Psychiatr Prax 2011; 38(1): 5-7
DOI: 10.1055/s-0030-1265959
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Muttersprachliche psychiatrische Behandlung

Psychiatric Therapy in the Native LanguagePro: Yesim  Erim Kontra: Eckhardt  Koch
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Publication Date:
22 December 2010 (online)

Pro

Parallel zur Einrichtung von Migrantenambulanzen in psychiatrischen Institutionen und von spezialisierten stationären Behandlungssettings für Migranten in psychosomatischen Kliniken entstand Mitte der 90er-Jahre der Begriff „muttersprachliche Behandlung”. Gemeint ist der Einsatz von bilingualen Mitarbeitern mit psychiatrischer und psychotherapeutischer Fachkompetenz in der Versorgung von Migranten. Meistens handelt es sich um Kinder von Gastarbeitern, die neben ihrer beruflichen auch ihre kulturelle und sprachliche Kompetenz in ihre Tätigkeit einbringen. Die muttersprachliche Behandlung ist eine Antwort der psychiatrischen und psychosomatischen Institutionen auf die besonderen Bedürfnisse der zunehmenden Population mit Migrationshintergrund.

In der Literatur finden wir 2 ähnliche Begriffe: Kirmayer [1] definiert den kulturellen Konsiliardienst (Cultural consultation service) und Tantam [2] beschreibt die „ethnische Passung” (= ethnic matching), die Behandlung der Migranten durch Therapeuten aus der gleichen ethnischen Gruppe. Unter die Aufgaben des kulturellen Konsiliardienstes subsumiert Kirmayer eine ausführliche Erstdiagnostik durch einen muttersprachlichen Experten bei Zuweisung von Patienten mit kulturellen oder sprachlichen Besonderheiten. Dabei sollen die für die Diagnostik und Therapie relevanten kulturellen Besonderheiten benannt werden. Auch die Beratung von autochthonen (einheimischen) Therapeuten bei schwierigem Behandlungsverlauf und die Untersuchung kulturspezifischer Begebenheiten, die den Therapieverlauf beeinflussen, gehören zum Aufgabenspektrum eines solchen Konsiliardienstes.

Was sind die Indikationen für eine muttersprachliche psychiatrische Behandlung?

Die kultursensitive Befunderhebung (cultural formulation), die in DSM-IV eingeführt wurde, hat weltweit wenig Verbreitung gefunden. Mezzich et al. [3] erklären diesen Umstand mit dem Fehlen geeigneter Fallbeispiele und empfehlen in ihrer Leitlinie für kultursensitive Befunderhebung (Cultural Formulation Guidelines) folgende 4 Bereiche zu fokussieren:

  1. Kulturelle Identität des Patienten einschließlich seiner Wertorientierungen, Sprachkenntnisse, Krankheitskonzepte, Selbst- und Körperbild, Weltanschauung,

  2. Einflüsse der Kultur auf das Krankheitserleben und das Inanspruchnahmeverhalten sowie

  3. auf die Interaktion mit der Familie und schließlich

  4. auf die Interaktion zwischen dem Patienten und dem Untersucher.

Durch die formulierten Forderungen an eine kultursensitive Diagnostik ist die Frage der Indikation für eine muttersprachliche psychiatrische Behandlung teilweise schon beantwortet. Sie ist immer dann indiziert, wenn die Kenntnisse des Patienten nicht ausreichen, emotionale und kognitive Zusammenhänge in der Sprache des Aufnahmelandes zum Ausdruck zu bringen. Der muttersprachliche Diagnostiker kann in vielen Fällen sicherer beurteilen, ob z. B. bestimmte sprachliche Äußerungen („Meine inneren Organe brennen”: Melancholischer Wahn oder kultureller Sprachgebrauch?) oder ein bestimmtes Verhalten (Patient nimmt Medikamente nicht ein und lässt sich von einem religiösen Heiler behandeln: Wahn oder kulturell geprägter Heilungsversuch?) einer kulturellen Haltung oder der vorliegenden psychischen Störung zuzuschreiben sind.

