Z Sex Forsch 2005; 18(3): 273-279
DOI: 10.1055/s-2005-836929
Dokumentation

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Unbursch - Option Frau-Sein als Ausweg aus gescheiterter Männlichkeit?[1]

Sophinette Becker1
  • 1Institut für Sexualwissenschaft, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität, Frankfurt am Main
Further Information

Publication History

Publication Date:
12 October 2005 (online)

In den vergangenen Jahren war ich mehrfach in Wien, um PsychotherapeutInnen zu supervidieren, die geschlechtsidentitätsgestörte PatientInnen mit Wunsch nach hormoneller und operativer „Geschlechtsumwandlung” behandeln. Letztes Jahr stellten die KollegInnen eine traurige Männergestalt nach der anderen vor. All diese Männer begehrten heftig und mit enormem Druck somatische Maßnahmen. Die Stimmung in der Gruppe wurde immer depressiver, weil bei allen Patienten der transsexuelle Weg mit wenig Hoffnung verbunden wurde. Jedes Mal, wenn ich fragte: „Erleben Sie ihn denn, zumindest manchmal, als Frau?”, kam fast stereotyp die gequälte Antwort: „Ja, er ist halt schon arg ein Unbursch” („Bursch” ist die österreichische Bezeichnung für „junger Mann”). Und wir überlegten dann, ob es eine Art Quantensprung zwischen Unbursch/Unmännlichkeit/Nicht-Mann-sein-Wollen oder -Können/„gender dysphoria” und Frau-Sein geben kann. Was beinhaltet diese Illusion? Ein Beispiel: Ein seelisch und körperlich schwer traumatisierter, sehr behaarter, unattraktiv wirkender Patient hatte folgende Phantasie: „Ich stehe auf einer Bühne, entdecke plötzlich an meinem Hals einen Reißverschluss und ziehe ihn ganz runter. Wie ein Kostüm fällt das ganze Fell ab, ich steige raus als Frau.” Oder anders gefragt: Was macht Frau-Sein als narzisstische Projektionsfläche für geschlechtsidentitätsgestörte Männer so erstrebenswert (Tab. [1])?

Tab. 1 Inhalte der narzisstischen Projektionsfläche „Frau-Sein” - um seiner selbst willen geliebt und anerkannt/bewundert werden - versorgt und geliebt werden ohne Gegenleistung - makellos und intakt sein (unkastriert und unkastrierbar) - keine Destruktivität in sich fühlen und dennoch machtvoll sein

Mein Thema sind Männer mit jener transsexuellen Entwicklung, die im DSM-IV als „Hauptverlaufsform 2” beschrieben wird, also diejenigen, bei denen sich der transsexuelle Wunsch erst spät manifestiert, diejenigen mit heterosexueller Erfahrung und einer transvestitischen Vorgeschichte (Tab. [2])[2]. Über sie möchte ich deshalb sprechen, weil sie nicht selten eine Psychotherapie beginnen, bevor der transsexuelle Wunsch sich organisiert hat - allerdings ohne dort ihre Geschlechtsidentitätsstörung zu thematisieren. In der Literatur zur Transsexualität gelten sie als für somatische Maßnahmen tendenziell ungeeignet. Sie machen aber schon lange die Mehrheit der Männer mit transsexuellem Wunsch und auch der operierten Mann-zu-Frau-Transsexuellen aus.

Tab. 2 Hauptverlaufsformen transsexueller Entwicklungen bei biologischen Männern Gruppe 1„early onset” Gruppe 2„late onset” kontinuierliche Manifestation der Geschlechtsidentitätsstörung ab dem Kindesalter bzw. ab der frühen Adoleszenz Manifestation des Zugehörigkeitsgefühls zum weiblichen Geschlecht später und eher graduell, z. T. wechselhafter frühes offenes Cross-Dressing heimliches Cross-Dressing, z. T. schon vor der Pubertät Erstvorstellung in der späten Adoleszenz bzw. im jungen Erwachsenenalter Erstvorstellung meist erst im Erwachsenenalter, z. T. erst in der Lebensmitte sexuell orientiert auf Männer- sexuelle Erfahrungen mit Jungen/Männern; z. T. zunächst Selbstdefinition (Coming-out) als homosexuell- keine sexuelle Erfahrungen mit Jungen/Männern, zu keiner Zeit Selbstdefinition als homosexuell sexuell orientiert auf Frauen (gynäphil)und/odersexuell orientiert auf die Vorstellung von sich selbst als Frau (automonosexuell/autogynäphil) transvestitischer Fetischismus in der Vorgeschichte:- ausschließlich- zusätzlich andere Perversion (Masochismus) oft verheiratet/in fester Partnerschaft, oft Kinder

