Moderne Vorsorge beim Mann: Schnittstellen zwischen GrundversorgerInnen und FachärztInnen
- Open Access
- 10.10.2025
- Originalien
Zusammenfassung
Prostatakrebs (C. Würnschimmel)
Die Geschichte der Prostatakrebsvorsorge
Prostatakrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Männern in der Schweiz und nach Lungenkrebs die zweithäufigste krebsbedingte Todesursache [1]. Jährlich werden in der Schweiz mehrere tausend neue Fälle diagnostiziert, und die Erkrankung stellt eine erhebliche Belastung für die Patienten und das Gesundheitssystem dar. Angesichts der demografischen Entwicklung und der zunehmenden Lebenserwartung und somit steigenden Fallzahlen wird die Bedeutung einer effizienten Früherkennung weiter steigen [2].
Die Prostatakrebsfrüherkennung nahm Fahrt auf mit der Entdeckung des prostataspezifischen Antigens (PSA). Dieser serologische Tumormarker wurde erstmals in den 1960er-Jahren identifiziert und bis Ende der 1980er-Jahre ausschliesslich zur Überwachung des Krankheitsverlaufs bei Männern verwendet, bei denen bereits ein Prostatakrebs diagnostiziert worden war [3]. Anfang der 1990er-Jahre gewann der PSA-Test an Popularität als Instrument zur Früherkennung und insbesondere als Screeningtool von Prostatakrebs. Um den Test in dieser Hinsicht zu prüfen, wurden 2 gross angelegte klinische Studien initiiert: die ERSPC (European Randomized Study for Prostate Cancer Screening) und die PLCO-Studie (PLCO: Prostate, Lung, Colorectal and Ovarian Cancer Screening) in den USA [4, 5]. Ziel dieser Studien war es, zu klären, ob ein PSA-basiertes Screening der Bevölkerung die Sterblichkeitsrate durch Prostatakrebs senken kann. Beide Studien kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während die ERSPC-Studie auch im langjährigen Verlauf weiterhin eine signifikante Reduktion der Prostatakrebssterblichkeit zeigte, konnte dies die PLCO-Studie nicht nachweisen. Die Diskussion um die Früherkennung war daher seit Jahren von kontroversen Debatten geprägt. Im Jahr 2012 empfahl die US Preventive Services Task Force (USPSTF), auf ein PSA-basiertes Screening zu verzichten, da das Risiko von Überdiagnosen und Übertherapien die potenziellen Vorteile überwiege. Eine vom Swiss Medical Board im Jahr 2011 veröffentlichte Health-Technology-Assessment-Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen und sprach sich gegen ein PSA-Screening in der Schweiz aus [6]. Insbesondere in den USA war die Wirkung des USPSTF-Statements gegen das Screening spürbar. So kam es zu einem deutlichen Rückgang der PSA-Tests und zeitgleich zu einer Zunahme fortgeschrittener Tumorstadien und Prostatakrebssterblichkeit in den USA. Mittlerweile herrscht der Konsens, dass die PLCO-Studie aufgrund eklatanter methodischer Probleme keine aussagekräftige Studie zur Beantwortung der Frage nach Prostatakrebssterblichkeit war und die darauf basierenden Empfehlungen gegen das PSA-basierte Screening somit revidiert werden mussten [7, 8]. Neu lauten die Empfehlungen, ein „shared decision making“ anzubieten, d. h., den Männern zwar einen PSA-Test anzubieten, aber darüber zu informieren, was die möglichen Konsequenzen sein könnten.
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In der Schweiz hingegen wird derzeit, sicherlich auch aufgrund der historischen Kontoversen, kein nationales Screening durchgeführt. Stattdessen erfolgt ein weit verbreitetes opportunistisches PSA-Testen im Kontext eines „shared decision making“. Etwa 50 % der Männer haben bereits mindestens einmal einen PSA-Test durchführen lassen, in aller Regel durch ihren/ihre HausärztIn [9]. Das opportunistische PSA-Testen unterliegt jedoch naturgemäss keiner Reglementierung und/oder zentralen Steuerung und läuft daher auch Gefahr, eine ungleichmässige Versorgung in der Bevölkerung zu provozieren, mit möglicherweise ineffizienter Ressourcennutzung und insbesondere fehlender Medizinstandards hinsichtlich Kontrollintervallen und Abklärungsnormen.
