Psychiatr Prax 2011; 38(3): 109-110
DOI: 10.1055/s-0030-1266094
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun?

Why are Persons with Alcohol Dependence Stigmatized in a Particular Way, and What Can be Done About it?Georg  Schomerus1
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Greifswald
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Publication Date:
01 April 2011 (online)

PD. Dr. Georg Schomerus

Die Alkoholabhängigkeit gehört zu den am stärksten stigmatisierten psychischen Krankheiten überhaupt [1] [2], und zudem zu den häufigsten und schwerwiegendsten [3]. Umso erstaunlicher ist es, dass es kaum Anti-Stigma-Initiativen gibt, die sich mit dieser Erkrankung befassen. Woran mag das liegen? Fast hat man den Eindruck, Suchterkrankungen würden auch innerhalb der Anti-Stigma-Bewegung der Psychiatrie und Psychotherapie diskriminiert. Allerdings ist die Sache bei näherer Betrachtung gar nicht so einfach. Eine zentrale Strategie der Stigma-Bekämpfung in der Psychiatrie ist die Edukation, die Korrektur falscher Stereotype. So gibt es zahlreiche Studien darüber, dass Personen mit Schizophrenie viel weniger gefährlich sind als allgemein angenommen [4], und es ist ein plausibles Argument, dass die bereitwillige Darstellung von Gewalttaten psychotisch Erkrankter in den Medien ein Zerrbild geschaffen hat, das erhebliche negative Konsequenzen für die Betroffenen hat. Aber kann man sich eine solche Argumentation bei der Alkoholabhängigkeit vorstellen? Auch Alkoholkranke werden von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung für gefährlich gehalten – aber diese Einschätzung kann man nicht einfach von der Hand weisen. Ein Zusammenhang zwischen Alkohol und Gewalttaten ist evident, Alkohol im Straßenverkehr stellt eine sehr reale und häufige Gefahr dar. Würde man versuchen, das Stereotyp der Gefährlichkeit bei Alkoholabhängigen zu widerlegen, setzte man sich schnell dem Verdacht aus, ein schwerwiegendes Problem zu verharmlosen.

Andererseits existieren auch über die Alkoholabhängigkeit Stereotype, die eindeutig falsch sind [5]: Die Einschätzung, Alkoholabhängigkeit sei unheilbar ignoriert hohe Spontanremissionsraten in bevölkerungsbezogenen Studien [6]. Wenn man in Betracht zieht, dass eine tatsächliche gesundheitsförderliche Verhaltensänderung bei anderen chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes mellitus keineswegs häufiger erreicht wird als bei der Alkoholabhängigkeit [7], lässt sich auch das Stereotyp der „besonderen Willensschwäche” kaum aufrechterhalten. Trotzdem scheint die Strategie, dem negativ geprägten Bild des Alkoholikers einfach ein positives Gegenbild entgegenzusetzen, an den sozialen Realitäten der Alkoholabhängigkeit vorbeizugehen.

Bemühungen, die Stigmatisierung Alkoholkranker zu bekämpfen, müssen in Betracht ziehen, dass „Alkoholabhängigkeit” nicht nur als Krankheit, sondern auch (und vielleicht in erster Linie) als Verletzung gesellschaftlicher Normen wahrgenommen wird. Bevölkerungsstudien zeigen, dass Suchtkranke von der Allgemeinbevölkerung viel stärker für ihre Erkrankung verantwortlich gemacht werden als Personen, die an einer Schizophrenie oder Depression leiden [1]. Anders als bei der Schizophrenie oder einer Depression könnte deshalb das Stigma der Alkoholabhängigkeit eine auf den ersten Blick plausible Funktion haben, nämlich diese gesellschaftlichen Normen zu schützen [8]. Das „Rational” der Stigmatisierung hieße: Wer mutwillig bestimmte Regeln verletzt, gehört nicht mehr zu uns. Ausgrenzung könnte als Druckmittel funktionieren, um den Betroffenen zur „Umkehr”, also zur Verhaltensänderung zu bewegen und ihn wieder in die Gesellschaft hineinzuholen. Sie könnte sogar präventiv wirken, indem sie allen Gruppenmitgliedern signalisiert, wo die Grenze akzeptablen Verhaltens liegt und was passieren würde, wenn man diese überschreitet. Diesem Muster folgt z. B. die Stigmatisierung von kriminellem Verhalten. Könnte das Stigma der Alkoholabhängigkeit also eine rationale, erfolgreiche Strategie sein, um letztendlich die Abstinenz zu fördern?

