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Erschienen in:

Open Access 22.08.2024 | Multiple Sklerose | Neurologie

Individuelle MS-Therapie

Der Weg zur richtigen Therapie – manchmal einfach, manchmal schwer

verfasst von: OÄ Dr. Bettina Heschl

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 5/2024

Zusammenfassung

Zur Behandlung der multiplen Sklerose zeigte sich in den letzten Jahren ein stetiger Zuwachs neuer Therapieoptionen und es steht derzeit eine Vielzahl von Medikamenten zur Verfügung. Um für unsere Patient:innen die individuell richtige Therapie zu finden, müssen neben einer sicheren Diagnose sowie der Krankheitsaktivität auch Wirkungsweise und Nebenwirkungen der einzelnen Medikamente in die Therapieentscheidung miteinfließen.
Ich berichte über eine junge Patientin mit einer komplexen Vorgeschichte und werde anhand der Medikamentenwirkweise sowie potenziellen Nebenwirkungen Entscheidungen diskutieren und Problemlösungen besprechen.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Die Therapielandschaft der Medikamente zur Behandlung der MS (Multiple Sklerose) hat sich in den letzten Jahren um eine Vielzahl an neuen Therapieoptionen erweitert und durch intensive Forschung werden derzeit viele weitere potenzielle neue Therapieansätze in klinischen Studien erprobt. Ein Meilenstein für die Behandlung der MS sowohl für den/die Patienten/in als auch für den Arzt!
Dieser Fortschritt macht es aber natürlich auch zu einer Herausforderung, die richtige Therapie für den/die richtige/n Patienten oder Patientin zu finden. Da die verfügbaren Medikamente auch potenzielle Nebenwirkungen besitzen, müssen diese vor Therapiewahl berücksichtigt werden. Vorerkrankungen und Integration in den Alltag des Patienten/der Patientin müssen besprochen werden.
Therapien erst nach gesicherter Diagnosestellung einsetzen
Gerade aber diese Herausforderung und das Wissen, mit den derzeit verfügbaren Medikamenten die Erkrankung Multiple Sklerose so gut behandeln zu können, macht die Arbeit in einer MS-Ambulanz spannend. Dass die Wahl aber nicht immer einfach sein kann, möchte ich im nachfolgenden Fallbeispiel aufzeigen.

Richtige Diagnose

Der wichtigste Punkt jedoch vorweg, bevor überhaupt über eine Therapiewahl mit dem Patienten oder der Patientin gesprochen werden kann und Medikamente eingesetzt werden können, ist die richtige Diagnosestellung! Diese wird derzeit nach den aktuell gültigen McDonald-Kriterien 2017 gestellt und bezieht Klinik, MRT sowie Liquorbefund in die Diagnosestellung mit ein. Erst nach Vorliegen der erforderlichen Kriterien sowie dem Ausschluss möglicher Differentialdiagnosen kann die Diagnose Multiple Sklerose gestellt werden. Erst dann sollten Therapieoptionen für den diagnostizierten Krankheitsverlauf eingesetzt werden.
Die häufigste Erkrankungsform stellt die schubförmige MS (RRMS) dar, progrediente Verlaufsformen (SPMS, PPMS) betreffen eine kleinere Patientengruppe. Das Ziel der eingesetzten MS-Therapien sollte ein Freisein von Schüben, Verhinderung von Behinderungsprogression sowie fehlende MRT-Aktivität sein. Neuere Studiendaten zeigen einen Trend zum frühen Einsatz von MS-Medikamenten und auch schon zum frühzeitigen Einsatz potenter Therapieoptionen („Hit-hard-and-early-Konzept“) im Gegensatz zum früher gängigen Eskalationsansatz („Treat-to-target“).

