Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(9): 453-456
DOI: 10.1055/s-2004-820068
Ethik in der Medizin

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Patientenautonomie - eine kritische Begriffsbestimmung

Patient autonomy - a critical analysisL. S. Geisler
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eingereicht: 31.7.2003

akzeptiert: 7.11.2003

Publication Date:
17 February 2004 (online)

Von seinen Wurzeln her ist ärztliches und pflegerisches Ethos ein Ethos der Fürsorge. Fürsorge findet ihren Grund in der Natur des Menschen: in seinem Angewiesensein auf die Zuwendung anderer. Im Hippokratischen Eid finden sich bereits zwei der vier Prinzipien der modernen Prinzipienethik, nämlich beneficence und nonmaleficence, Autonomie hingegen kommt nicht vor.

Die Auffassung von Autonomie als Selbstbestimmung des Menschen wurzelt in der Aufklärung. Im Sinne der Philosophie Immanuel Kants macht die Autonomie des Menschen als Willensfreiheit diesen erst zur Person. Kant erblickte in der Autonomie „den Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur”.

Nicht zuletzt aus der Erfahrung des Missbrauchs ärztlichen Handelns im Nationalsozialismus und dem daraus erwachsenen Nürnberger Kodex von 1947 bindet die ärztliche Berufsethik jede medizinische Intervention an die Zustimmung des autonomen Patienten nach Aufklärung (informed consent). Im Belmont Report, der 1978 in den USA vor allem zum Schutz von Probanden in der biomedizinischen Forschung entworfen wurde, werden die Prinzipien des Respekts vor Personen, der Fürsorge und der Gerechtigkeit bereits als normative Bezugspunkte herangezogen.

Die 1979 von Tom L. Beauchamp und James F. Childress in den Principles of Biomedical Ethics [2] formulierten vier Prinzipien der Achtung der Autonomie, des Nicht-Schadens, des Wohltuens und der Gerechtigkeit haben in der Folgezeit die Diskussion in der Bio- und Medizinethik wesentlich geprägt. Ursprünglich wurde dem Autonomieprinzip von den Autoren in einer hierarchischen Ordnung der Vorrang zugemessen. Später haben sie eine Gleichrangigkeit der Prinzipien eingeräumt.

Die Prinzipienethik von Beauchamp und Childress ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Man hat ihr einen mangelhaften Begründungsfundus vorgeworfen und sie im Sinne eines gemäßigten Intuitionismus interpretiert. Eigentlich handle es sich nur um ein „mantra of principles”. Die komplexen und differenzierten Sachverhalte in der biomedizinischen Ethik ließen sich mit einer starren Hierarchie von Prinzipien nicht bewältigen, da sie zu unangemessenen Vereinfachungen führten.

Literatur

  • 1 Agich G J. Autonomy and Long Term Care. „Autonomy, as it concretely emerges in the practical world of everyday life as opposed to the ideal world of theory, necessarily involves processes of interpretation and negotiation”. Oxford University Press, Incorporated 1993
  • 2 Beauchamp T L, Childress J F. Principles of Biomedical Ethics. 5th ed Oxford University Press. New York 2001
  • 3 Beckmann J P. Patientenverfügungen: Autonomie und Selbstbestimmung vor dem Hintergrund eines im Wandel begriffenen Arzt-Patient-Verhältnisses.  Zeitschrift für medizinische Ethik. 1998;  44 143-156
  • 4 Benner P. Caring as a Way of Knowing and Not Knowing,. Washington D.C in: Phillips S S, Benner P: (Hrsg): The Crisis of Care. Affirming and Restoring Care Practices in the Helping Professions 1994: 42-144
  • 5 Biller-Andorno N. Gerechtigkeit und Fürsorge. Zur Möglichkeit einer integrativen Medizinethik. Frankfurt/Main 2001
  • 6 Boppert M. Patientenautonomie und Pflege. Frankfurt/Main 2002
  • 7 Emanuel E J, Emanuel L L. Four Models of the Physician-Patient Relationship.  JAMA. 1992;  267 221-226
  • 8 Dierks M L, Bitzer E M. Patientenerwartungen und Patientenzufriedenheit. Unpublished report. Hannover Zit. in: The European Patient Of The Future. Ed. by A. Coulter and H. Magee. Maidenhead -Philadelphia. 2003, S. 55 1997
  • 9 Gilligan C. Moralische Orientierung und moralische Entwicklung. München dtv In: Nunner-Winkler, G (Hrsg): Weibliche Moral. Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik 1995: 79-100
  • 10 Isfort J, Floer B, Koneczny N, Vollmar H C, Butzlaff M. „Shared Decision Making”. Arzt oder Patient - Wer entscheidet?.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 2021-2024
  • 11 Joffe S, Manocchia M, Weeks J C, Cleary P D. What do patients value in their hospital care? An empirical perspective on autonomy centered bioethics.  J Med Ethics. 2003;  29 103-108
  • 12 Rehbock Th. Autonomie - Fürsorge - Paternalismus.  Ethik Med. 2002;  14 131-150

Prof. Dr. L. S. Geisler

Bloomsweg 8

45964 Gladbeck

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