Mehrere Argumente sprechen m. E. gegen diese optimistische Sichtweise: Erstens sind nicht das Trinken oder der Rausch stigmatisiert, also das unmittelbar problematische Verhalten, sondern die Abhängigkeit. Alkoholkonsum dagegen ist oft sozial akzeptiert, geradezu erwünscht: Nur wer trinkt gehört „dazu”, und diese Akzeptanz reicht vom Glas Sekt beim Empfang bis zum Rausch auf der Party [9]. Die Doppelbödigkeit alkoholbezogener Normvorstellungen wird auch in der Mediendarstellung von Alkohol, etwa bei Champagner-Duschen für siegreiche Rennautofahrer (!), überdeutlich. Weil nicht das regelmäßige, auch starke Trinken zu negativen Reaktionen führt, sondern erst der Verlust der Kontrolle über das Trinkverhalten, setzt die Stigmatisierung der Alkoholabhängigkeit viel zu spät ein, um überhaupt präventiv wirken zu können.

Ein zweites Argument betrifft die Bereitstellung von Hilfe: Bevölkerungsstudien zeigen, dass Alkoholkranke nicht nur persönlich abgelehnt werden, sondern dass auch ihre Behandlung im Vergleich zu anderen Erkrankungen die bei Weitem niedrigste Priorität in der Öffentlichkeit genießt. Auf die Frage, bei welchen Erkrankungen man am ehesten Geld bei der Behandlung einsparen könnte, wurde die Alkoholabhängigkeit unter 9 medizinischen und psychischen Krankheiten bei Weitem am häufigsten genannt [10]. Der „Weg zurück” wird Menschen mit Alkoholabhängigkeit durch das Stigma offenbar nicht geebnet, da ihnen auch bei der Vergabe von Hilfe Diskriminierung droht.

Drittens schließlich macht es die Stigmatisierung den einzelnen Betroffenen schwerer, mit dem Trinken aufzuhören. Angst vor Stigma verhindert mutmaßlich das frühzeitige Aufsuchen von professioneller Hilfe [11]. Patienten mit Alkoholabhängigkeit berichten häufig, dass erst die Inanspruchnahme von Hilfe, z. B. die erste Entgiftung, sie in ihrer eigenen Wahrnehmung und in der ihres Umfelds zum „Alkoholiker” gemacht habe. Selbststigmatisierung führt dazu, dass die Betroffenen sich noch weniger zutrauen, in Zukunft abstinent zu bleiben – die Identifikation mit der Gruppe der „Alkoholiker” führt zu Selbstwertverlust und verminderter Selbstwirksamkeit [12] [13]. Während Menschen mit Alkoholabhängigkeit eigentlich ein hohes Maß an persönlicher Stärke und Unterstützung durch andere im Kampf gegen ihre Erkrankung benötigen, bewirkt ihre Stigmatisierung genau das Gegenteil: Das Stigma der Alkoholabhängigkeit schwächt und isoliert die Betroffenen, und es untergräbt die Bereitstellung effektiver Hilfen [14].

Die Bekämpfung der Stigmatisierung Alkoholkranker scheint also richtig und notwendig zu sein – aber welche Strategien bieten sich hierfür an? Klassischerweise gibt es hier 3 grundsätzliche Möglichkeiten: Protest, Kontakt und Edukation. Die Schuldzuweisungen der Öffentlichkeit, aber auch Selbststigmatisierung und Scham der Betroffenen machen Protest als Form der Stigma-Bekämpfung besonders schwer. Wie können Alkoholkranke es wagen, gegen eine Benachteiligung aufzubegehren, an der sie in den Augen der Mehrheit und vielleicht auch in ihren eigenen Augen selber schuld sind? Aber gerade dieser Zusammenhang mit Schuldgefühlen und Selbststigma lässt den selbstbewussten Protest gegen Diskriminierung als eine zwar schwierige, am Ende aber gesunde und erwünschte Antwort auf die Stigmatisierung Alkoholkranker erscheinen – man könnte die Betroffenen also durchaus ermutigen, sich gegen Benachteiligungen zu wehren. Die stigmareduzierende Wirkung von Kontakt ist für andere psychische Krankheiten gut belegt [15]. Kontakt mit „trockenen Alkoholikern” könnte ein sehr geeignetes Mittel sein, um das negative und stereotype Bild der Öffentlichkeit von Alkoholkranken zu korrigieren. Erfolgreiche Schulprojekte zu anderen psychischen Störungen sind hier ein ermutigendes Vorbild [16] [17]. Auf der Ebene der Edukation schließlich müsste berücksichtigt werden, dass jede Form von Stereotypen schädlich ist: Weil Stereotype per Definition verallgemeinern, und damit den Blick auf die Situation, die Schwierigkeiten und die Ressourcen eines Individuums verstellen. Dies gilt sowohl für negative wie auch für positive Verallgemeinerungen. Schädlich sind Stereotype aber auch, weil sie keine Veränderung zulassen. Veränderung ist aber das zentrale Thema der Auseinandersetzung mit einem Alkoholproblem. Anti-Stigma-Initiativen sollten die Vielfalt der Biografien und die Möglichkeit der Veränderung ins Zentrum ihrer Botschaften stellen. Anstatt zu versuchen festzulegen, wie Personen mit Alkoholabhängigkeit „wirklich sind”, sollten sie deutlich machen, was diese wirklich brauchen: nicht Ausgrenzung und Ablehnung, sondern Wertschätzung und Hilfe.

