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Ärzte Woche

31.01.2022

Mährische Moderne

verfasst von: Petra Matová

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Vor 20 Jahren wurde das einstige Hochzeitsgeschenk für die Unternehmertochter Grete Löw-Beer in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen. Grund genug, dem ArchitekturJuwel in Brünn einen Besuch abzustatten.

Der jüdisch-deutsche Unternehmer Alfred Löw-Beer widmete seiner Tochter Grete zu ihrer Hochzeit mit Fritz Tugendhat ein ziemlich großes Grundstück. Es ist südlich orientiert und eröffnet einen einzigartigen Ausblick auf die zweitgrößte tschechische Stadt, Brno/Brünn. Löw-Beer, der zu dieser Zeit Eigentümer von mehreren Fabriken war, finanzierte den Bau der Villa Tugendhat.

Gebaut wurde nach Plänen von Mies van der Rohe. Grete lernte seine Arbeiten Ende der zwanziger Jahre in Deutschland kennen. Die Tugendhats boten dem Architekten ideale Bedingungen an. Das Budget war praktisch unbegrenzt, die Baukosten beliefen sich auf 5 Millionen tschechische Kronen, damals eine unglaublich hohe Summe. Ludwig Mies van der Rohe konnte so seine eigene Auffassung von Architektur umsetzen. Es entstanden großzügige Lösungen wie die berühmte Onyxwand in der Villa ( Anm.: „Onyxmarmor“ ist ein spezieller Kalkstein ).

Die Vorstellung des Ehepaars war ein geräumiges modernes Haus mit klaren und einfachen Formen. Das Prinzip von Mies, „weniger ist mehr“, passte. Obwohl seine Anfänge noch dem Neoklassizismus verpflichtet waren, entwarf Mies in den 1920er-Jahren schon Pläne, die in Richtung Funktionalismus gingen. Der vereinfachte Ausdruck bedeutete nicht billige Konzeption. Mies van der Rohe erklärte dem Paar seine Auffassung von moderner Architektur: Für die Bauten, die praktisch keine Verzierungen und Ornamente hatten, sollten ausschließlich hochwertige und dauerhafte Materialien benutzt werden.

Im September 1928 sah Mies erstmals das Bau-Grundstück und war von der Lage begeistert. In den kommenden Monaten entstand das Projekt, das der Kreative mehrmals überarbeitete, ehe man im Juni 1929 daranging, das Gelände zu bearbeiten. Im November 1930 war das Haus bezugsfertig. Im Dezember zog man ein.

Die Villa steht in der č ernopolní 45 und ist, von der Straßenseite betrachtet, unauffällig. Auf der Straßenebene befinden sich die Schlafzimmer des Herrn und der Dame des Hauses, zwei Kinderschlafzimmer, das Schlafzimmer der Erzieherin und zwei Badezimmer. Alle Schlafzimmer – außer das Zimmer der Erzieherin – haben einen Zugang auf die obere Terrasse. Für Mies war es wichtig, dass die Reinheit des Konzepts durch raumhohe Türen betont wird. Ebenfalls an der Straßenseite liegt rechterhand die Garage und eine kleine Wohnung für den Hausverwalter. Am Boden des Foyers und im Flur wurden Travertinfliesen benutzt.

Die Wendeltreppe, ebenfalls in Travertin ausgeführt, leitet hinunter in den Wohnbereich. Dieser mehr als 250 m² umfassende Hausteil ist folgendermaßen gegliedert: Wartefoyer für Besucher, Musikecke mit Klavier, Arbeitsraum mit Arbeitstisch, Bibliothek und Sitzecke, Wintergarten mit Pflanzen. Typisch für die Villa sind zwei Bereiche, deren Trennung von dem Hauptraum zu ihrer Einzigartigkeit beiträgt: der Sitzbereich, der durch die fünfteilige Onyxwand vom Arbeitsraum getrennt ist, und schließlich der Essraum, den eine Trennwand aus seltenem Makassar-Holz begrenzt. Der für die erste Wand benutzte Onyx kommt aus Marokko. Die Makassarwand hielten die Experten lange für verloren. Vor einiger Zeit wurde die Wand in der Mensa der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Brünn wiedergefunden. Raumhohe gläserne Außenwände des Hauptraumes öffnen den Blick nach Süden und Osten, zwei Fenstergläser auf der Gartenseite lassen sich mithilfe von Motoren ganz versenken, wodurch die Verbindung des Inneren mit dem Äußeren fast vollständig ist. Für den Boden des Wohnraumes wurde elfenbeinweißes Linoleum benutzt. Einige Teppiche stammen aus dem Eigentum der Familie, andere – der weiße Teppich im Sitzbereich – wurden für die Villa entworfen.

Das Bauwerk, eine dreigeschossige Stahlkonstruktion, war technisch auf dem höchsten Stand der Zeit. Es verfügte über Zentralheizung und Kühlsystem. Die Familie bewohnte die Villa bis 1938. Dann entschieden die jüdischen Fabrikantenfamilien Löw-Beer und Tugendhat, in die Schweiz zu emigrieren. Von dort gingen sie nach Venezuela. Alfred Löw-Beer blieb als Einziger in Brünn, wo er 1939 unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Die Tugendhat-Kinder erlangten Berühmtheit. Ernst, Jahrgang 1930, wurde Philosophie-Professor, Daniela, geboren 1946, Kunsthistorikerin.

Villa Tugendhat, Brno  Ausstellung "Interpretation 7", bis 6. Februar

Weitere Informationen:

www.tugendhat.eu




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Metadaten
Titel
Mährische Moderne
Publikationsdatum
31.01.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 5/2022

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