Hintergrund
Transidentität beschreibt ein Geschlechtsempfinden, das die heteronormative, geschlechtsbinäre Grundhaltung überschreitet, und umfasst Personen, die sich ihrem biologischen Geschlecht nicht bzw. nur teilweise zugehörig fühlen, sei es, dass das entgegengesetzte Geschlecht empfunden wird (Frau-zu-Mann/female-to-male [FzM]; Mann-zu-Frau/male-to-female [MzF]) oder eine Geschlechtskategorisierung ganz abgelehnt wird. Weltweit findet man einen Zuwachs an nichtgeschlechtskonformen/nichtbinären Lebensweisen, was unter anderem auf gesellschaftliche Veränderungen und individuellen Wertewandel, öffentliche und mediale Präsenz des Themas und Information zu Behandlungsmöglichkeiten zurückgeführt werden kann [
1‐
3]. Transidente Personen betrachten sich selbst nicht als krank, leiden aber an Problemen im Zusammenhang mit der sozialen Akzeptanz ihres Andersseins. Entsprechend wurde in der fünften Ausgabe des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ der American Psychiatric Society (DSM 5) die Diagnose „Geschlechtsidentitätsstörung“ durch „Geschlechtsdysphorie“ (302.85) ersetzt, um das Leiden verbunden mit dem Anderssein – und nicht mehr das Geschlechtsempfinden selbst – als pathologisch relevant zu klassifizieren. Eine diagnostische Kodierung ist andererseits eine prinzipielle Voraussetzung, damit medizinische Leistungen beansprucht werden können. Ähnlich soll in der geplanten Neuauflage des ICD (ICD-11) die Diagnose „Transsexualität“ aus der Kategorie „Psychische und Verhaltensstörungen“ entfernt und unter dem Begriff „gender incongruence“ in eine neu geschaffene Kategorie aufgenommen werden („Conditions related to sexual health“) [
4].
Die Wahl, in welchem Geschlecht man leben will, ist als Grundrecht anerkannt. In Österreich ist seit 2009 die Personenstandsänderung auch ohne bzw. vor der Durchführung von geschlechtsangleichenden Maßnahmen möglich. Die bisherige Regelung bezüglich somatischer Behandlung (Hormontherapie, geschlechtsangleichende Operation) ab 18 Jahren nach durchlaufender Pubertät führte v. a. bei MzF-Personen zu einer „Stigmatisierung“ durch Körpergröße, männlichen Habitus, tiefe Stimme und Bartwuchs. Eine Reihe zusätzlicher medizinischer Maßnahmen wie logopädische Anhebung der Sprechstimme bis hin zu operativer Verkürzung der Stimmlippen, Mamma-Augmentationsplastik, Laserepilation, gesichtschirurgische Eingriffe etc. wurden in der Folge angestrebt [
5].
Transidentität kann sich bereits im Kindesalter entwickeln. Diagnostisches Merkmal im präpubertären Alter ist, nach Ausschluss einer Variante der Geschlechtsentwicklung oder einer ursächlichen, psychiatrisch relevanten Störung, die über 6 Monate aufgetretene Überzeugung, dem anderen Geschlecht anzugehören, verbunden mit gegengeschlechtlichen stereotypen Verhaltensweisen in Bezug auf Kleidung, Spielzeug, Spielverhalten und Freundeskreis. Bei FzM bestehen eine Abneigung, in sitzender Position zu urinieren, eine Brust oder Menstruation zu entwickeln und der Wunsch, einen Penis zu besitzen. Bei MzF besteht die Überzeugung, als Frau aufzuwachsen, und wird das eigene Genitale abgelehnt oder abstoßend empfunden [
1]. Kriterien für persistierende Transidentität sind bisher nicht klar definiert, doch haben ein früher Zeitpunkt und eine starke Ausprägung sowie das Gefühl, sich im anderen Geschlecht zu „fühlen“ (und nicht nur, es zu „wünschen“), einen prädiktiven Wert [
3]. Maßgebliche Bedeutung besitzt die Zunahme der Geschlechtsdysphorie im Rahmen der beginnenden Pubertät mit den – unerwünschten – hormonellen und körperlichen Veränderungen. In dieser Phase können eventuell vorbestehende psychiatrische Beeinträchtigungen verstärkt hervortreten. Die Rate an Depressionen, Angststörungen, Verhaltensstörungen und selbstverletzenden Aktivitäten bis hin zu Suizid ist signifikant erhöht und wird in unterschiedlichen Studien zwischen 30 und 75 % angegeben (im Vergleich zu etwa 8 % bei der Allgemeinbevölkerung) [
6‐
9]. Die Pubertät muss jedenfalls abgewartet werden, bevor die Diagnose einer voraussichtlich bleibenden Transidentität gestellt werden kann.
