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Erschienen in: Schmerz Nachrichten 2/2022

Open Access 03.06.2022 | Freies Thema

NSAR-induzierte Kolopathie: nicht selten, aber nur selten bedacht

verfasst von: Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner

Erschienen in: Schmerz Nachrichten | Ausgabe 2/2022

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Für die Behandlung von Schmerzen stehen heute zahlreiche wirksame Medikamente zur Verfügung, mit denen Schmerzfreiheit oder zumindest Schmerzlinderung erzielt werden kann. Alle Therapiestufen des WHO-Stufenschemas beinhalten nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), die als Basis der Therapie nozizeptiver Schmerzen gelten und als Add-on bei allen anderen Schmerzformen mitspielen. Ich will und werde nie auf NSAR als Therapieoption verzichten, Nachfolgendes soll meine Kolleg*innen aber informieren und ein wenig zum Nachdenken anregen.
Die Therapieform ist etabliert und die Nebenwirkungen werden als gering und unbedeutend dargestellt. Die Fernsehwerbung zeigt uns allabendlich, dass es Präparate mit verzögerter Wirkstofffreisetzung und Kombinationspräparate speziell für bestimmte Erkrankungen gibt. Bei Fragen könne man sich ja „an ihren behandelnden Arzt oder Apotheker wenden“. Diese Produktplatzierung zwischen Schokobonbons und Slipeinlagen nimmt schon einige Bedenken, die wir eigentlich vor unbekannten Dingen haben.
Da liege ich mit der Geschichte meines Großvaters, der 1951 einen schweren Verkehrsunfall mit multipelsten Frakturen der Beine, Becken, Rippen, Arme erlitt und unter extremen Schmerzen leiden musste, wohl nicht so ganz richtig, frage ich mich. Das einzige Präparat, das ihm seine Schmerzen erträglich machen konnte, war Phenacetin, dessen Abbauprodukte ja hauptsächlich Paracetamol und zu einem geringen Anteil auch Phenetidin sind, aus dem Anilin entsteht, ein starkes Blutgift, das Hämoglobin zu Methämoglobin oxidiert. Jedenfalls beim spanischen Ölsyndrom war Anilin in dem Rapsöl, mit dem Olivenöl gestreckt wurde, und es starben mehr als 300 Menschen an einer Anilinvergiftung.
Zurück zu meinem Großvater: Phenacetin war das einzige Präparat, das seine Schmerzen einigermaßen lindern konnte. Eine Einnahme morgens, mittags, abends war jedoch ineffektiv, daher wurden die Tabletten wie Bonbons eingenommen, um das Leben gerade noch irgendwie meistern zu können. Natürlich war nach 10 Jahren eine für die Nieren tödliche Dosis erreicht, Gott sei Dank gab es Mitte der 1960er-Jahre schon die Dialyse in ländlichen Gegenden, die ihm ein Weiterleben erlaubte. Um möglichst viele Patient*innen behandeln zu können, verwendete man möglichst schmale Liegen, um Platz und Raum zu sparen. Endlich ging es ihm einigermaßen gut und er fuhr mit Freude zur Dialyse, schlief wie üblich dabei ein und die junge Krankenschwester, die anwesend sein musste, ging eine Zigarette rauchen … Der Rest der Geschichte ist klar, oder? Schlafend fiel er von der schmalen Liege auf den Boden und auf den Kopf, wegen der Blutverdünnung mit Heparin erlitt er ein akutes Subduralhämatom, was ihm das Gehirn zerquetschte und er verstarb bei der Dialyse infolge eines schweren Schädelhirntraumas und wurde am 60. Geburtstag beerdigt.
Zurück zum Darm, zur Kolopathie: Die gesetzlichen Krankenversicherungen wenden jährlich € 125 Mio. für die Behandlung gastrointestinaler Nebenwirkungen der NSAR auf. Das Deutsche Ärzteblatt berichtete im Oktober 2003, dass es bei chronisch entzündlicher Darmerkrankung unter Einnahme von Aspirin und NSAR zu einer Aktivierung des Entzündungsprozesses kommen kann. In einer Fallkontrollstudie auf der Kanalinsel Jersey hatten von 105 Patient*innen mit Kolitis 78 (74 %) vor Aufflackern ihrer Erkrankung NSAR oder Aspirin eingenommen [1].
Die Affektion des Magen-Darm-Trakts durch NSAR kann alle anatomischen Schichten betreffen. Die uns am geläufigsten bekannte Affektion ist die Schleimhautschädigung. Der Mechanismus der Schleimhautschädigung wird auf die substanzgruppentypische Hemmung der Cyclooxygenase (COX) als Schlüsselenzym der Prostaglandinsynthese (v. a. COX-1) zurückgeführt. Weitere bekannte Risikofaktoren für das Auftreten oberer gastrointestinaler Komplikationen unter einer NSAR-Therapie sind abhängig vom Alter der Patient*innen, Ulkusanamnese, Helicobacter-pylori-Besiedlung, NSAR-Dosierung, Therapiedauer sowie einer möglichen Komedikation mit Antikoagulantien und Kortikosteroiden [2].
Deutlich weniger bekannt ist die Schädigung des Dünn- und Dickdarms durch NSAR. Die NSAR-Enteropathie umfasst eine Eisenmangelanämie, Diarrhoe, Hypalbuminämie, Erosionen, Ulzerationen, Perforationen, Membranbildungen und Strikturen des Dünn- und Dickdarmes, Rezidive bzw. Exazerbationen chronischer entzündlicher Darmerkrankungen sowie Divertikelperforationen [3].

