Bessere Aufklärung, mehr Anerkennung durch Fachleute, Implementierung evidenzbasierter Praxis – das fordert Palliativmedizinerin und Onkologin Gudrun Kreye für die Palliativversorgung. Gemeinsam mit Cochrane Österreich hat sie gemeinsam mit Mitgliedern des Vorstandes der OPG eine Broschüre zur Über- und Fehlversorgung entwickelt.
Ärzte Woche: In welchen Situationen nutzen Sie die Broschüre von „Gemeinsam gut entscheiden“?
Gudrun Kreye : Zum Beispiel bei Gesprächen mit Patient:innen und Angehörigen über die palliative Sedierung. Diese Intervention ist mit vielen Ängsten verbunden und wird häufig sogar als Euthanasie aufgefasst. Die Broschüre entkräftet diesen Mythos. Auch die Information über die künstliche Ernährung verwende ich gerne. Es ist wenig bekannt, dass Ernährungssonden bei Demenzpatienten am Lebensende nicht unbedingt so segensreich sind wie erhofft. Ich finde es hilfreich, dass ich die wichtigsten Fakten zum späteren Nachlesen mitgeben kann.
Ärzte Woche: Was ist an dieser Broschüre besonders?
Gudrun Kreye : Dass alle Empfehlungen evidenzbasiert sind – wie Palliativversorgung eben sein sollte. Leicht verständliche Sprache, kurze Texte und berührende Zeichnungen schaffen bei Laien hoffentlich ein Bewusstsein dafür, dass unter ganz bestimmten Voraussetzungen gilt: „Weniger ist mehr“.
Ärzte Woche: Sie bezeichnen sich ja als „Expertin für Absetzologie“…
Gudrun Kreye : …genau ( lacht )! Ich möchte meinen Patient:innen und ihren Angehörigen vermitteln, in welchen Situationen das Reduzieren oder Weglassen von Interventionen sinnvoll ist. Es soll nicht als Vorenthalten, Wegnehmen, Vernachlässigen oder lebensverkürzende Maßnahme missverstanden werden. Sondern als Gewinn.
Ärzte Woche: Die Broschüre hat Laien als Zielgruppe. Gibt es zu den behandelten Themen auch bei medizinischen Expert:innen noch Aufklärungsbedarf?
Gudrun Kreye : Auf jeden Fall! Die Themen Über- und Fehlversorgung benötigen deutlich mehr Aufmerksamkeit unter Fachleuten. Palliativversorgung wird nicht immer so implementiert, wie es Evidenzlage und Leitlinien verlangen würden – Stichwort Opioide. Diese können zwar zu Kontrolle von Schmerzen und Atemnot, aber bitte nicht zur palliativen Sedierung an sich eingesetzt werden! Eine palliative Sedierung sollte mit Sedativa wie zum Beispiel Midazolam oder Propofol durchgeführt werden. Es passiert aber weiterhin, dass die Sedierung mit Opioiden wie zum Beispiel Vendal durchgeführt wird. Opioide zur Sedierung sind nicht indiziert und haben viele Nebenwirkungen wie Myoklonien oder das Hyperalgesiesyndrom.
Zur Schmerztherapie sind Opioide selbstverständlich das Mittel der Wahl. Die Durchführung einer palliativen Sedierung gehört in die Hand von Spezialist:innen wie zum Beispiel eine Knochenmarkspunktion durch Hämatoonkologen oder eine Hüft-OP durch Orthopädinnen durchgeführt wird. Gerade zum Thema palliative Sedierung sensibilisiere ich meine Studierenden, auch durch die Broschüre, damit es mit der jungen Generation einen Wandel gibt. Im Gegensatz zu so manchem „Dinosaurier“, der meint: „Das haben wir schon immer so gemacht, das machen wir weiterhin so!“
Ärzte Woche: Wo ist, abgesehen von der palliativen Sedierungstherapie, ein Umdenken gefragt?
Gudrun Kreye : Zum Beispiel beim Thema Vorsorgedialog, oder, allgemeiner, bei der proaktiven Kommunikation über schwierige Themen wie das Lebensende. Das kann und soll man lernen wie eine Reanimation. In der Ausbildung ist das mittlerweile gut verankert durch Trainings und Rollenspiele. Aber auch erfahrene Mediziner:innen können sich – Kritikfähigkeit und Selbstreflexion vorausgesetzt – durchaus noch verbessern, etwa durch Refresher. Ich spreche hier aus Erfahrung, da ich selber solche Kommunikationsseminare als Teilnehmerin besucht habe und dabei immer sehr viel mitgenommen habe für meinen klinischen Alltag.
Ärzte Woche: Gibt es weiteren Aufholbedarf und Wissenslücken?
Gudrun Kreye : Für Nicht-Palliativmedizinerinnen hat die Palliativversorgung manchmal etwas Banales oder sogar Esoterisches, in der wir Sterbenden angeblich nur die Hände halten und Aromaöle versprühen. Weit verbreitet ist auch die falsche Annahme, dass die Palliativmedizin ausschließlich die Versorgung von Menschen in der letzten Lebensphase umfasst, wenn man „nichts mehr machen kann“ – allerdings begleiten wir viele Patient:innen monate- oder jahrelang während sie parallel ihre Standardtherapien bekommen.
Ich empfehle Kolleg:innen, etwa aus der Allgemeinmedizin, ihre Patient:innen zu uns zu überweisen, wenn sich bei einer unheilbaren lebensverkürzenden Erkrankung die Symptome mit den üblichen Therapien nicht mehr zufriedenstellend kontrollieren lassen. Die Expertise, die für eine gute palliative Versorgung nötig ist, wird mitunter stark unterschätzt. Ich wurde sogar schon gefragt, was denn in meiner Karriere schiefgelaufen ist, sodass ich jetzt „nur“ Palliativmedizinerin bin ( lacht )
Ärzte Woche: Die fehlende Anerkennung für die Palliativversorgung - liegt sie möglicherweise an der teils wenig zufriedenstellenden Studienlage?
Gudrun Kreye : Wir haben gute Leitlinien, es gibt sehr wohl Evidenz. Vielleicht müssen gerade wir als Palliativmediziner:innen noch deutlicher auf diese Leitlinien hinweisen und unser Handeln noch mehr mit soliden Studien untermauern. Wir brauchen dringend große randomisierte Studien, zum Beispiel zu Opioiden bei Herzinsuffizienz-Patient:innen mit Dyspnoe oder zur Flüssigkeitsgabe am Lebensende.
Ärzte Woche: Woran ist dies bisher gescheitert?
Gudrun Kreye : Es fehlt an unabhängiger Finanzierung, an wissenschaftlichem Personal für große randomisierte Studien. Es gibt auch Schwierigkeiten, ausreichend viele Teilnehmer:innen zu gewinnen, also stark vulnerable Personen in Studien einzuschließen. Wir müssen also für mehrere Faktoren Lösungen entwickeln. Gut, dass die Palliativmedizin eines der am stärksten wachsenden Fächer ist.