Nachdem nun in einigen Ländern, allen voran in den Niederlanden und Kanada, bereits seit den späteren 1990er-Jahren positive Erfahrungen mit der pubertätsarretierenden und gegengeschlechtlichen Behandlung von transidenten Jugendlichen gemacht wurden, hat die Endocrine Society 2009 „Clinical practice guidelines“ publiziert, die im Einklang mit den „Standards of Care“ der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) unter der Voraussetzung einer stringenten psychiatrisch-psychologischen Diagnostik eine frühzeitige hormonelle Behandlung unterstützen [
10,
11]. Geschlechtsangleichende Operationen sollen weiterhin Patienten >18 Jahren vorbehalten bleiben.
Entwicklung des psychologischen Geschlechts/Epidemiologie von Transidentität
Neben dem biologischen Geschlecht zählen Geschlechtsidentität (subjektives Geschlechtsempfinden), Geschlechtsrolle (gelebtes/soziales Geschlecht) und sexuelle Orientierung (Ebene der Partnerwahl) zu den Dimensionen, die Geschlecht ausmachen und sich wechselseitig beeinflussen. Bei transidenten Personen findet man eine variable, je eigene Ausprägung des Geschlechtsausdrucks, die in den einzelnen Dimensionen bezogen auf Heteronormativität Inkongruenzen aufweist [
1].
Geschlechtsidentität bzw. Geschlechtsrollenverhalten beginnt sich bereits ab dem Alter von etwa drei Jahren zu entwickeln. Das Bewusstsein der konstanten Zugehörigkeit zu einem Geschlecht hat sich mit etwa sechs Jahren ausgeprägt. Im Verlauf der Kindheit kann es in einem niedrigen Prozentsatz vorübergehend zu nichtgeschlechtskonformem Verhalten bis hin zu transidentem Geschlechtserleben kommen. Allerdings sistiert bei der Mehrzahl dieser Kinder spätestens ab dem Zeitpunkt der Pubertätsentwicklung die Symptomatik, wobei später signifikant häufiger eine homo- oder bisexuelle Orientierung auftritt. Eine bleibende Transidentität wird bei weniger als 20 % dieser Kinder beobachtet [
1‐
3]. Sie lässt sich aufgrund einer zunehmenden Geschlechtsdysphorie ab einem Alter von 10–13 Jahren mit den beginnenden hormonellen und körperlichen Veränderungen im Rahmen der Pubertät abschätzen. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit von bleibender Transidentität größer, wenn das Bewusstsein, dem anderen Geschlecht anzugehören, ab diesem Alter oder im Verlauf der Pubertät entwickelt wird [
2,
12]. Früher erhobene Zahlen zur Inzidenz (bei Erwachsenen) dürften durch die Schwierigkeit der systematischen Erfassung, d. h. durch einen „selection bias“ hinsichtlich derjenigen Personen, die medizinische Versorgung bzw. Einrichtungen beansprucht haben, eine starke Unterschätzung des tatsächlichen Auftretens von nichtbinärer Geschlechtsidentität in der Gesellschaft darstellen [
13]. Das Vorkommen bei Jugendlichen ist erst in den letzten Jahren untersucht worden. In einer rezenten neuseeländischen Studie gaben beispielsweise 1,2 % von ca. 8000 Schülern der Sekundarstufe an, transident zu empfinden [
14]. Eine vergleichbare Rate (1,3 %) fand sich in einem Kollektiv von ca. 700 Oberstufenschülern in Finnland [
15]. Neben der allgemeinen Zunahme in den letzten Jahren hat sich auch ein Wandel im Geschlechtsverhältnis gezeigt. Während früher ein Überwiegen von MzF-Kindern und -Jugendlichen zu verzeichnen war, hat sich in der letzten Dekade dieses Verhältnis umgekehrt (MzF zu FzM: 1 zu 1,2) [
7,
16].