Bei den Mann-zu-Frau-Transsexuellen (MF-TS) der Gruppe 1, die ihrerseits keineswegs homogen ist, kommt es zu einer frühen „Verwerfung”[*] des Männlichen. Diese wird zu einem festen Bestandteil der sich entwickelnden psychischen Struktur. Die spätere Organisation des transsexuellen Wunsches bei den MF-TS der Gruppe 2 (ver-)führt leicht dazu, zwei Tatsachen zu übersehen: Zum einen sind auch diese Patienten schon lange und tief greifend in ihrer Geschlechtsidentität gestört; zum anderen besteht bei vielen ebenfalls schon lange eine ausgeprägte feminine Identifikation, die sich jedoch nie als feminines Verhalten zeigte[*]. Diese MF-TS entwickelten schon als Kind die tröstende Phantasie eines Lebens als Mädchen, das sie sich als leichter und vor allem als mit mehr Anerkennung und Zuwendung verbunden vorstellten. Dennoch gibt es in ihrer Entwicklung, da das Männliche nicht so früh verworfen wurde, mehr Gefühle von beschädigter oder unzulänglicher Männlichkeit im Sinne der Kastrationsangst („Als Mann bin ich tot, ein Nichts, ein Troll - als Frau bin ich wer”). Später tragen sie mehr innere Kämpfe mit dem Männlichen in sich selbst aus („Ich habe Angst vor zu viel Männlichkeit in mir, ich bin doch nicht Adolf Hitler”). Hinzu kommt oft eine Sexualisierung des narzisstischen Mangels, weshalb ihr Auftreten als Frau manchmal grotesk und unangenehm sexualisierend wirkt.

Die meisten dieser MF-TS sind sexuell auf Frauen und auf die Vorstellung von sich selbst als Frau orientiert, wobei sich das spezifische Mischungsverhältnis der beiden Komponenten im Verlauf der Entwicklung teilweise mehrfach ändert. Nur eine kleinere Untergruppe ist immer schon ausschließlich autogynäphil orientiert gewesen, wobei autogynäphil eine Fetischisierung des als weiblich vorgestellten eigenen Körpers bedeutet. Solche MF-TS wünschen sich oft eine Karriere als Model, als Alternative wählen manche die Prostitution („Hundert Männer können sich nicht irren”).

Bei nicht wenigen late onset-MF-TS besteht neben dem transvestitischen Fetischismus eine weitere Perversion, häufig Masochismus; andere Perversionen sind seltener. Bei den masochistischen Wünschen geht es meistens stärker um devotes Verhalten als um Schmerz. Viele Patienten verschweigen ihre masochistischen Neigungen gegenüber den ExpertInnen, aus Angst, womöglich nicht als „wirklich transsexuell” eingestuft zu werden. Sie tauschen sich darüber jedoch in Selbsthilfegruppen und im Internet aus. Manche realisieren ihre masochistischen Phantasien mit Prostituierten, anfangs als submissiver Mann, später in den entsprechenden Frauenrollen. Bei manchen sistiert der Drang zu masochistischen Praktiken mit zunehmendem Cross-Dressing in der Öffentlichkeit bzw. unter hormoneller Behandlung (Tab. [3]).

