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Chronische Schmerzen betreffen Kinder und Jugendliche ebenso wie Erwachsene. Eine Ursache können Tumorerkrankungen sein. Es ist davon auszugehen, dass jedes zweite betroffene Kind mit einer bösartigen Erkrankung auch unter Schmerzen leidet. Warum ist das so und was müssen Pflegende beachten?
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Chronische Schmerzen sind ein weltweites und gesamtgesellschaftliches Problem. In den westlichen Industrienationen treten sie bei 20–30 % der Bevölkerung auf, von denen bis zu 40 % ein unzureichendes Schmerzmanagement erhalten. In Deutschland wird die Prävalenz von chronischen Schmerzen auf 17% in der Bevölkerung geschätzt.
In Abgrenzung zu akuten Schmerzen wird aus definitorischer Sicht größtenteils die Zeitkomponente als bestimmende Größe herangezogen. Im Rahmen der Erstellung des Klassifizierungssystems ICDXI wurde die Definition zum chronischen Schmerz durch die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes überarbeitet.
„Von chronischen Schmerzen spricht man, wenn dieser dauerhaft oder wiederkehrend für mindestens drei Monate vorhanden ist und die akute Warnfunktion der physiologischen Schmerzwahrnehmung fehlt. Wichtig ist, dass dies nicht im Sinne eines exakten Zeitpunktes verstanden wird, sondern der Übergang vom akuten zum chronischen Schmerz als fließend und am individuellen Schmerz- und Krankheitserleben ausgerichtet erkannt wird (...) (DNQP 2020, S. 23f).“
Hinsichtlich der chronischen Schmerzen gibt es im Rahmen der ICD-XI zudem eine Unterteilung. Berücksichtigt werden jetzt auch die chronisch tumorbedingten Schmerzen. Die Definition wird hier wie folgt erweitert: „Von chronischen tumorbedingten Schmerzen kann bereits vor Ablauf der drei Monate gesprochen werden, insbesondere bei Patienten, bei denen keine kurative Tumortherapie mehr stattfindet.“
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Ungenaue Datenlage
Chronische Schmerzen betreffen Kinder und Jugendliche ebenso wie Erwachsene. Bis zu 35 % der Kinder und Jugendlichen leiden weltweit an chronischen Schmerzen. Es ist aber schwierig, genaue Daten aufgrund unterschiedlicher Einflussfaktoren wie Schmerzintensität, -lokalisation, -Tumorart und individuelle Patientenmerkmale zu erheben. Eine Ursache für chronische Schmerzen bei Kindern können Tumorerkrankungen sein.
Weltweit erkranken jedes Jahr etwa 250.000 Kinder und Jugendliche an Krebs. Die drei häufigsten Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind Leukämien, Lymphome und Tumore des Zentralnervensystems. Im Rahmen einer Krebserkrankung und -behandlung treten — in Abhängigkeit vom Tumor — unterschiedlichste Symptome auf.
Nimmt man beispielsweise die Leukämie und deren Behandlung als Grundlage, sind Abgeschlagenheit und Infektanfälligkeit, aber auch Schmerzen mit einer Auftretenswahrscheinlichkeit bis zu 20 % entsprechende Leitsymptome. Man kann davon ausgehen, dass jedes zweite betroffene Kind mit einer bösartigen Erkrankung auch unter Schmerzen leidet.
Warum verursachen Krebserkrankungen Schmerzen?