Fallbericht

Es handelt sich um eine 30-jährige Patientin. Die Diagnose Multiple Sklerose wurde 2021 nach den McDonald-Kriterien 2017 nach insgesamt zwei klinisch eindeutigen Schüben (sensible Halbseitensymptomatik; Sehnerventzündung), passendem Lumbalpunktionsbefund sowie passenden MRT-Befunden gestellt. Eine Therapie soll eingeleitet werden und alle Möglichkeiten der derzeit zur Verfügung stehenden Therapieoptionen werden anhand der DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie)-Leitlinien mit der Patientin besprochen (Abb. 1).
Um eine für die Patientin passende Therapie zu finden, muss diese für die zugrunde liegende Verlaufsform, in diesem Fall ein schubhafter Verlauf, zugelassen sein und soll nach Einschätzung der Aktivität der Erkrankung entschieden werden. Wir gehen derzeit bei unserer Patientin von keinem wahrscheinlich hochaktiven Verlauf aus, jedoch werden alle zur Verfügung stehenden Therapieoptionen besprochen. Da Vorerkrankungen sowie Alltag der Patientin bei der Therapiewahl in Hinblick auf potenzielle Nebenwirkungen eine große Rolle spielen, werden diese Eckdaten zu Beginn erhoben.
  • Relevante Vorerkrankungen: Zustand nach Riesenzellmyokarditis 2016, chronische Gastritis, Depression, Zustand nach zweimaliger Herpes-zoster-Infektion
  • Allergien: keine
  • Medikamente: Magenschutz, Antidepressivum, Betablocker
  • Familienanamnese: Vater Melanom
  • Sozialanamnese: keine Kinder, aktuell Kinderwunsch bestehend
  • Beruf: Schauspielerin
  • Zusätzlich kann eine ausgeprägte Nadelphobie erhoben werden.
Wenn man nun denkt, diese Patientin ist sehr komplex und speziell, stimmt das. Um die umfangreichen Interaktionen und Möglichkeiten der Therapiewahl bestmöglich darzustellen, ist die Patientin in diesem Fallbericht als Parade-Patientin frei erfunden. Jede einzelne Konstellation habe ich jedoch bereits während der Tätigkeit in der MS-Ambulanz erlebt und ich musste Gründe, die gegen eine Therapieeinleitung sprechen, sowie mögliche Problemlösungen mit meinen Patient:innen diskutieren.
Im Folgenden werden nun alle derzeit zugelassenen Therapieoptionen mit unserer Parade-Patientin besprochen.

Interferon-β-Präparate sowie Glatirameracetat

Diese Medikamentengruppe zählt zu Medikamenten der Wirksamkeitskategorie 1, sie sind immunmodulierend und werden ausschließlich in Spritzenform verabreicht. Als häufige Nebenwirkungen sind lokale Hautreaktionen, bei den Interferon-β-Präparaten auch grippeähnliche Beschwerden sowie Verschlechterung depressiver Symptome zu erwähnen.
Conclusio: Aufgrund der bestehenden Spritzenphobie sowie der vorbestehenden Depression für unsere Patientin somit keine optimale Therapiewahl.
Problemlösung.
In diesem Fall wären die Verwendung eines Pen-Injektors zur leichteren Applikation sowie die Vorstellung und medikamentöse Einstellung beim Facharzt für Psychiatrie zu empfehlen.

Teriflunomid

Teriflunomid-Tabletten zählen zu Medikamenten der Wirksamkeitskategorie 1 und bewirken eine Hemmung der DNA-Synthese von Lymphozyten. Nebenwirkungen können eine Erhöhung der Leberwerte, eine Erhöhung der Blutdruckwerte sowie eine vorübergehende Haarverdünnung sein. Teriflunomid ist durch potenzielle Teratogenität in der Schwangerschaft kontraindiziert und muss aufgrund einer langen Nachweisbarkeit im Körper vor Schwangerschaftsplanung abgesetzt und aktiv ausgewaschen werden.
Conclusio.
Aufgrund des aktuell bestehenden Schwangerschaftswunsches und der fehlenden Kontrazeption unserer Patientin ist Teriflunomid in diesem Fall keine geeignete Option.
Problemlösung.
Zuverlässige Verhütung, Schwangerschaft zu einem späteren Zeitpunkt planen.

Dimethylfumarat/Diroximelfumarat

Fumarsäurepräparate werden oral eingenommen, zählen zu Medikamenten der Wirksamkeitskategorie 1 und sind immunmodulierend. Nebenwirkungen umfassen oftmals gastrointestinale Beschwerden sowie das sogenannte „Flush-Symptom“, ein vorübergehendes Erröten der Haut.
Conclusio.
Als Schauspielerin möchte unsere Patientin keine Nebenwirkung im Sinne von Erröten der Haut, auch besteht eine vorbekannte chronische Gastritis. Auch diese Therapieoptionen sind daher keine optimale Lösung für unsere Patientin.
Problemlösung.
Als Prophylaxe, dem Erröten der Haut vorzubeugen, Einnahme von Acetylsalicylsäure 75 mg 1 × 1 sowie Einnahme zu den Mahlzeiten, um gastrointestinalen Nebenwirkungen vorzubeugen. Bei Diroximelfumarat besteht ein reduziertes Risiko für gastrointestinale Nebenwirkungen.