Ursachen
Bisher ist die Ätiologie hinsichtlich Entstehung von Transidentität nicht geklärt. Ursachenforschung auf neurobiologischer, lerntheoretischer und psychodynamischer Ebene [
17] (Übersicht in [
1]) haben keinen einheitlichen Entstehungsmechanismus aufdecken können. Nicht näher definierte genetische Faktoren dürften eine gewisse Rolle spielen und lassen sich aus Zwillingsstudien ableiten (39 % Konkordanz von Transidentität) [
18]. Funktionelle und morphometrische MRI-Untersuchungen weisen auf eine unterschiedliche Prägung bestimmter geschlechtsdimorpher Hirnregionen hin [
19]. Ein möglicher pränataler Einfluss von veränderten Androgenspiegeln wurde diskutiert und unter anderem mit der deutlich erhöhten Rate von assoziierten Autismus-Spektrum-Störungen in einen Zusammenhang gebracht [
20,
21].
„Gender-Team“/therapeutische Begleitung
Die Diagnosestellung obliegt dem „Gender-Team“, bestehend aus Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychologe und Psychotherapeut. Dafür wurden spezielle Fragebögen zur Erfassung von Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen entwickelt [
22,
23]. Psychiater stellen gemeinsam mit Psychologen und Psychotherapeuten letztlich auch die Indikation für eine Hormontherapie. Ebenso beraten sie bezüglich Zeitpunkt der Vornamens- und Personenstandsänderung, die mit entsprechenden Gutachten bereits in diesem Alter vorgenommen werden kann. Die Aufgabe des pädiatrischen Endokrinologen besteht einerseits im Ausschluss einer Variante der Geschlechtsentwicklung und andererseits in der Evaluierung von Risikofaktoren für eine spätere Hormontherapie. Weiters geht es um die Beurteilung der Pubertätsentwicklung, Zeitpunkt des Therapiebeginns und klinisches, hormonelles und metabolisches Monitoring unter Therapie. Vor jedem Behandlungsschritt findet eine interdisziplinäre Fallkonferenz aller beteiligten Fachpersonen statt, sodass die Indikation zur Behandlung mit GnRH-Analoga bzw. Sexualsteroiden jeweils gemeinsam im Konsens gestellt wird. Bei Kindern bzw. Jugendlichen vor Pubertätseintritt steht die psychologische Begleitung im Vordergrund, die ergebnisoffen sein sollte ohne negatives Urteil über das Wunschgeschlecht. Wesentlich ist die Einbeziehung und Unterstützung der gesamten Familie [
1,
24].
Offene Fragen/neue Forschungsfelder
Die Entwicklung unserer „offenen“ Gesellschaft – in der vorliegenden Fragestellung: von nichtbinären Lebensweisen – schreitet voran. Demgegenüber gibt es erst wenig Erfahrung zu mittel- und langfristigen Effekten einer hormonellen Therapie von transidenten Jugendlichen. Die Behandlung wird zunehmend häufig eingesetzt. Neben dem dringenden Bedarf an prospektiven Langzeitstudien tun sich naturgemäß kontinuierlich neue Entwicklungen auf, die in der Forschung künftig berücksichtigt werden müssen. Dazu zählen Untersuchungen zur zunehmenden Prävalenz, insbesondere die in den letzten Jahren signifikant häufigere FzM-Inzidenz, zum Einfluss von Medien, zu Prädiktoren für die Persistenz von Transidentität im Kindesalter, Untersuchungen des sozialen Umfelds, Auswirkungen einer frühen sozialen Transition in das Gegengeschlecht und letztlich eine Revision bzw. Adaptierung der Thematik an die zunehmende Diversität von nichtbinären Lebensweisen.
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