Herausforderungen des opportunistischen Testens
Das derzeitige opportunistische Vorgehen in der Schweiz birgt im direkten Vergleich mit einem zentral gesteuerten Screening potenziell mehrere Probleme:
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Fehlende Standardisierung: HausärztInnen und UrologInnen wenden unterschiedliche Test- und Abklärungsstrategien an.
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Ungleichheiten: Männer mit höherem sozioökonomischem Status werden eher häufiger getestet, während Risikogruppen teilweise unterversorgt bleiben.
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Fehlende Kosteneffizienz: Opportunistische Tests führen möglicherweise zu häufigen Mehrfachuntersuchungen und ineffizientem Ressourceneinsatz.
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Überdiagnosen: Ohne sinnvolle Risikostratifikation wird möglicherweise auch das Risiko erhöht, indolente Karzinome zu diagnostizieren, die keiner Behandlung bedürfen.
Organisierte Screeningprogramme könnten diese Defizite adressieren, indem sie strukturierte Abläufe, Entscheidungshilfen und klare Qualitätsstandards etablieren und insbesondere allen Männern die gleiche Chance geben, eine Prostatakrebsvorsorge zu betreiben.
Mögliche Zukunft der Prostatakrebsvorsorge
Aufgrund der oben genannten Nachteile des opportunistischen PSA-Tests forderte die Europäische Union (EU) im Rahmen des „Europe’s Beating Cancer Plan“ ihre Mitgliedsstaaten auf, die Machbarkeit und Effektivität organisierter Screeningprogramme zu prüfen. Schweden ist hier Vorreiter: Dort wurden bereits strukturierte Programme zur Prostatakrebsfrüherkennung eingeführt, die von regionalen Krebszentren koordiniert werden. Zeitgleich wurde in der EU das Konsortium „PRostate cancer Awareness and Initiative in the EU“ (PRAISE-U) gegründet. Das von der Europäischen Urologischen Gesellschaft (EAU) geleitete PRAISE-U-Projekt verfolgt das Ziel, belastbare Daten für ein Prostatakrebsscreening ausserhalb von Studienbedingungen bereitzustellen.
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Am 20.09.2023 organisierte sich innerhalb der schweizerischen Gesellschaft der Urologie (SGU) ebenfalls eine offizielle Abstimmung, um die generelle Haltung der Mitglieder der SGU/SSU zum Prostatakrebsscreening in der Schweiz zu ermitteln. In enger Anlehnung an die offizielle Stellungnahme der Europäischen Union wurde über folgenden Wortlaut abgestimmt und dieser angenommen (80 Ja-Stimmen, 6 Enthaltungen, 0 Nein-Stimmen):
„Angesichts der Evidenzlage und des erheblichen Ausmasses an laufendem opportunistischem Screening sollte die Schweiz einen schrittweisen Ansatz verfolgen, einschliesslich Pilotprojekten und der weiteren Unterstützung von Forschung, um die Machbarkeit der Einführung organisierter Programme zur Gewährleistung eines angemessenen Managements und einer hohen Qualität des Prostatakrebs-Screenings zu evaluieren.“
Ausgehend von dieser Zustimmung verfolgt der neu gegründete „Verein für Prostatakrebs-Früherkennung Schweiz“ das Ziel, Pilotstudien vorzubereiten und durchzuführen, um einen Fahrplan für die mögliche Einführung eines Prostatakrebsscreenings in der Schweiz zu evaluieren [10]. Diesbezüglich werden Studien zur Kosteneffektivität, Epidemiologie des Prostatakrebs in der Schweiz sowie qualitative und quantitative Erhebungen zu „barriers/facilitators“ eines Prostatakrebsscreenings in der Schweiz erstellt. Darüber hinaus wird im Kanton Luzern ein Pilotprojekt evaluiert, welches verschiedene Zugangswege für ein mögliches kantonal geführtes Screening überprüfen soll – diese Studie sieht vor, zum Screening eingeladene Männer die Möglichkeit zu geben, einen PSA-Test durch HausärztInnen, durch mobile Testeinheiten oder aber auch durch ein Testzentrum abnehmen zu lassen. Das Luzerner Kantonsspital führt in diesem Zusammenhang als erstes schweizerisches Zentrum mit PRAISE‑U eine Kooperation und trägt nun in enger Zusammenarbeit mit diesem Konsortium das oben genannte Pilotprojekt voran.
