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Erschienen in: ProCare 3/2021

01.03.2021 | Aktuell Zur Zeit gratis

Pandemischer Desinfektionsmittel-Missbrauch

verfasst von: Peter Wallner

Erschienen in: ProCare | Ausgabe 3/2021

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Die Bekämpfung der COVID-19-Pandemie geht mit zahlreichen Kollateralschäden einher, die aber weiterhin eher wenig Aufmerksamkeit finden. Ein Beispiel stellt Desinfektionsmittel-Missbrauch dar, der sich in verschiedenen Formen äußert.
„Die derzeit herrschenden ungewöhnlichen Umstände begünstigen offensichtlich einen Wildwuchs von Desinfektionsangeboten, was nicht nur zur Verunsicherung bei den Betroffenen und Anwendern führt, sondern auch objektiv mit teils erheblichen Gefahren für die Gesundheit verbunden ist“, betont die Österreichische Gesellschaft für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin ÖGHMP. Die Experten weisen auf „eine Reihe von Kollateralschäden hin, die ... einerseits durch gut gemeinte Unbedarftheit, andererseits durch blauäugige bis skrupellose Geschäftemacherei drohen“. Von der ÖGHMP werden dabei u. a. angeführt: Atembeschwerden oder Intoxikation durch Versprühen von Chemikalien oder andere unsachgemäße Desinfektionsmittel-Anwendungen, nicht ausreichende Wirksamkeit von Desinfektionsmaßnahmen, Förderung der Entwicklung von Desinfektionsmittel-Resistenzen, Brand- und Explosionsgefahr bei unsachgemäßem Umgang mit alkoholischen Desinfektionsmitteln, Nichtbeachten des Arbeitnehmerschutzes und Schädigung der Umwelt, wenn etwa Desinfektionsmittel ins Abwasser gelangen und die Funktion von Kläranlagen beeinträchtigen.

Vor Chlor wird gewarnt

Auffällig ist auch die große Zahl an Desinfektionsmitteln auf Chlorbasis, die nun als Mittel für die Händedesinfektion beworben werden. Derzeit gibt es allerdings kein einziges chlorbasiertes Händedesinfektionsmittel am Markt, das laut Expertisenverzeichnis von ÖGHMP oder VAH (dt. Verbund für angewandte Hygiene) wirksam wäre. Vielmehr warnen Vertreter der beiden Organisationen ausdrücklich vor der Verwendung. So ist auf der Webseite des VAH zu lesen: „Aufgrund der Instabilität und möglicher Hautirritation durch jetzt im Handel befindliche chlorhaltige Produkte wird dringend von der Verwendung für die Händedesinfektion abgeraten.“
Nicht selten werden aber Produkte mit den Hinweisen „VAH-zertifiziert“, „ÖGHMP-zertifiziert“, „VAH-Liste“ oder „ÖGHMP-Liste“ für die Anwendung in Bereichen (Hände-, Raumdesinfektion) beworben, für die keine Zertifizierung vorliegt. Diese bezieht sich in diesen Fällen tatsächlich nur auf die Flächendesinfektion.

