Psychiatr Prax 2012; 39(07): 317-318
DOI: 10.1055/s-0032-1305113
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Psychiatrische Rehabilitation wird zu einem der Zukunftsthemen der Psychiatrie – Pro & Kontra

Psychiatric Rehabilitation will be a Future Topic for Psychiatry – Pro & Contra
Hans Joachim Salize
Further Information

Publication History

Publication Date:
08 October 2012 (online)

Kontra

Zoom Image
Hans Joachim Salize

Die Themen, die die psychiatrische Versorgungsdiskussion bestimmen, verlaufen in Zyklen. Welches Thema auf die Tagesordnung kommt, ist zum Teil nachvollziehbar, z. T. gehorcht dies aber auch unbekannten, manchmal irrational anmutenden Mechanismen. Wenn sich die Wogen um die Einführung der neuen Finanzierungsweise in der psychiatrischen Krankenhausversorgung – dem derzeitigen Hauptthema der Debatte – gelegt haben werden (was vermutlich noch einige Zeit braucht), ist es sehr gut möglich, dass die psychiatrische Rehabilitation das nächste große Thema werden wird. Wenn dies so kommt, wird es jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht im Sinne der Pro-Position dieser Kontroverse geschehen, sondern unter dem Vorzeichen, das bereits die Pflegesätze in der stationärpsychiatrischen Versorgung auf den Prüfstand gebracht hat: dem Zwang zur Kostendämpfung.

Angesichts knapper Budgets kann man eine solche Fokussierung durchaus nachvollziehen. Aus dieser Perspektive wird der entscheidende strategische Nachteil der psychiatrischen Rehabilitation jedoch der fehlende Nachweis ihrer Effektivität sein. In der Kostendebatte wird dies die psychiatrische Rehabilitation zwangsläufig noch weitaus stärker in die Defensive zwingen, als sie es derzeit schon ist.

Es ist nicht eindeutig definiert, was psychiatrische Rehabilitation eigentlich meint und welche Behandlungsmethoden und Versorgungsformen letztendlich dazugehören. Der Begriff umreißt vor allem den außerstationären und sog. komplementären Sektor und dessen Angebote. Vor der Psychiatriereform, d. h. noch in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts war dieser Sektor in Deutschland praktisch nicht existent. Nach mehr als 30-jährigem kontinuierlichem Ausbau ist er zu einem hoch differenzierten und spezialisierten System von Einrichtungen und Diensten geworden. Nach wie vor weisen die rehabilitativen Angebote jedoch eine hohe regionale Variabilität auf. Fundamentale strukturelle Unterschiede zwischen den Regionen – und nicht nur zwischen alten und neuen Bundesländern – sind in Deutschland die Regel.

Bereits die rein mengenmäßige Beschreibung der zur Regelversorgung gehörenden rehabilitativen Angebote für psychisch Kranke bereitet deshalb in Deutschland die größte Mühe. Es mangelt an leicht zugänglichen, validen und jährlich aktualisierten Platz- oder Einrichtungsziffern für zentrale Angebote wie Arbeitsrehabilitation, betreutes Wohnen oder Sozialpsychiatrische Dienste. Von Prozessdaten oder Ergebnisindikatoren ist ganz zu schweigen [1]. Diese Intransparenz ist ungewöhnlich für ein hoch organisiertes und bürokratisiertes Land wie Deutschland.

Aufgrund entsprechender Studien kann jedoch als weitgehend belegt gelten, dass der rehabilitative Sektor einen Großteil der jährlichen psychiatrischen Versorgungskosten verschlingt. Bei Patienten mit Schizophrenie liegt einschließlich der Kosten für das betreute Wohnen der Anteil zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der gesamten Versorgungskosten. Der Rest entfällt auf die stationär- und ambulant-psychiatrische sowie auf die medikamentöse Behandlung [2] [3]. Es braucht nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, dass dieser mehr als 50 %ige Kostenanteil sehr leicht und schnell ein Thema für die versorgungspolitische Diskussion und die Kostendämpfer werden kann.

Es ist dabei keineswegs so, dass ein Großteil der psychiatrischen Rehabilitationsmaßnahmen nicht notwendig wäre und diese möglicherweise auch effektiv sind. Für die Mehrheit der Patienten sind sie überaus segensreich. Nur kann man dies leider kaum mit großflächigen Forschungsdaten belegen.

Nachgewiesene Effektivität ist jedoch zunehmend der Maßstab, anhand dessen die Notwendigkeit von Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung gemessen wird. Institutionen wie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) haben den Auftrag, hierfür die notwendige Informationsbasis zu schaffen. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Gegenwärtig beschränken sich die Analysen des IQWIG noch weitgehend auf den Bereich der klinischen und pharmakologischen Therapien. Die Ausweitung der IQWIG-Aktivitäten auf rehabilitative Ansätze oder komplexere Versorgungsstrategien dürfte jedoch nur eine Frage der Zeit sein.