Bis eine ausreichende Evaluation dieser Studien erfolgt ist und somit überhaupt das Fundament für ein mögliches strukturiertes Screening vorliegt, liegt es an den Grundversorgern, das opportunistische PSA-Testen weiterhin anzubieten und hier nach neuesten medizinischen Richtlinien und mithilfe von Stratifikationstools vorzugehen. Die kommenden Jahre werden entscheidend sein, ob die Schweiz ein strukturiertes, risikoadaptiertes Screening etabliert. HausärztInnen stehen dabei im Zentrum dieser Entwicklung.
Moderne diagnostische Werkzeuge zur Risikostratifikation
Der wissenschaftliche Konsens unterstützt weiterhin den PSA-Wert als zentrales Element in der Prostatakrebsdiagnostik. Männer mit einem PSA-Wert unter 1,5 ng/ml haben ein sehr geringes Risiko für ein klinisch relevantes Karzinom. In den oben genannten Studien ERSPC und PLCO wurden jeweils Cut-off-Werte von 3 und 4 ng/ml ausgewählt, um weitere Abklärungen einzuleiten. Der aktuelle Standard für viele UrologInnen beinhaltet dabei aber nicht nur, auf den absoluten PSA-Wert einzugehen, sondern weitere Risikofaktoren in die Überlegung einzubeziehen, um allenfalls daraus weitere Abklärungen einzuleiten. Dies inkludiert Faktoren wie das Prostatavolumen (und die damit berechenbare PSA-Dichte), den Verlauf des PSA-Wertes über die Zeit, aber auch die familiäre Krebsvorbelastung. Ergänzt werden könnte die Evaluation durch eine altersbasierte PSA-Einschätzung, so wie es auch der PRAISE-U-Algorithmus aktuell in mehreren Pilotprojekten testet [11]. Es liegt in den Händen der schweizerischen HausärztInnen und UrologInnen, hier an einem Strang zu ziehen und möglichst einheitliche Systeme zu etablieren. Seit einiger Zeit wird ein neuer Biomarker, der Stockholm-3-Test, auch im individuellen Setting zur Früherkennung von einigen HausärztInnen und UrologInnen verwendet. Dieser Biomarker wurde ebenfalls für die Schweiz validiert und stellt eine weitere Möglichkeit der Risikostratifikation dar [12]. Als Goldstandard für die weitere Risikostratifikation gilt jedoch die Magnetresonanztomographie (MRT) der Prostata [13]. Hier werden radiologische Informationen angefordert, um besser einschätzen zu können, ob ein signifikanter Prostatakrebs vorliegen könnte. Da in der Schweiz MRT vielerorts verfügbar sind und auch im Sinne der Risikostratifikation klar belastbare Daten für diese Modalität vorliegen, ist die (zumindest routinemässige) Abnahme des Stockholm-3-Tests in der hausärztlichen Praxis in der Schweiz daher wahrscheinlich nicht zwingend notwendig. Andererseits könnte der Stockholm-3-Test als einfach zu verwendender „Reflex-Test“ im Rahmen eines zentralen Screeningprogramms durchaus eine Möglichkeit darstellen, MRT-Ressourcen zu sparen. Zuletzt stellt sich die Frage, ob die digital-rektale Untersuchung in Zukunft noch Teil der routinemässigen Prostatakrebsvorsorge sein wird. Aufgrund vieler falsch-positiver sowie falsch-negativer Befunde im Rahmen der deutschen PROBASE-Studie wird seit kurzem in der deutschen S3-Leitlinie empfohlen, zumindest im Rahmen von Screenings, die digital-rektale Untersuchung nicht mehr durchzuführen [14, 15].
Darmkrebs (S. Bütikofer)
Epidemiologie und Adenom-Karzinom-Sequenz
Das Kolonkarzinom ist die dritthäufigste Krebserkrankung in der Schweiz. Jährlich erkranken rund 4500 Personen an einem Darmkrebs, 1600 sterben daran. Männer sind von diesem Malignom etwas häufiger betroffen. Die wichtigsten Risikofaktoren sind das Alter und die familiären Prädispositionen. Etwa die Hälfte der Diagnosen wird erst nach dem 70. Lebensjahr gestellt [16].