Wirkfaktoren und Effekte der muttersprachlichen psychotherapeutischen Behandlung

Der Einfluss der Kultur auf unser Erleben und Verhalten wird in der psychotherapeutischen Behandlung von Migranten sehr deutlich. Angestrebte Veränderungen sind meist nicht nur individueller Natur, sondern sie kollidieren oft mit grundlegenden kulturellen Werten, die bisher leitend waren [4].

Migranten können aus einer Kultur kommen, die Hilfebeziehung nicht im Zweiergespräch, sondern z. B. in gemeinsamen Anstrengungen von Familien oder Freunden ansiedelt. Sie können vielfältige Diskriminierungen im Aufnahmeland erfahren haben. In diesen Fällen werden sie in der klassischen einzeltherapeutischen Situation und gegenüber einem Therapeuten, den sie als Vertreter der Dominanzkultur wahrnehmen, verunsichert sein. Die „Anfangssympathie” der Klienten zu gewinnen und zu planen, welche Haltungen für die Erstellung einer therapeutischen Allianz hilfreich sind, ist in der Behandlung von Migranten sehr wichtig. In der muttersprachlich-bilingualen Psychotherapie haben die Migranten eine größere Zuversicht darüber, mit ihrer Andersartigkeit Akzeptanz zu finden.

Die muttersprachliche Behandlung hat Ähnlichkeiten mit dem Prinzip des „Peer Counseling”, das im Rahmen der Bewegung „Selbstbestimmtes Leben” der Behinderten in den USA entstand. Dahinter verbirgt sich die Erfahrung aus Selbsthilfegruppen, in denen Personen in einer ähnlichen schwierigen Lebenssituation einander unterstützen und sich gegenseitig austauschen. Dieser Austausch führt zu einer bewussteren Erfahrung der eigenen Identität.

Tantam [2] vertritt die These, dass ein Behandler gegenüber einem Patienten aus der gleichen Ethnie eine bessere oder promptere Empathie entwickeln kann, wenn man die empathische Einfühlung als eine emotionale Ansteckung versteht, die von bisherigen Beziehungserfahrungen und -erwartungen genährt wird. Als relevante Argumente für muttersprachliche oder „ethnisch passende” (ethnic matching) Psychotherapeuten führt sie an, dass durch ihren Einsatz eine höhere Inanspruchnahme der Institutionen durch Migranten sowie eine bessere Therapiemotivation und Compliance der Migranten erreicht werden. Tatsächlich ist auch in Deutschland eine der wichtigsten Erfahrungen in der Versorgung von Migranten die Feststellung gewesen, dass die Inanspruchnahme durch Migranten nach der Etablierung muttersprachlicher Angebote, z. B. sog. „Migrantenambulanzen” rasch und deutlich zunahm [5] [6]. Durch den Einsatz von muttersprachlichen Fachkräften leisten die Institutionen einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Zugangsbarrieren und zur interkulturellen Öffnung [7].

Schließlich stellt die muttersprachliche Behandlung, nicht wie manchmal geschildert, einen Raum dar, in dem die Ursprungskultur idealisiert und eine Abschottung gegenüber der Kultur des Aufnahmelandes unterstützt wird. Vielmehr bietet sie einen „transkulturellen Entwicklungsraum”, so wie von Özbek und Wohlfahrt [8] beschrieben. Sie ermöglicht Patienten, sich in einem geschützten Rahmen mit den Werten der neuen Kultur auseinanderzusetzen und mit diesen zu experimentieren [9].

Die muttersprachliche Behandlung ist eine wertvolle und bisher wichtigste Antwort der deutschen Psychiatrie auf die Bedürfnisse der Migranten. Durch sie kann die Diagnostik verbessert, die Behandlungscompliance und die Inanspruchnahme der Patienten optimiert werden. Schließlich kommt es in Institutionen, in denen muttersprachliche Psychotherapeuten arbeiten, zu einer Sensibilisierung aller Mitarbeiter für kulturelle Besonderheiten.