Pseudo-Kaudasymptomatik

Die mehrfache NSAR-Einnahme über einen Zeitabschnitt von mehreren Wochen kann zu einer Kolonwandverdickung führen, deren Differentialdiagnose das Kolonkarzinom ist. Eine umschriebene oder längerstreckige Wandverdickung, häufig vom Iliocoecal-Übergang das Colon ascendens oder größere Anteile bis zum gesamten Kolon umfassend, führt zu einer Motilitätsreduktion in der Kolonwand. Die Motilitätsreduktion kann zu einer Koprostase führen. Besteht der Zustand über mehrere Wochen, kann sich eine Stuhlwalze ausbilden, die wiederum das neurologische Krankheitsbild einer inkompletten Kaudasymptomatik mit Blasen‑, Mastdarmentleerungsstörung imitieren kann, aber letztendlich keine ist, denn die Patient*innen können die Spincteren tonisieren und haben keine Reithosenhypästhesie.
Wie kam ich auf dieses Phänomen? Ganz einfach durch beobachten und nicht gleich wieder vergessen. Als Neurochirurg kommt es immer wieder vor, dass wir Patient*innen mit inkompletter Kaudasymptomatik operieren müssen, obwohl die Pathologie bildgebend nicht so ausgeprägt ist, dass sie eine Kaudasymptomatik erklären könnte, ein Harnverhalt und ein klaffender Anus jedoch eine klare Sprache sprechen. Ist die Patientin/der Patient im Operationssaal angelangt, erfolgt der Transfer auf den OP-Tisch und sie/er gelangt in den OP-Vorraum zur anästhesiologischen Versorgung mit Venenkathetern, Intubation und Blasenkatheteranlage. Nach der Blasenkatheteranlage zeigt sich eine volle bis übervolle Blase, was unsere Notfallindikation zur OP bestätigt. Eine Zeit nach der Blasenentleerung durch den frisch gelegten Dauerkatheter kommt es zu einer massiven Stuhlentleerung, die den gesamten OP-Tisch inklusive Patient*in in einen hygienischen Notfall/Biohazard verwandelt. Alles muss geputzt, gewechselt, gewaschen und gereinigt werden. Die OP-Minute wird mit ca. € 150 berechnet.
Was ist bei so einer vermeintlichen Kaudasymptomatik passiert? Der Schlüssel dazu ist der klaffende Anus, der noch tonisieren kann und nicht schlaff offen ist. Durch die NSAR induzierte Darmträgheit, bedingt durch die Verdickung der Darmwand auf ca. 1 cm, kommt es zu einer reduzierten Bewegung des Darminhaltes, der sich zu einer Stuhlwalze großen Ausmaßes entwickelt und letztendlich am inneren (oberen) Bereich des Musculus sphincter ani internus anlangt und diesen aufdehnt (siehe Abb. 1). Durch seine Ausmaße wird auch der darum befindliche Musculus sphincter ani externus im oberen Bereich gedehnt, der sich kontrahiert. Diese Kontraktion erstreckt sich kettenartig bis zum Musculus sphincter urethrae externus, der dann mitverantwortlich ist, dass die Patient*innen nicht mehr Wasserlassen können. Durch das Setzen des Blasendauerkatheters kommt es zur Teilentspannung des Beckenbodens (Musculus bulbospongiosus, Musculus puborectalis) und es kommt zur Austreibung der angestauten Faeces. Anschließend ist die Pseudo-Kaudasymptomatik beseitigt. Wir Neurochirurg*innen schreiben diese Wirkung unserer hervorragenden Bandscheibenoperation zu. Alle Beteiligten sind zufrieden. Die Patient*innen sind extrem erleichtert und schmerzreduziert und die Chirurg*innen sind glücklich, wieder jemanden gerettet zu haben.
Mit NSAR behandelte Patient*innen mit Bandscheibenvorfall entwickeln im Langzeitverlauf bis zu 70 % eine Ileitis mit und ohne Coecum‑/Kolonbeteiligung, was eigentlich gar nicht so selten ist, aber nirgendwo bisher Erwähnung fand. Weiters tut sich die Frage auf, wie viele NSAR-Kolopathien täglich als vermeintliche Karzinome operiert werden und wie viele Menschen im Rahmen dieser Operationen versterben – oder sind gute Langzeitverläufe von Patient*innen NSAR-Kolopathien geschuldet [4]? Eine Arbeit aus dem Jahre 2010 aus der Regensburger Klinik kann uns hierzu Antwort geben [5]: Troppmann et al. identifizierten im CT-Abdomen eine Darmwandverdickung bei 62 Patient*innen. Bei 21 % zeigte sich eine generalisierte Wandverdickung oder die Verdickung ging über ein Darmsegment hinaus. In 58 % beschränkte sich die Verdickung auf ein Segment. Eine endoskopische Abklärung erfolgte in 44 %. Bei 4 dieser 27 Patient*innen wurde der Verdacht auf Malignom geäußert, bei 2 Patient*innen erfolgte schließlich eine histologische Bestätigung eines Malignoms.