Die Mehrzahl der kolorektalen Karzinome entsteht über einen Zeitraum von 10–15 Jahren aus gutartigen Adenomen. Diese langsame Progression bietet ein grosses Interventionsfenster, und die meisten Adenome lassen sich in der Regel endoskopisch problemlos entfernen. Somit ist in der Darmkrebsvorsorge nicht nur eine Früherkennung möglich, in vielen Fällen kann die Krebsentstehung effektiv verhindert werden [17]. Im Verlauf der letzten 20 Jahre hat das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken und zu sterben, in vielen Ländern kontinuierlich abgenommen. Dieser Effekt wird grösstenteils auf die stetig besser etablierte Vorsorge zurückgeführt [18]. Die Inzidenz von Kolonkarzinomen bei jungen Erwachsenen steigt hingegen in vielen Ländern seit Jahrzehnten deutlich an, wobei etwa 10 % aller Darmkrebsfälle inzwischen diese Altersgruppe betreffen – insbesondere bei Personen im Alter von 20–39 Jahren ist ein starker Anstieg zu verzeichnen. Die Ursache hierfür bleibt aktuell unklar [19].
Zielgruppe und Screeningmethoden
In der Schweiz wird die Vorsorge ab dem 50. Lebensjahr empfohlen – entweder alle 2 Jahre mittels quantitativem immunochemischem Stuhltest zum Nachweis von okkultem Blut (FIT) oder alle 10 Jahre mittels Koloskopie. Der FIT ist einfach, kostengünstig und kann zu Hause durchgeführt werden; bei positivem Resultat muss zeitnah eine Koloskopie erfolgen. Die Endoskopie bleibt der Goldstandard zur Detektion und gleichzeitigen Entfernung präkanzeröser Läsionen, ist jedoch ressourcenintensiv und mit einem (sehr geringen) Komplikationsrisiko behaftet. Wird der FIT konsequent alle 2 Jahre wiederholt, erreicht er hinsichtlich Früherkennung und Mortalitätssenkung eine Wirksamkeit in etwa vergleichbar mit der Vorsorgekoloskopie [20].
Seit der kürzlichen Anpassung der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) wird die Darmkrebsvorsorge seit 01.07.2025 nun bis zum Alter von 74 Jahren vergütet. Damit folgt die Schweiz internationalen Empfehlungen und erreicht mehr Hochrisikopatienten – wichtig, da über die Hälfte der Erkrankungen jenseits des 70. Lebensjahres auftreten. In gewissen Ländern wurde das Screeningalter wegen der Zunahme bei Jüngeren bereits auf 45 Jahre gesenkt [18]; in der Schweiz ist dies aus Ressourcengründen bislang nicht vorgesehen.
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Organisierte Programme vs. opportunistisches Screening
Kantonale Vorsorgeprogramme (DKV-P) bieten qualitätsgesicherte Abläufe, Franchisebefreiung und bessere Erreichbarkeit sozioökonomisch benachteiligter Gruppen. Mittlerweile decken sie über die Hälfte der Bevölkerung ab. Die Teilnahmeraten liegen jedoch mit 15–34 % noch klar unter dem Zielwert von 65 % [21]. In Kantonen ohne Programme erfolgt die Vorsorge opportunistisch, in der Regel mit Übergewicht an Koloskopien und geringer FIT-Nutzung.
Rolle der Grundversorgung
Hausärztinnen und Hausärzte nehmen in der Vorsorge eine zentrale Rolle ein [22]. Sie klären über Vor- und Nachteile beider Methoden auf und motivieren zur Teilnahme. Zentral ist es, neben der Koloskopie die Option der regelmässigen FIT-Testungen aufzuzeigen. Untersuchungen zeigten, dass die Teilnahmerate in der Darmkrebsvorsorge deutlich ansteigt, wenn beide Optionen angeboten werden [23, 24]. In der Schweiz wird in der Grundversorgung traditionell häufig nur die Koloskopie angeboten. Es sollte aber möglichst ein risikoadaptierter Ansatz gewählt werden: der 2‑jährlich durchgeführte FIT ist grundsätzlich ausreichend bei Personen mit einem durchschnittlichen Darmkrebsrisiko, bei Risikopatienten (insbesondere familiäre Belastung und Polypen in der Vorgeschichte) sollte hingegen direkt eine Koloskopie durchgeführt werden. Dieses Vorgehen schont Ressourcen und kann die Akzeptanz erhöhen.
