Große MS-Studie: Lassen sich die Axone retten?

Die Therapieoptionen für Patienten mit sekundär progredienter MS sind noch immer rar. Benötigt werden Arzneistoffe, die nicht nur antientzündlich sondern auch neuroprotektiv wirken – drei vielversprechende Neuroprotektiva wurden daher in einer Zweijahresstudie getestet. Für Patienten mit sekundär progredienter MS (SPMS) gibt es noch immer zu wenig wirksame Therapien. Mit Siponimod ließ sich in der EXPAND-Studie die Krankheitsprogression von SPMS-Patienten zwar deutlich reduzieren, der Wirkstoff zielt jedoch primär auf entzündliche Prozesse. Dringend nötig wären gegen die bei SPMS dominierende Neurodegeneration aber auch direkt neuroprotektiv wirkende Substanzen, schreiben Neurologen um den MS-Experten Professor Jeremy Chataway vom University College in London. Sie haben nun drei Kandidaten in einer Studie mit knapp 450 Patienten gegen Placebo geprüft. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd: Bezogen auf den harten Endpunkt Hirnvolumenverlust zeichneten sich nach zwei Jahren Behandlung für keinen der Wirkstoffe Unterschiede zu Placebo ab. Hirnvolumenänderungen als primärer Endpunkt Die Forscher um Chataway hatten auf Basis der vorhandenen Literatur nach den aussichtsreichsten MS-Neuroprotektiva geschaut. Sie entschieden sich für Amilorid, weil das kaliumsparende Diuretikum einen säureempfindlichen Ionenkanal (ASIC1) blockiert und damit einen übermäßigen Einstrom von Natrium- und Kalziumionen in Axone verhindert. Ein solcher Einstrom geht häufig mit axonalen Schäden einher. In Tiermodellen wirkte Amilorid tatsächlich axonschützend, und eine kleine Studie bei MS-Patienten deutete auf einen verringerten Hirnvolumenverlust. Dem SSRI Fluoxetin werden pleiotrope neuroprotektive Eigenschaften nachgesagt, so konnte die Substanz in einigen Modellen den mitochondrialen Stoffwechsel verbessern. Riluzol schließlich ist bereits als neuroprotektiver Wirkstoff bei Motoneuronerkrankungen zugelassen – die Arznei hemmt die Glutamatexzitotoxizität. In einem Nager-MS-Modell ließen sich damit axonale Schäden vermeiden. An der Studie MS-SMART* der Forscher um Chataway nahmen SPMS-Patienten aus 13 britischen Zentren teil. Der EDSS-Wert musste zwischen 4,0 und 6,5 Punkten liegen, niemand durfte eine Behandlung mit krankheitsmodifizierenden MS-Mitteln bekommen oder in den vergangenen drei Monaten MS-Schübe gehabt haben. Die MS-Kranken wurden nach dem Zufallsprinzip auf vier Gruppen verteilt und bekamen entweder Amilorid (5 mg), Fluoxetin (20 mg), Riluzol (50 mg) oder Placebo. In den ersten vier Wochen wurde die Medikation einmal täglich, anschließend zweimal täglich eingenommen. Als primären Endpunkt wählten die Forscher Hirnvolumenänderungen nach zwei Jahren. Die Patienten waren im Schnitt 55 Jahre alt und seit sechs Jahren in der progredienten MS-Phase, der EDSS-Wert betrug im Mittel 6 Punkte. Keine belastbaren Differenzen Mit Placebo hatte das normalisierte Hirnvolumen zum Studienende um 1,3% abgenommen, mit Amilorid ebenfalls. Unter Fluoxetin und Riluzol war der Verlust mit je 1,4% sogar noch geringfügig größer, die Differenzen erwiesen sich jedoch als nicht signifikant. Im Schnitt zeigten die Patienten unter Placebo nach zwei Jahren drei neue oder sich vergrößernde T2-Läsionen, das war auch unter Amilorid und Riluzol der Fall. Mit dem SSRI war die Rate allerdings nur halb so hoch, und dieser Unterschied war statistisch belastbar, allerdings nicht nach Alphafehlerkorrektur für multiple Vergleiche: Von 60 untersuchten Sekundärfaktoren zeigten fünf eine signifikante Abweichung knapp unter dem 5%-Fehlerniveau – das war statistisch zu erwarten, so die Neurologen um Chataway. Letztlich traten auch beim EDSS-Wert und den einzelnen motorischen sowie kognitiven Funktionstests keine überraschenden und statistisch belastbaren Differenzen zutage, immerhin auch keine unerwarteten Nebenwirkungen. Unterm Strich gehen die MS-Experten davon aus, dass keine der geprüften Substanzen relevante neuroprotektive Eigenschaften für Patienten mit SPMS aufweist. Um den axonalen Untergang bei SPMS zu bremsen, müssten nun spezifischere Ansätze oder Kombinationstherapien geprüft werden. *MS-SMART: Multiple Sclerosis – Secondary Progressive Multi-Arm Randomisation Trial Das Wichtigste in Kürze Frage: Wirken Amilorid, Fluoxetin und Riluzol der Neurodegeneration von Patienten mit sekundär progredienter MS entgegen? Antwort: In einer kontrollierten Studie mit knapp 450 Patienten konnte keine der Substanzen den Hirnvolumenverlust bremsen. Bedeutung: Für Amilorid, Fluoxetin und Riluzol lassen sich keine relevanten Effekte auf den Krankheitsverlauf nachweisen. Einschränkung: Studiendauer mit zwei Jahren vielleicht zu kurz. Literatur: Chataway J et al. Efficacy of three neuroprotective drugs in secondary progressive multiple sclerosis (MS-SMART): a phase 2b, multiarm, double-blind, randomised placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2020; https://doi.org/10.1016/S1474-4422(19)30485-5

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