Literatur

  • 1 Schomerus G, Lucht M, Holzinger A et al. The Stigma of Alcohol Dependence Compared with Other Mental Disorders: A Review of Population Studies.  Alcohol Alcohol. im Druck, doi: DOI: 10.1093/alcalc/agq089
  • 2 Schomerus G, Holzinger A, Matschinger H et al. Einstellungen der Bevölkerung zu Alkoholkranken. Eine Übersicht.  Psychiat Prax. 2010;  37 111-118
  • 3 Rehm J, Mathers C, Popova S et al. Global burden of disease and injury and economic cost attributable to alcohol use and alcohol-use disorders.  Lancet. 2009;  373 2223-2233
  • 4 Angermeyer M C, Cooper B, Link B G. Mental disorder and violence: results of epidemiological studies in the era of de-institutionalization.  Soc Psychiatry Psychiat Epidemiol. 1998;  33 1-6
  • 5 Sellman D. The 10 most important things known about addiction.  Addiction. 2010;  105 6-13
  • 6 Bischof G, Rumpf H J, Meyer C et al. Influence of psychiatric comorbidity in alcohol-dependent subjects in a representative population survey on treatment utilization and natural recovery.  Addiction. 2005;  100 405-413
  • 7 McLellan A T, Lewis D C, O’Brien C P et al. Drug dependence, a chronic medical illness: implications for treatment, insurance, and outcomes evaluation.  JAMA. 2000;  284 1689
  • 8 Phelan J C, Link B G, Dovidio J F. Stigma and prejudice: one animal or two?.  Soc Sci Med. 2008;  67 358-367
  • 9 Room R. Stigma, social inequality and alcohol and drug use.  Drug Alcohol Rev. 2005;  24 143-155
  • 10 Schomerus G, Matschinger H, Angermeyer M C. Preferences of the public regarding cutbacks in expenditure for patient care: Are there indications of discrimination against those with mental disorders?.  Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2006;  41 369-377
  • 11 Lindenmeyer J. Alkoholabhängigkeit.. 2. ed. Göttingen: Hogrefe; 2005
  • 12 Schomerus G, Corrigan P W, Klauer T et al. Self-stigma in alcohol dependence: Consequences for drinking-refusal self-efficacy.  Drug Alcohol Depend. 2011;  114 12-17
  • 13 Mutschler J, Kobiella A, Grosshans M et al. Impact of functional social support for abstinence after inpatient detoxification.  Neuropsychiatr. 2010;  24 118-124
  • 14 Schomerus G. Steine auf dem Weg – Stigma und Hilfesuchverhalten.  Psychiat Prax. 2009;  36 53-54
  • 15 Angermeyer M C, Dietrich S. Public beliefs about and attitudes toward people with mental illness: A review of population studies.  Acta Psychiatri Scand. 2006;  113 163-179
  • 16 Conrad I, Heider D, Schomerus G et al. Präventiv und stigmareduzierend? Evaluation des Schulprojekts „Verrückt? Na und!”.  Z Psychiatr Psychol Psychoth. 2010;  58 257-264
  • 17 Kohlbauer D, Meise U, Schenner M et al. Does education focusing on depression change the attitudes towards schizophrenia? A target-group oriented anti-stigma-intervention.  Neuropsychiatr. 2010;  24 132-140

PD Dr. Georg Schomerus

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Greifswald

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