Darmkrebsvorsorge: Fazit und Ausblick
Die Darmkrebsvorsorge bietet eine seltene Möglichkeit, eine Krebsart nicht nur früh zu erkennen, sondern in vielen Fällen auch zu verhindern. Mit der Erhöhung des Screeningalters auf 74 Jahre wird dem erhöhten Erkrankungsrisiko im Alter Rechnung getragen. Zentral ist nun, Adhärenzstrategien zu etablieren, um die Teilnahme über Jahrzehnte sicherzustellen – insbesondere beim 2‑jährlichen FIT. Dazu müssen DKV‑P flächendeckend eingeführt werden.
Die steigende Inzidenz bei unter 50-Jährigen muss sorgfältig beobachtet werden. Solange kein generelles Screening in dieser Altersgruppe vorgesehen ist, kommt der konsequenten Abklärung von Alarmsymptomen besondere Bedeutung zu – auch bei jüngeren Patienten. Nur durch strukturierte, risikoadaptierte und interdisziplinäre Umsetzung – unter aktiver Einbindung der GrundversorgerInnen – kann das volle Präventionspotenzial ausgeschöpft werden.
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„Aging male“ – wenn Männer in die Jahre kommen (L. Zahiti)
Der Alterungsprozess als natürlicher biologischer Vorgang betrifft Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise. Während die Menopause bei Frauen gut erforscht und gesellschaftlich anerkannt ist, erfährt das männliche Pendant – das sogenannte „aging male syndrom“ oder „late-onset hypogonadism“ (LOH) – in der allgemeinen Wahrnehmung häufig weniger Aufmerksamkeit. Dabei stellen Männer über 45 eine wachsende Patientengruppe dar, die zunehmend mit unspezifischen Beschwerden wie Abgeschlagenheit, Libidoverlust, Reizbarkeit oder Leistungsabfall vorstellig wird.
Gerade für Hausärztinnen und Hausärzte als häufig ersten Ansprechpersonen erscheint es entscheidend, die relevanten somatischen, hormonellen und psychischen Veränderungen frühzeitig einzuordnen, differenzialdiagnostisch zu bewerten und ggf. gezielte Massnahmen einzuleiten.
Was genau ist unter „aging male“ zu verstehen?
Unter dem Begriff „aging male“ versteht man die physiologischen, hormonellen und psychischen Veränderungen, die typischerweise ab dem 40. bis 50. Lebensjahr beim Mann auftreten können. Zentraler pathophysiologischer Mechanismus ist der altersbedingte Abfall des Serumtestosterons, der schleichend und interindividuell sehr unterschiedlich verläuft. Ab dem 35. Lebensjahr sinkt der Testosteronspiegel durchschnittlich um 1–2 % jährlich [25]. Die Beschwerden sind meist unspezifisch und werden häufig anderen Ursachen zugeschrieben, bspw. Stress, Burn-out oder Überlastung.
Klinisches Bild: Symptome des „aging male syndrome“
1.
Somatische Beschwerden:
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Rückgang der Muskelkraft und -masse
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Erhöhte viszerale Adipositas (v. a. zentral)
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Reduzierte Knochendichte, erhöhtes Osteoporoserisiko
-
Schlafstörungen, Tagesmüdigkeit, reduzierte Leistungsfähigkeit
2.
Sexualfunktion:
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Libidoverlust
-
Erektile Dysfunktion
-
Verzögerte Ejakulation, verlängerte Refraktärphase
3.
Psychische und kognitive Aspekte:
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Reizbarkeit, depressive Verstimmungen
-
Nachlassende Motivation, Antriebsmangel
-
Konzentrationsstörungen, subjektive kognitive Einschränkungen
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Wichtig für die Praxis ist: Diese Symptome sind nicht pathognomonisch und überschneiden sich mit anderen, teilweise synchron auftretenden internistischen und psychischen Krankheitsbildern, was die Diagnosestellung umso schwieriger macht. Eine gezielte und strukturierte Abklärung ist daher essenziell.
Ursachen und Risikofaktoren: multikausale Genese
Neben dem physiologischen Alterungsprozess beeinflussen verschiedene extrinsische Faktoren den Testosteronspiegel negativ [25]:
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Adipositas
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Bewegungsmangel
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Schlafmangel/Schlafapnoe
-
Alkohol- und Nikotinkonsum
-
Diabetes mellitus Typ 2
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Metabolisches Syndrom
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Lebererkrankungen
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Medikamente (z. B. Glukokortikoide, Opiate, Antiandrogene)
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Chronischer Stress, Burn-out
Diese Faktoren wirken häufig synergistisch und können einen bestehenden Testosteronmangel verstärken – oder umgekehrt durch eine Substitutionstherapie allein nicht ausreichend kompensiert werden [26].