Wie bedrohlich die wachsende Bedeutung des Evidenzkriteriums für die psychiatrische Rehabilitation in ihrer gegenwärtigen Struktur sein kann, wird anhand jüngerer Erkenntnisse hinsichtlich solch zentraler psychiatrisch-rehabilitativer Säulen wie der Arbeitsrehabilitation deutlich. Untersuchungen des „Supported Employment“-Ansatzes weisen darauf hin, dass das der psychiatrischen Arbeitsrehabilitation zugrunde liegende Konzept des Trainings in beschützter Umgebung weit weniger effektiv sein könnte als die sofortige Platzierung psychisch Kranker auf dem ersten Arbeitsmarkt und dem der Platzierung folgenden „training on the job“ [4] [5]. Man kann sich leicht ausmalen, was es für etablierte Einrichtungen und Träger arbeitsrehabilitativer Maßnahmen bedeutet, sollten sich solche Erkenntnisse bestätigen und auf die Tagesordnung gesundheitspolitischer Gremien kommen, die über die Zulassung und Finanzierung solcher Maßnahmen entscheiden.

Für die Mehrzahl der in der Regelversorgung etablierten psychiatrischen Rehabilitationsmaßnahmen fehlen solche Erkenntnisse. Sie könnten schon in der nahen Zukunft eingefordert werden – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für weitere überraschende Befunde ähnlich denen des „Supported Employment“-Ansatzes. Der Mangel an Evidenz in der psychiatrischen Rehabilitation ist weitgehend selbstverursacht. Zu verdanken ist dies dem Ausbau der rehabilitativen Strukturen zu Zeiten der Psychiatriereform, als für entsprechende Modellvorhaben vergleichsweise üppige Finanzmittel zur Verfügung standen, jedoch in der allgemeinen Reformeuphorie häufig auf die Überprüfung der Effektivität dieser Modellprojekte verzichtet wurde.

Auch in den Jahren nach der Psychiatriereform setzte sich diese Tendenz fort. Der Boom der universitären biologisch-psychiatrischen Grundlagenforschung mit ihrer Verheißung neuartiger Behandlungsformen hat ebenfalls die Brisanz des Kriteriums der Versorgungseffektivität unterschätzt. So widmeten z. B. die psychiatrischen Kompetenznetze der Frage der Kostenwirksamkeit etablierter oder neuer Versorgungsansätze nur sehr geringe Aufmerksamkeit.

Sicherlich ist die Effektivität von Maßnahmen, die auf komplexe Lebenszusammenhänge wie Wohnen, Arbeit und Sozialbeziehungen zielen – den Zielfeldern der psychiatrischen Rehabilitation – methodisch nicht gerade einfach nachzuweisen. Dies ist jedoch kein Grund dafür, die Bemühungen nach Evidenz weiter so gering zu halten, wie es in den vergangenen Jahren war und damit das Risiko der Marginalisierung bestehender rehabilitativer Ansätze weiter in Kauf zu nehmen.

Noch ein weiterer Aspekt der eingangs angesprochenen Zyklizität der psychiatrischen Diskussionsthemen könnte die psychiatrische Rehabilitation als Zukunftsthema an den Rand drängen. Dies wäre dann der Fall, wenn die Gesundheitspolitik plötzlich – nachdem sie jahrzehntelang die Grundlagenforschung präferiert und gefördert hat – paradigmatisch die psychiatrische Prävention auf die Tagesordnung setzen würde. Dass dies aus heiterem Himmel geschieht, ist zwar unwahrscheinlich, aber die Umsetzung präventiv ausgerichteter Ansätze in die psychiatrische Versorgungsrealität ist lange überfällig. Und es erscheint zumindest nicht abwegig, dass angesichts des Kostendrucks ein Entscheidungsträger die simple Rechnung aufmacht, dass es doch kostengünstiger sein könnte, auf die Verhinderung von Chronifizierung zu setzen, anstatt chronifizierte Fälle langwierig und mühsam zu rehabilitieren.

Auch diese mögliche Entwicklung wäre von fachpsychiatrischer Seite aus zu antizipieren, indem nicht nur praktiziert, sondern auch nachgewiesen wird, dass Prävention, Therapie und Rehabilitation bei psychischen Störungen Hand in Hand gehen müssen.

 
  • Literatur

  • 1 Salize HJ, Rössler W, Becker T. Mental Health Care in Germany – Current State and Trends. European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 2007; 257: 92-103
  • 2 Salize HJ, Kilian R. Gesundheitsökonomie in der Psychiatrie – Konzepte, Methoden, Analysen. Stuttgart: Kohlhammer; 2010
  • 3 Salize HJ, Schuh C, Krause M. (KN-Schizophrenie-Projektgruppe Arbeitsrehabilitation) et al. Senken arbeitsrehabilitative Maßnahmen während stationärpsychiatrischer Behandlung langfristig die Versorgungskosten von Patienten mit Schizophrenie? Ergebnisse einer kontrollierten Multicenterstudie. Psychiat Prax 2007; 34: 246-248
  • 4 Weinmann S, Puschner B, Becker T. Innovative Versorgungsstrukturen in der Behandlung von Menschen mit Schizophrenie in Deutschland. Der Nervenarzt 2009; 80: 33-39
  • 5 Burns T, Catty J, White S. (EQOLISE Group) et al. The impact of supported employment and working on clinical and social functioning: results of an international study of individual placement and support. Schizophr Bull 2009; 35: 949-958