S1-P-Rezeptor-Modulatoren

Zu dieser Gruppe gehören mehrere oral einzunehmende Präparate, die alle der Wirksamkeitskategorie 2 angehören. Durch Verschiebung von Lymphozyten in die lymphatischen Gewebe ist die Wirkung als immunsuppressiv einzustufen. Nebenwirkungen können Infektanfälligkeit, Reaktivierung von VZV/Herpes zoster, Bradykardien durch verzögerte kardiale Erregungsleitung, das Risiko für Hauttumore sowie Entwicklung eines Makulaödems umfassen. Bei unserer Patientin besteht eine kardiale Vorerkrankung, weiters ein Melanom in der Familienanamnese.
Problemlösung.
Kardiale Fachuntersuchung sowie regelmäßige hautfachärztliche Kontrollen.

Cladribin

Cladribin-Tabletten inhibieren DNA-Reparaturmechanismen sowie die DNA-Synthese bei Lymphozyten, wirken somit immunsuppressiv und zählen zu Medikamenten der Wirksamkeitskategorie 2. Nebenwirkungen können Infektionen mit Reaktivierung von Herpes zoster sowie schwere Lymphopenien sein. Aufgrund zweimalig stattgehabter Herpes-zoster-Infektionen hat unsere Patientin Angst vor dieser Therapieoption.
Problemlösung.
Eine Impfung vor Therapiebeginn mit Impfstoff gegen eine VZV-Reaktivierung bietet einen Schutz zur Verhinderung von Herpes zoster.

Natalizumab

Natalizumab, in intravenöser oder subkutaner Applikationsform, zählt als monoklonaler Antikörper zu Medikamenten der Wirksamkeitskategorie 3 und verhindert das Einwandern von Lymphozyten ins ZNS. Nebenwirkungen können infusionsassoziierte sowie allergische Reaktionen sein. Als Besonderheit besteht bei Natalizumab eine direkte Assoziation mit dem JC-Virus (John-Cunningham-Virus), das durch Reaktivierung zum Auftreten einer PML (progressive multifokale Leukenzephalopathie) führen kann.
Unsere Patientin zeigt eine Seropositivität gegen das JC-Virus, daher sind in diesem Fall andere Therapieoptionen zu bevorzugen.
Problemlösung.
Therapiealternativen anbieten, ggf. JC-Indexbestimmung zur Risikostratifizierung.

CD20-depletierende Therapien

Diese Medikamentengruppe in intravenöser sowie subkutaner Applikationsform zählt zu den Medikamenten der Wirksamkeitskategorie 3. Diese führen zu einer Depletion von B‑Zellen und wirken somit immunsuppressiv. Nebenwirkungen können infusions-/injektionsbedingte Reaktionen umfassen, weiters eine erhöhte Infektanfälligkeit sowie eine Immunglobulinreduktion nach langjähriger Gabe. Da es generell unter immunsuppressiver Therapie zu einem reduzierten Ansprechen auf Impfungen kommt, muss dies vor Therapieplanung berücksichtigt werden.
Unsere Patientin plant eine Fernreise in naher Zukunft, hat keine Zeit für Impfungen.
Problemlösung.
Impfstatus genau erheben, Auffrischungen vor Therapieeinleitung.
Immunsuppressive Therapien können die Impfantwort reduzieren
Dieses Fallbeispiel zeigt die Probleme auf, die sich durch die Individualität jedes/r einzelnen Patienten/in ergeben können. Das Wichtigste zur Wahl der richtigen Therapie ist somit eine genaue Anamnese mit unseren Patient:innen und die Kenntnis der Wirkweise und möglichen Nebenwirkungen der einzelnen Substanzen sowie das Anbieten von Problemlösungen.

Fazit

  • Vor Therapieeinleitung muss die Diagnose anhand der gültigen Diagnosekriterien gesichert sein
  • Leitlinien für die Therapieentscheidung je nach Erkrankungsform und Aktivität beachten
  • Impfungen vor Therapieeinleitung, insbesondere vor Beginn von immunsuppressiven Therapien, auffrischen
  • Familienplanung mit Patientinnen vor Start einer Immuntherapie besprechen
  • Medikamentenwirkweise und die damit verbundenen Nebenwirkungen zu kennen ist der beste Weg zur richtigen, individuellen Therapie

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

B. Heschl gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Literatur bei der Verfasserin

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Individuelle MS-Therapie
Der Weg zur richtigen Therapie – manchmal einfach, manchmal schwer
verfasst von
OÄ Dr. Bettina Heschl
Publikationsdatum
22.08.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 5/2024
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-024-01026-y