Literatur

  • 1 Kirmayer L J, Groleau D, Guzder J. et al . Cultural consultation: a model of mental health service for multicultural societies.  Can J Psychiatry. 2003;  48 145-153
  • 2 Tantam D. Therapist-patient interactions and expectations.. In: Bhugra D, Bhui K, eds Textbook of Cultural Psychiatry.. Cambridge: Cambridge University Press; 2007: 379-387
  • 3 Mezzich J E, Caracci G, Fabrega H. et al . Cultural Formulation Guidelines.  Transcultural Psychiatry. 2009;  46 383-405
  • 4 Kahraman B. Therapeutische Beziehung und Kultur.. In: Kahraman B Die kultursensible Therapiebeziehung.. Gießen: Psychosozial Verlag; 2008: 59-76
  • 5 Erim-Frodermann Y, Aygün S, Senf W. Türkeistämmige Migranten in der psychotherapeutisch–psychosomatischen Ambulanz.. In: Heise T, Schuler J, Hrsg Transkulturelle Beratung, Psychotherapie und Psychiatrie in Deutschland.. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung; 2000: 157-169
  • 6 Schouler-Ocak M. Regelversorgungseinrichtung – PatientInnen türkischer Herkunft in der Institutsambulanz des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Hildesheim.. In: Heise T, Schuler J, Hrsg Transkulturelle Beratung, Psychotherapie und Psychiatrie in Deutschland.. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung; 2000: 81-89
  • 7 Gün A K. Interkulturelle Öffnung in den Institutionen der Gesundheitsdienste.. In: Erim Y, Hrsg Klinische Interkulturelle Psychotherapie. Ein Lehr- und Praxisbuch.. Stuttgart: Kohlhammer; 2009: 118-137
  • 8 Özbek T, Wohlfart E. Der transkulturelle Übergangsraum – ein Theorem und seine Funktion in der transkulturellen Psychotherapie am ZIPP.. In: Wohlfart E, Zaumseil M, Hrsg Transkulturelle Psychiatrie – interkulturelle Psychotherapie. Interdisziplinäre Theorie und Praxis.. Heidelberg: Springer; 2006: 169-175
  • 9 Erim Y, Kahraman S. „Ich habe noch vier Embryos in Istanbul”: Muttersprachliche Gruppenpsychotherapie mit Migrantinnen aus der Türkei.  Psychotherapie im Dialog. 2010;  11 346-351
  • 10 Koch E, Hartkamp N, Siefen R G. et al . Patienten mit Migrationshintergrund in stationär-psychiatrischen Einrichtungen – Pilotstudie der Arbeitsgruppe „Psychiatrie und Migration” der Bundesdirektorenkonferenz.  Nervenarzt. 2008;  79 328-339
  • 11 Statistisches Bundesamt 2006 .Leben in Deutschland – Ergebnisse des Mikrozensus 2005. 
  • 12 Grosch H, Leenen W R. Bausteine zur Grundlegung interkulturellen Lernens.. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Hrsg Interkulturelles Lernen. Arbeitshilfen für die politische Bildung.. Bonn; 1998: 29-46
  • 13 Morina N, Maier T, Schmid Mast M. Lost in Translation? Psychotherapie unter Einsatz von Dolmetschern.  Psychother Psych Med. 2010;  60 104-110
  • 14 http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/IB/Artikel/Themen/Gesellschaft/Gesundheit/2009-09-01-empfehlungen-arbeitskreis-gesundheit.html
  • 15 Tseng W S, Streltzer J. Cultural Competence in Clinical Psychiatry. Washington: American psychiatric Publishing; 2004
  • 16 Alarcon R D. Culture, cultural factors and psychiatric diagnosis: review and projections.  World Psychiatry. 2009;  8 131-139
  • 17 Gün A K. Interkulturelle Missverständnisse in der Psychotherapie: Gegenseitiges Verstehen zwischen einheimischen Therapeuten und türkeistämmigen Klienten. Freiburg: Lambertus; 2007

Priv.-Doz. Dr. Yesim Erim

Leitende Oberärztin, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Duisburg-Essen

Virchow-Straße 174

45147 Essen

Email: yesim.erim@uni-due.de

Dr. Eckhardt Koch

Leitender Arzt Interkulturelle Psychiatrie und Migrationsbeauftragter
Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen-Marburg

Cappeler Straße 98

35039 Marburg

Email: eckhardt.koch@vitos-giessen-marburg.de

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