Tab. 3 Operationswunsch, katamnestische Ergebnisse und psychosexuelles/psychodynamisches Kontinuum bei den zwei Hauptverlaufsformen transsexueller Entwicklungen Gruppe 1„early onset” Gruppe 2„late onset” Operationswunsch: entschiedener gegenüber „geschlechtsumwandelnden” Operationen Operationswunsch: weniger entschieden gegenüber „geschlechtsumwandelnden” Operationen (gerade deshalb dann oft abrupter Entschluss dazu) Katamnese: häufiger zufrieden nach einer operativen „Geschlechtsumwandlung” Katamnese: häufiger unzufrieden nach einer operativen „Geschlechtsumwandlung” Psychosexuelles/psychodynamisches Kontinuum: zwischen konflikthafter Homosexualität und Homosexualität bei konflikthafter Männlichkeit Psychosexuelles/psychodynamisches Kontinuum: zwischen gescheiterter/verletzter/brüchiger/unsicherer Männlichkeit (bzw. gescheiterter Integration männlicher und weiblicher Selbstanteile) und einer nicht zu sich gekommenen (nicht tragfähig organisierten/nicht ausreichend als narzisstische Plombe funktionierenden/entgleisten) Perversion

Viele der MF-TS der Gruppe 2 formulieren beim erstmaligen Aufsuchen eines Psychotherapeuten ihr Anliegen so: „Ich brauche Hilfe bei einer wichtigen Entscheidung. Der transsexuelle Weg ist vielleicht eine Wahnsinnsidee, ich würde mich gern in meinem männlichen Körper wohler fühlen.” Einige Monate oder auch Jahre später berichten dieselben Patienten anderenorts oft geradlinige transsexuelle Entwicklungen. Levine, einer der erfahrensten Transsexualitätsforscher, hat die katamnestischen Ergebnisse so zusammengefasst: „The majority of males who undergo sex reassignment surgery were once transvestites. The majority of males who regret having had sex reassignment surgery were once transvestites” ([2] S. 133).

Bei einem Teil der Patienten dominiert ein radikaler Dualismus von Männlichkeit und Weiblichkeit. Beide werden als nicht miteinander zu versöhnende Anteile der eigenen Person erlebt, die einander auszulöschen versuchen. Diese unauflösbare Ambivalenz zwischen Mann-Sein-Wollen und Frau-Sein-Wollen zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben und bleibt häufig auch dann bestehen, wenn sich die transsexuelle Symptomatik organisiert hat. Es drängt diese Patienten immmer wieder nach geschlechtlicher Eindeutigkeit; sobald sie diese jedoch zu realisieren beginnen, reagiert der andere Teil in ihnen mit Vernichtungsangst.

1 Überarbeitete Fassung des auf der 2. Klinischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 24. bis 26. September 2004 in Münster gehaltenen Vortrags.

Literatur

  • 1 Becker S. Geschlechtsidentitätsstörung/Transsexualität. In: Kockott G, Fahrner EM (Hrsg). Sexualstörungen. Thieme Verlag, Stuttgart und New York 2004; 153-201
  • 2 Levine S B. Gender-disturbed males.  J Sex Marital Ther. 1993;  19 131-141
  • 3 Schwöbel G. Ein transvestitischer Mensch, die Bedeutung seiner Störungen und sein Wandel in der Psychoanalyse.  Schweiz Arch Neurol Psychiat. 1969;  86 358-382

1 Überarbeitete Fassung des auf der 2. Klinischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 24. bis 26. September 2004 in Münster gehaltenen Vortrags.

2 Für eine ausführliche Schilderung der beiden Hauptverlaufsformen transsexueller Entwicklungen bei biologischen Männern vgl. [1].

3 In der französischen Psychoanalyse wird mit „Verwerfung” („forclusion”) eine besonders radikale Form der Kombination von Verleugnung und Abspaltung bezeichnet.

4 Dagegen verhalten sich manche homosexuelle Männer, die niemals Zweifel an ihrer männlichen Identität hatten, feminin bis effeminiert.

5 Diese finden sich allerdings auch bei vielen Patienten mit einer Perversion, was bei der Schnittmenge der beiden Patientengruppen nicht verwundert.

6 Vgl. die These von Schwöbel [3], dass dem transsexuellen Wunsch bei Männern nicht zu viel, sondern zu wenig Weiblichkeit zugrunde liege.

Dipl.-Psych. S. Becker

Institut für Sexualwissenschaft · Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität

Theodor-Stern-Kai 7

60590 Frankfurt am Main

Email: sophinette.becker@em.uni-frankfurt.de

    >