Zeitschrift für Palliativmedizin 2016; 17(04): 177-195
DOI: 10.1055/s-0042-110711
Fort- und Weiterbildung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Behandlung im Voraus planen (Advance Care Planning): ein neues Konzept zur Realisierung wirksamer Patientenverfügungen

Advance Care Planning: A New Concept to Realise Effective Advance Directives
J. in der Schmitten
1   Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinik Düsseldorf
,
F. Nauck
2   Klinik für Palliativmedizin, Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen
,
G. Marckmann
3   Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität, München
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Publication Date:
13 July 2016 (online)

Zusammenfassung

Advance Care Planning – deutsch: Behandlung im Voraus planen (BVP) – etabliert sich inzwischen auch in Deutschland als ein neues Konzept zur Realisierung wirksamer Patientenverfügungen. Dabei erhalten Interessenten zum einen im Rahmen eines professionell begleiteten Gesprächsprozesses Gelegenheit, eigene Präferenzen für künftige medizinische Behandlungen bei Einwilligungsunfähigkeit zu entwickeln und aussagekräftig zu dokumentieren. Zum anderen werden die relevanten regionalen Institutionen und Versorgungsstrukturen in einem systematischen Ansatz (Change Management) beteiligt, sodass die Vorausverfügungen regelmäßig verfügbar sind und zuverlässig beachtet werden.

Der Artikel erläutert zunächst das ethische Fundament von BVP und warum dieses neue Konzept notwendig ist, erklärt das BVP-Grundkonzept und referiert wichtige internationale Entwicklungen in diesem Bereich. Sodann werden die einzelnen Elemente eines BVP-Programms vorgestellt und die Inhalte der Vorausplanungsgespräche erläutert, unter besonderer Berücksichtigung der Vorausplanung für akute medizinische Notfälle und für zum Planungszeitpunkt nicht einwilligungsfähige Personen. Der Beitrag schließt mit Hinweisen zur regionalen Implementierung und zum neuen § 132 g SGB V, der – voraussichtlich ab 2017 – die Implementierung von BVP-Angeboten in stationären Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zulasten der GKV vorsieht.

Abstract

Advance Care Planning (ACP) is now also established in Germany as a new concept to realise effective advance directives. Accordingly, individuals are regularly invited to develop and document their preferences for possible future medical care in a professionally facilitated communication process. At the same time, all relevant health care institutions and lead actors are invited in a systematic regional approach (change management) to participate, to inform and train staff at various levels, and to implement the necessary structures so that the resulting care plans are reliably available and respected.

This paper outlines the ethical foundations of ACP and why this new approach became necessary, explains its basic concept, and reports major international ACP developments. The required elements of an ACP program and the contents of the facilitated communication process are presented in detail. Advance planning for emergency situations is covered as well as planning for individuals who have no decision-making capacity (ACP by proxy). The article closes with directions for the regional implementation of ACP programs, and an introduction into the new § 132 g (Social Code Book V) which effectuates, probably from 2017 on, reimbursement of chronic care institutions that participate in regional ACP programs and offer facilitated ACP to their residents.

Kernaussagen
  • Behandlung im Voraus planen (BVP) bzw. Advance Care Planning (ACP) verfolgt die übergreifende Zielsetzung, dass Patienten auch dann nach ihren individuellen Wünschen behandelt werden, wenn sie diese selbst nicht mehr äußern können.

  • Mit der konventionellen Herangehensweise an Patientenverfügungen ist dieses Ziel nicht zu erreichen: Diese sind nach wie vor zu wenig verbreitet, häufig nicht aussagekräftig formuliert und von fragwürdiger Validität, bei Bedarf oft nicht zur Hand, und sie bleiben vom Gesundheitspersonal oft unbeachtet.

  • Um die übergreifende Zielsetzung zu erreichen – effektive Wahrung der Patientenautonomie bei Verlust der Einwilligungsfähigkeit –, weisen BVP-Programme 2 konstitutive Elemente auf:

    • eine qualifizierte Gesprächsbegleitung im Sinne einer gemeinsamen Entscheidungsfindung und

    • eine regionale Implementierung.

  • Im Rahmen eines professionell begleiteten Gesprächsprozesses erhalten Menschen Gelegenheit, eigene Präferenzen für mögliche zukünftige medizinische Behandlungen bei Nichteinwilligungsfähigkeit zu entwickeln und auf aussagekräftigen Formularen zu dokumentieren.

  • Die in den regionalen Versorgungsstrukturen tätigen Personen werden so geschult bzw. informiert, dass die resultierenden Vorausverfügungen regelmäßig verfügbar sind und zuverlässig beachtet werden.

  • Internationale Studien belegen, dass mittels umfassender BVP-Programme nicht nur die Selbstbestimmung von Patienten in der letzten Lebensphase effektiv berücksichtigt, sondern auch die Qualität der Versorgung für Patienten und ihre Angehörigen verbessert werden kann.

  • Der neue § 132 g SGB V verschafft nun zunächst einmal den stationären Pflegeeinrichtungen Deutschlands sowie kooperierenden Institutionen und Akteuren die Möglichkeit, ihren Bewohnern eine BVP zulasten der Krankenkassen anzubieten.

Ergänzendes Material

 
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