Luft ist nicht gleich Oberfläche

Raumdesinfektionsverfahren haben laut ÖGHMP bei der Verbreitung von SARS-CoV-2 praktisch keine Bedeutung. „Diese Anwendungsart von Desinfektionsmitteln behandelt Luft und Oberflächen gleich, ohne Rücksichtnahme auf die tatsächlich erreichte Durchmischung im Raum oder die Aufbringung auf Flächen, auf die Beschaffenheit einzelner Gegenstände oder Oberflächen ... oder auf deren tatsächliche Bedeutung für die Übertragung der in Frage kommenden Erreger“, erläutert die Hygiene-Gesellschaft. Zudem sei ungewiss, ob man auf diese Weise alle Luftkompartimente und Oberflächen, in/auf denen sich Erreger befinden, erreichen könne. Zu bedenken sei auch, dass die Applikation der Mittel ohne mechanische Unterstützung (Wischen) erfolgt. So werden Wirkstoffe in größeren Schmutzansammlungen absorbiert und inaktiviert, bevor sie die Erreger erreichen können. „Darüber hinaus werden Chemikalien in der Atemluft und auf Kontaktflächen angereichert, dadurch ist eine Schädigung durch Einatmen oder/und Kontakt möglich“, so die Stellungnahme der ÖGHMP. Der Nutzen für die Bekämpfung von SARS-CoV-2 sei gering oder fehle überhaupt, das Nutzen-Risiko-Verhältnis stimme nicht. Auch der Arbeitskreis Innenraumluft im Umweltministerium hält in einem Positionspapier fest, dass solche Verfahren „außer in speziellen, fachlich begleiteten Fällen nicht eingesetzt werden sollen“.
Dennoch wird Raumdesinfektion speziell mit Produkten auf Basis von Wasserstoffperoxid oder Natriumhypochlorit bzw. hypochloriger Säure stark beworben. Auf ein weiteres Problem im Zusammenhang mit der Vernebelung von hypochloriger Säure weist DI Marion Jaros von der Wiener Umweltanwaltschaft hin: „Da diese keine Einstufung bezüglich ihrer gefährlichen Eigenschaften besitzt, werden die Produkte und die Vernebelung oft als vollkommen harmlos dargestellt. Es wird behauptet, dass der Wirkstoff bedenkenlos eingeatmet werden kann, sodass der Aufenthalt in den behandelten Räumen ungefährlich sei. Die fehlenden Warnhinweise bei hypochloriger Säure sind aber auf Datenlücken zurückzuführen, das toxikologische Profil ähnelt dem von Natriumhypochlorit und es muss von einer Reizwirkung auf Haut, Augen und Atemwege ausgegangen werden.“
ÖGHMP und VAH betonen, dass sich in ihren Expertisenverzeichnissen für Desinfektionsmittel keine Produkte für die Raumdesinfektion befinden. „Eine Listung bzw. eine Expertise oder ein Zertifikat von ÖGHMP oder VAH bezieht sich daher immer nur auf das Flächendesinfektionsmittel, dessen Wirksamkeit durch gezieltes Aufbringen in flüssiger Form (definierte Menge und Konzentration) auf eine genormte, feste, nicht poröse Testfläche geprüft wurde, und nicht auf ein System, bei dem das Desinfektionsmittel in der Raumluft vernebelt oder versprüht wird“, stellt die österreichische Hygiene-Gesellschaft klar.
„Derzeit gibt es kein einziges chlorbasiertes Händedesinfektionsmittel am Markt, das laut Expertisenverzeichnis von ÖGHMP oder VAH wirksam wäre.“

Wasser und Seife als Mittel der Wahl

Die Pandemie hat auch dazu geführt, dass etliche Firmen nun wieder verstärkt die Anwendung von Desinfektionsmitteln im Haushalt bewerben. Die Experten des Robert Koch-Instituts halten dazu fest: „Eine routinemäßige Flächendesinfektion in häuslichen und öffentlichen Bereichen wird auch in der jetzigen COVID-Pandemie nicht empfohlen. Hier ist die angemessene Reinigung das Verfahren der Wahl.“
Wer im Haushalt und im Büro nur auf Wasser und Seife setzt, liegt prinzipiell richtig. Kommt es aufgrund zu häufigen Waschens oder bei Menschen sensiblen Hauttyps zu Irritationen (Waschekzem!), kann dort auch eine Desinfektion der Hände unter Anwendung von Produkten mit Pflegestoffen (z. B. Vitamin E oder Dexpanthenol) verwendet werden. Sprays zur Händedesinfektion sind laut ÖGHMP nicht empfehlenswert, Schaumpräparate und Handgele besitzen oft einen zu geringen Wirkstoffgehalt und sind daher nicht wirksam. Seife hingegen zerstört die Lipidhülle von SARS-CoV-2 und inaktiviert so das Virus, das Verwenden einer desinfizierenden Seife ist nicht notwendig.

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Metadaten
Titel
Pandemischer Desinfektionsmittel-Missbrauch
verfasst von
Peter Wallner
Publikationsdatum
01.03.2021
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
ProCare / Ausgabe 3/2021
Print ISSN: 0949-7323
Elektronische ISSN: 1613-7574
DOI
https://doi.org/10.1007/s00735-021-1314-9

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