Nicht jede Tumorerkrankung geht auch sofort mit Symptomen und insbesondere mit Schmerzen einher. Es kann somit sein, dass die bösartigen Erkrankungen entstehen und wachsen, ohne dass sie von den Betroffenen frühzeitig erkannt werden. Wenn nicht schon zu Beginn der Erkrankung, können Schmerzen dennoch im Verlauf auftreten. Hinsichtlich auslösender Faktoren von tumorbedingten Schmerzen kann laut internationaler Literatur eine Unterteilung in drei große Bereiche vorgenommen werden:
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_ Schmerzen durch die entsprechende Tumorerkrankung
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_ Schmerzen durch die Behandlung der Tumorerkrankung
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_ Schmerzen durch notwendige tumorbezogene Interventionen
WAS AUF SCHMERZEN HINWEIST
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_ Einschränkung in der Aktivitätsaufnahme und Durchführung
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_ Plötzlich fehlende Spielaktivität
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_ Ablehnende oder abwehrende Haltung bei Berührungen
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_ Ablehnende oder abwehrende Haltung gegenüber Personal, Eltern etc.
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_ Reduzierte oder fehlende Nahrungsaufnahme
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_ Veränderte Stimmung bis hin zu ausbleibender Kommunikation
Schmerzen durch Tumorerkrankung
Zunächst muss unterschieden werden in bösartige hämatologische Erkrankungen und solide Tumore. Bei soliden Tumoren entstehen Schmerzen am ehesten durch einen Tumorprogress, Infiltrationen und Kompressionen. Gleichwohl kann dies auch bei den hämatologischen, vor allem den Lymphomerkrankungen der auslösende Grund sein.
Je nach Tumorlokalisation, Wachstumsverhalten und Beeinträchtigung benachbarter Organe können die entstehenden Schmerzen in ihrer Intensität und Schmerzqualität von den betroffenen Kindern sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Häufig berichten die Kinder, welche von der Sprachentwicklung dazu in der Lage sind, von einem Druck oder einem Stechen, dem Gefühl „es ist irgendwie weniger Platz (in zum Beispiel meinem Bauch)“ — oder sie können den Schmerz gar nicht richtig beschreiben. Gleichwohl ist es für die betroffenen Kinder häufig schwierig, den genauen Ort des Schmerzes zu lokalisieren. Ebenso indifferent sind die auslösenden Faktoren, so können kleinste Bewegungen bzw. Positionsveränderungen ein starkes Schmerzgeschehen auslösen. Charakteristisch ist an dieser Stelle ein „von 0 auf 100“-Schmerz.
Wichtig für die betreuenden Personen ist vor allem ein kontinuierliches, altersgerechtes und nachhaltiges Schmerzassessment: Als erstes müssen die Kinder und ihr (Schmerz)-Verhalten kennengelernt werden. Die Verhaltensweisen in schmerzfreien Phasen in Bezug auf Alltagstätigkeiten, Spiel-, Kommunikation,- und Essverhalten sollten in Zusammenarbeit mit Eltern, Zu- und Angehörigen erfragt und im Rahmen der Anamnese dokumentiert werden. Je ausführlicher das Wissen zum „schmerzfreien“ Verhalten ist, desto besser ist eine Interpretation von verändertem Verhalten möglich.
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Dies scheint besonders hilfreich bei jüngeren, verbal und/oder kognitiv eingeschränkten oder Kindern mit Sprachbarriere zu sein. Schmerzarme bzw. schmerzreduzierende Positionen sollten ausprobiert werden; eine Schonhaltung der Kinder sollte wahrgenommen und hinterfragt werden, der zielgerichtete Einsatz von medikamentösen und nichtmedikamentösen Maßnahmen sowie deren kontinuierliche Evaluation ist unabdingbar, ebenso wie die Aufklärung und Beratung der Zu- und Angehörigen über den aktuellen „Zustand“ des betroffenen Kindes. Letztlich steht eine Sensibilisierung des gesamten betreuenden Teams für die höchste vulnerable und potenziell jederzeit instabile Schmerzsituation des Kindes im Vordergrund.
