric-reports-of-Portugals-first-major-forensic-case-part-III.pdf

José Manuel Martins Ferreira:
Urbino de Freitas Um médico ou um monstro? (2021)

Weitere Informationen:

http://www.ricardinis.pt/wp-content/uploads/2019/01/Portugal`s-first-major-forensic-case-and-the-genesis-of-forensic-toxicology-10-years-of-research-to-reconstruct-the-event.pdf
http://www.ricardinis.pt/wp-content/uploads/2021/06/9.1.134-Analysis-of-the-testimonial-evidence-of-Portugal-s-first-major-forensic-case-part-II.pdf
http://www.ricardinis.pt/wp-content/uploads/2021/06/9.1.159-Analysis-of-the-autopsy-toxicological-and-psychiatric-reports-of-Portugals-first-major-forensic-case-part-III.pdf
https://museuvirtual.trp.pt/es/procesos-emblematicos/vicente-urbino-de-freitas


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Metadaten
Titel
„Ein schrecklicher Todeskampf mit blutigem Erbrechen“
Publikationsdatum
12.08.2024

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