Zeitschrift für Komplementärmedizin 2010; 2(4): 1
DOI: 10.1055/s-0030-1250220
zkm | Editorial

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Volkskrankheit Depression?

Andreas Michalsen
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Publication Date:
09 August 2010 (online)

Ganz frisch ist noch die Intensität des kollektiven Fußballerlebens für viele von uns. In der Neuauflage des Sommermärchens haben Millionen beim Public Viewing zusammen Glücksgefühle – bis zum Halbfinale – geteilt. Neben dem objektiv tollen Erfolg der deutschen Mannschaft überrascht inzwischen das Ausmaß des Gesellschaftsphänomens Fußball. Was hat dies mit dem Titel unseres Heftes „Depression“ zu tun?

Die aktuellen Zahlen zur Prävalenz der Depression und depressiver Verstimmungen sind beunruhigend: Für Deutschland kann davon ausgegangen werden, dass ca. 6 Millionen Bundesbürger pro Jahr von einer Depression betroffen sind. Vergleiche von Stichproben-Untersuchungen zeigen deutliche Hinweise auf eine Zunahme der Erkrankung. Wie stets bei der Bewertung längerfristiger Häufigkeitsverläufe in der Medizin stellt sich nun die Frage, ob die Krankheit einfach besser diagnostiziert wird oder tatsächlich häufiger auftritt. Das letztere scheint für den praktizierenden Arzt die eindeutige gefühlte Antwort. Hierbei sehen wir nicht nur die vielen Patienten mit reinen Depressionen, sondern inzwischen auch zahlreiche Patienten mit Fibromyalgie-, Reizdarm-, Erschöpfungs- und chronischen Schmerzsyndromen, die in der Mehrzahl auch eine depressive Symptomatik als Nebendiagnose aufweisen.

Sicherlich ist die Depression keine „neue“ Erkrankung. Schwermut und Melancholie waren immer schon ein Thema der Medizin und auch der Kultur. Unzählige Künstler, Musiker und Schriftsteller der Geschichte litten unter einer Depression und haben in ihrer künstlerischen Verarbeitung die Krankheit reflektiert und inspirierte Werke geschaffen.

Warum aber leidet inzwischen ein wachsender Anteil der Gesellschaft unter Depression, wo doch noch nie eine Generation ein solche materielle Stabilität und eine Epoche gänzlich ohne Hunger und Kriege erfahren konnte? Es ist anzunehmen, dass die schnellen Veränderungen der Lebensbedingungen, die erzwungene Mobilität und die sinkende soziale Unterstützung durch Veränderung der Gemeinde- und Familienstrukturen eine Rolle spielen. Die Kohäsion der Gesellschaft hat abgenommen und die spirituelle Ausrichtung des Lebens ist individualisiert. Dazu steigt im Alltag der subjektive Stress. Alarmierend sind Daten der Techniker Krankenkasse aus 2009: Danach empfinden 8 von 10 Deutschen ihr Leben als stressig, jeder 3. gibt an, unter Dauerstress zu stehen. Stressfaktor Nummer 1 ist der Beruf. Auf der anderen Seite steht die Komprimierung des Privatlebens. Die Event-Gesellschaft und der Dauer-Standby durch Internet und Smartphones lassen einen gelassenen oder trägen Fortgang des Privatlebens kaum zu und verschließen erholsame Rückzugsfelder. Damit wird aber eine gesunde Balance zwischen Anspannung und Entspannung für viele unerreichbar. Was können wir nun tun? Kollektive Erlebnisse wie das Phänomen Fußball werden kaum ausreichen, die Gesellschaft umzustimmen: die Ergebnisse sind unstet und von unwägbaren Variablen beeinflusst (Orakel Paul). Einem immer größer werdenden Anteil der Bevölkerung chemische Antidepressiva zu verordnen, erscheint ebenfalls kaum sinnvoll.

In diesem Heft haben wir die vielfältigen Möglichkeiten der Komplementärmedizin in der Behandlung der Depression in verschiedenen Beiträgen für Sie zusammengestellt: Für zahlreiche Verfahren ergibt sich inzwischen eine ausgezeichnete Evidenz. Viele Verfahren lassen sich zudem hervorragend kombinieren und in komplexe Behandlungsstrategien wie der europäischen Naturheilkunde, TCM oder anthroposophischen Medizin integrieren.

Ich bin sicher, nach Lektüre des vorliegenden Hefts werden Sie die Therapie depressiver Störungen optimistischer und erfolgreicher angehen können!

Prof. Dr. med. Andreas Michalsen

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