Schmerz durch Behandlung der Tumorerkrankung
Auch hier ist die Schmerzätiologie vielschichtig. Im Vordergrund stehen beispielsweise die Chemotherapie oder eventuelle operative Eingriffe. Im Zuge der Chemotherapie kann es zu strukturellen Veränderungen im und um das Tumorgewebe kommen, diese Veränderungen können die betroffenen Kinder zum Teil als schmerzhaften inneren Prozess wahrnehmen. Die Zytostatikatherapie, als häufige Behandlungsmethode bei Tumorerkrankungen, hat diverse unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs). Häufig erleiden die Kinder Veränderungen und Entzündungen der Schleimhäute. Diese entzündlichen Prozesse beispielsweise in der Mundschleimhaut verursachen starke Schmerzen beim Essen und Trinken, führen zum Vermeidungsverhalten des auslösenden Reizes (Schlucken) und können sich sogar in reduzierter oder ausbleibender Kommunikation manifestieren. Bei entzündlichen Prozessen im Bereich der Magenschleimhaut im Rahmen der Zytostatika induzierten Mukositis sind unspezifische Bauchschmerzen und Übelkeit denkbar. Die betroffenen Kinder nehmen häufig eine Schonhaltung ein, zeigen ein verstärktes „Halten“ oder Reiben des Bauches und lehnen häufig selbst die Lieblingsspeise ab.
Wichtig für die betreuenden Personen ist es, das Kind kontinuierlich und intensiv zu beobachten. Ebenso ist eine dauerhafte Unterstützung bei der Durchführung oder die Übernahme prophylaktischer Maßnahmen zur Reduktion zytostatikabedingter UAWs unabdingbar. Auch wenn die angesprochenen UAWs häufig nicht ganz verhindert werden können, so können die Pflegekräfte entscheidend dazu beitragen, die UAWs frühzeitig zu identifizieren und entsprechend medikamentöse und nichtmedikamentöse Anpassungen im Behandlungsplan vorzunehmen bzw. zu initiieren.
„Jede Veränderung im Behandlungsplan sollte umgehend mit den Eltern, Zu- bzw. Angehörigen und ab einem gewissen Alter mit den betroffenen Kindern kommuniziert werden.“
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Zielführend ist es zudem, die Information und Anleitung der Kinder selbst und die Durchführung prophylaktischer Maßnahmen spielerisch zu gestalten. Eltern, Zu- und Angehörige sollten ebenfalls aktiv in die Behandlung einbezogen werden, die Notwendigkeit in Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Durchführung der einzelnen Maßnahmen zudem transparent und vor allem zu Beginn der Therapie mehrfach erläutert werden.
Wichtig: Jede Veränderung im Behandlungsplan (z. B. Änderung in der medikamentösen Schmerztherapie) sollte zwingend umgehend mit den Eltern, Zu- bzw. Angehörigen und ab einem gewissen Alter mit den betroffenen Kindern kommuniziert werden. Eltern können Zweifel und Unsicherheit bezüglich der Therapie ihrer Kinder empfinden und im Zuge des fehlenden Wissens über Ziel und Notwendigkeit der Änderung Maßnahmen ablehnen bzw. in intensive Konfrontation mit dem Pflege- oder medizinischen Personal gehen.
PFLEGE EINFACH MACHEN
Auslösende Faktoren für tumorbedingte Schmerzen können die Tumorerkrankung selbst, die Behandlung der Tumorerkrankung oder notwendige tumorbezogene Interventionen sein.
Man kann davon ausgehen, dass jedes zweite betroffene Kind mit einer bösartigen Erkrankung auch unter Schmerzen leidet.
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Wichtig für betreuende Personen ist vor allem ein kontinuierliches, altersgerechtes und nachhaltiges Schmerzassessment.
Jede Veränderung im Behandlungsplan (z.B. Änderung in der medikamentösen Schmerztherapie) sollte zwingend umgehend mit Eltern, Zu- bzw. Angehörigen und ab einem gewissen Alter mit den betroffenen Kindern kommuniziert werden.