Interessenkonflikt

W. Eisner gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Gleeson MH, Davis AJM. Non-steroidal anti-inflammatory drugs, aspirin and newly diagnosed colitis: a case control study. Aliment Pharmacol Ther. 2003;17:817–25.CrossRef Gleeson MH, Davis AJM. Non-steroidal anti-inflammatory drugs, aspirin and newly diagnosed colitis: a case control study. Aliment Pharmacol Ther. 2003;17:817–25.CrossRef
2.
Zurück zum Zitat Hawkey JH. Nonsteroidal anti-inflammatory drug gastropathy. Gastroenterology. 2000;119:521–35.CrossRef Hawkey JH. Nonsteroidal anti-inflammatory drug gastropathy. Gastroenterology. 2000;119:521–35.CrossRef
3.
Zurück zum Zitat Bjarnson I, et al. Clinicopathological features of nonsteroidal antiinflammatory drug-induced small intestinal strictures. Gastroenterology. 1988;94:1070–4.CrossRef Bjarnson I, et al. Clinicopathological features of nonsteroidal antiinflammatory drug-induced small intestinal strictures. Gastroenterology. 1988;94:1070–4.CrossRef
4.
Zurück zum Zitat Freeman HJ. Early stage colon cancer. World J Gastroenterol. 2013;19(46):8468–73.CrossRef Freeman HJ. Early stage colon cancer. World J Gastroenterol. 2013;19(46):8468–73.CrossRef
Metadaten
Titel
NSAR-induzierte Kolopathie: nicht selten, aber nur selten bedacht
verfasst von
Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner
Publikationsdatum
03.06.2022
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Schmerz Nachrichten / Ausgabe 2/2022
Print ISSN: 2076-7625
Elektronische ISSN: 2731-3999
DOI
https://doi.org/10.1007/s44180-022-00029-8

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