Diagnostisches Vorgehen: Wann ist late-onset Hypogonadismus abklärungsbedürftig?
Die Diagnostik basiert auf 3 Säulen:
1.
Anamnese und strukturierte Symptomfragebögen
-
Beispielsweise der AMS-Score (AMS: „aging male symptoms“) zur Selbsteinschätzung durch den Patienten [27]
2.
Klinische Untersuchung
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Körperbau, Muskelmasse, Haarverteilung, Gewicht, BMI, Bauchumfang
3.
Labordiagnostik (morgendliche Blutentnahme, 7–10 Uhr)
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Gesamttestosteron
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Gegebenenfalls freies Testosteron (z. B. bei pathologischem SHBG)
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LH, FSH, SHBG, Prolaktin (zur Differenzierung zwischen primärem und sekundärem Hypogonadismus)
-
Begleitparameter: HbA1c, Lipidprofil, Leberwerte, TSH
Therapieansätze: nichtmedikamentöse Massnahmen (Erstlinie)
-
Gewichtsreduktion (insbesondere bei BMI > 30)
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Regelmässige Bewegung (insb. Krafttraining)
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Verbesserung der Schlafhygiene
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Reduktion von Alkohol/Nikotin
-
Stressmanagement, ggf. psychotherapeutische Unterstützung
Mehrfach konnte gezeigt werden, dass diese Massnahmen allein bereits zu einer signifikanten Erhöhung des Serumtestosterons führen können [29].
Testosteronersatztherapie (TRT)
Indikation:
-
Klinisch relevante Symptomatik und laborchemisch bestätigter Testosteronmangel [30]
Verfügbare Applikationsformen:
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Transdermal (Gel, Pflaster)
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Intramuskulär (kurz oder lang wirksame Präparate)
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Subkutane Implantate (selten eingesetzt)
Kontraindikationen beachten:
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Aktives Prostatakarzinom oder suspekter PSA-Anstieg
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Brustkrebs beim Mann
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Hämatokrit > 54 %
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Schweres OSAS
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Schwere Herzinsuffizienz (NYHA III–IV)
Monitoring unter TRT:
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Testosteron, PSA, Hämatokrit, Leberwerte (zunächst alle 3–6 Monate)
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Symptomverlauf evaluieren (AMS-Score)
Psychotherapeutische Begleitung
Gerade bei depressiven Symptomen, Partnerschaftskonflikten oder psychosexuellen Problemen ist eine gezielte psychotherapeutische Mitbetreuung sinnvoll – entweder im hausärztlichen Gespräch oder mit Unterstützung durch Fachkollegen.
Prävention und Gesundheitsförderung: Schlüsselrolle der Hausarztpraxis
Der „aging male“ bietet einen idealen Anlass für präventivmedizinische Gespräche und Lebensstilberatung wie bspw.
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Kardiovaskuläre Risikoprophylaxe
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Osteoporoseprävention (v. a. bei Risikokonstellationen)
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Bewegungs- und Ernährungsempfehlungen
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Sexualmedizinische Beratung
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Tabak- und Alkoholentwöhnung
Das „aging male syndrome“ ist mehr als ein altersbedingter Hormonmangel – es ist ein komplexes Zusammenspiel aus endokrinen, metabolischen und psychosozialen Faktoren. Gerade in der hausärztlichen Versorgung sind eine frühzeitige Erkennung und strukturierte Begleitung entscheidend. Durch differenzierte Diagnostik, gezielte Lebensstilinterventionen und – bei gegebener Indikation – eine gut überwachte Testosterontherapie lassen sich Lebensqualität und Gesundheitsstatus vieler betroffener Männer deutlich verbessern. Vorsorgeuntersuchungen und Check-ups können aktiv genutzt werden, um Männer ab 45 zu sensibilisieren – auch ohne initiale Beschwerdesymptomatik. Die Hausarztpraxis ist damit ein zentraler Ort, an dem Männer altersbedingte Veränderungen nicht nur thematisieren, sondern auch aktiv gestalten können.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
C. Würnschimmel, S. Bütikofer und L. Zahiti geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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