Tumorassoziierte Interventionen als Auslöser
Im Fokus stehen hier schmerzauslösende Eingriffe, welche sowohl eine diagnostische als auch therapeutische Zielstellung haben. Knochenmarkpunktionen sind für die explizite Diagnosestellung bei hämatologischen Erkrankungen zum Teil unabdingbar und werden im Zuge der Verlaufs- und Erfolgskontrolle der Therapie eingesetzt. Für die betroffenen hämatologisch erkrankten Kinder ist diese schmerzhafte Prozedur häufig eine der ersten Erfahrungen im Krankenhaus. Als weitere schmerzhafte Prozeduren können Lumbalpunktionen bzw. Liquorpunktionen notwendig sein. Diese ebenfalls schmerzhaften Eingriffe können beispielsweise im Kontext der Zytostatikatherapie notwendig werden. Weitere dolente Eingriffe können Aszitespunktionen, Anlage einer Magenablauf/-ernährungssonde sowie die Anlage von peripheren (eher bei Jugendlichen) und zentralvenösen Kathetern sein. Weitere schmerzhafte Interventionen wurden bereits beschrieben (HEILBERUFE 12/24, „Wenn es weh tut — Schmerzmanagement bei Kindern und Jugendlichen“, S. 12) und treffen ebenfalls für die Kinder mit Tumorerkrankungen zu.
Für alle Interventionen — unabhängig von Indikation und Zielstellung — gilt ausnahmslos eine frühzeitige und zielgerichtete Kommunikation mit dem betroffenen Kind, den Eltern und den An- und Zugehörigen. Uninformierte Kinder und Eltern, welche von Interventionen „überrascht“ werden, können diese ablehnen. Zudem ist es wahrscheinlich, dass uninformierte Kinder durch die überraschende Situation Stress, Angst und Unsicherheit empfinden und diese Angst das Schmerzerleben deutlich verstärkt. Alle an der Intervention beteiligten Personen sollten somit stets, auch bei sich wiederholenden und vermeintlich routinemäßigen Interventionen darauf sensibilisiert sein, dass neben dem Schmerz auch ein starkes Angstgefühl ausgelöst werden kann. Nicht zuletzt ist ein Vertrauensverlust des Kindes und der Eltern gegenüber dem therapeutischen Team denkbar. Es empfiehlt sich bei größeren Interventionen bereits einen Tag zuvor die Eltern aufzuklären, da diese dann schmerzmodulierend auf ihr Kind einwirken können. Für alle Interventionen gilt zudem die individuelle, zielgerichtete und vor allem zeitgerechte Durchführung einer schmerzmedikamentösen Prophylaxe sowie die entsprechende Nachsorge nach Beendigung der Intervention.
Welche Langzeitfolgen kann es geben?
Hinsichtlich der individuellen Auswirkungen von chronischen Schmerzen können vor allem in dieser Altersgruppe Veränderungen im täglichen Leben, des Schulbesuchs, der Teilnahme an Freizeitaktivitäten, bei Treffen mit Freunden und Sportaktivitäten verzeichnet werden. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 80 % der Kinder mit einer Tumordiagnose ihre Erkrankung überwinden. Auch wenn wir zum heutigen Zeitpunkt noch nicht viel über die Langzeitfolgen einer Tumorerkrankung im Kindesalter wissen, konnte im Rahmen verschiedener Studien gezeigt werden, dass Überlebende von Tumorerkrankungen im Kindesalter mit deutlich erhöhten Risiken hinsichtlich der eigenen Gesundheit im weiteren Verlauf ihres Lebens zu rechnen haben. Neben Veränderungen in der Stimmung und den Emotionen, psychischen Beeinträchtigungen, eingeschränkter Leistungsfähigkeit und letztendlich eingeschränkter Lebensqualität sind auch chronische Schmerzen bei bis zu 40 % der Kinder eine Folge, die bis ins Erwachsenenalter dauert. Obwohl bekannt ist, dass ein rechtzeitiges Erkennen einer chronischen Schmerzstörung wesentlich für die Prognose ist, muss derzeit aufgrund einer ungenügenden Erfassung und Dokumentation von Schmerzen von einem defizitären Schmerzmanagement bei Kindern und Jugendlichen ausgegangen werden.