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Free AccessEditorial

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Zeitalter der E-Mental Health

Child and Adolescent Psychiatry in the Age of E-Mental Health

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000705

Das Internet ist eine der bahnbrechendsten Erfindungen unseres Zeitalters. Obwohl es erst in den frühen neunziger Jahren in Betrieb genommen wurde, ist es bereits ein viertel Jahrhundert später aus dem Leben der meisten (vor allem jungen) Menschen gar nicht mehr wegzudenken. In Deutschland sind bereits im Alter von 8–9 Jahren 76 % der Kinder „online“, im Alter von 10–11 Jahren sind es schon 94 % und ab dem Alter von 16 Jahren sind es 100 % (BITKOM, 2014). Entsprechend dicht ist auch die Abdeckung mit online-fähigen Geräten im Alltag: 97 % der 12–19-jährigen sind im Besitz eines Smartphones und 11 % im Besitz von Wearables (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2018), deren Relevanz für die Diagnostik psychischer Erkrankungen schon vielfach diskutiert wird. Die sogenannte „Digitalisierung“ sowie ihre Auswirkungen und Herausforderungen für unsere Gesellschaft und die darin lebenden Individuen sind in aller Munde und werden derzeit von Politik und Wissenschaft in hohem Maße thematisiert.

Auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie unterliegt dem Wandel des „digitalen Zeitalters“. Mit dem Internet haben sich neue psychopathologische Phänomene etabliert, wie zum Beispiel die „Internetsucht“, die in den letzten 10 Jahren in ihrer Prävalenz auch deutlich zugenommen haben (Kaess et al., 2016). Auch im DSM-5 und in der ICD-11 wird dem Phänomen des pathologischen (online oder offline) Computerspielens Beachtung geschenkt, indem sich diesbezüglich neue diagnostische Entitäten finden lassen. Besonders häufig wird das Internet auch als Risikofaktor für psychische Erkrankungen diskutiert. Während der grundsätzliche Effekt neuer Medien auf die kindliche und jugendliche Entwicklung sehr kontrovers diskutiert wird (Gerwin et al., 2018), sind Phänomene wie etwa das Cybermobbing deutlich mit psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter assoziiert und erhöhen das Risiko für Suizidalität (John et al., 2018). Im Bereich der Entwicklung selbstverletzender Verhaltensweisen wird gerade den sozialen Netzwerken auch eine Rolle bei der „sozialen Ansteckung“ und damit weltweiten Verbreitung solcher Verhaltensweisen zugeschrieben (Brown et al., 2018).

Der Inhalt dieses Heftes beschäftigt sich jedoch nicht mit der oben beschriebenen „dunklen Seite der Macht“. Vielmehr haben die letzten Jahre gezeigt, dass das Internet im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie eine ganze Bandbreite neuer Möglichkeiten und Chancen bietet und daher in unserem Fach wahrscheinlich in der Zukunft einen zunehmenden Stellenwert einnehmen wird, da wir schon jetzt mit einer Generation an „digital natives“ arbeiten. Die Beiträge dieses Heftes beschäftigen sich mit dem Thema „E-Mental Health“, also der Nutzung des Internets und der neuen Medien zur Diagnostik, Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters.

Im Bereich der Diagnostik gehören elektronische Diagnoseinstrumente oftmals bereits zum Standard, da sie den Einsatz sowie die Auswertung deutlich erleichtern. Neue diagnostische Informationen werden (meist noch im Forschungskontext) durch sogenannte „Ambulatory Assessments“, also Smartphone-basierte Erhebungen von psychischen Symptomen im alltäglichen Leben, ermöglicht und zunehmend auch in klinische Anwendung gelangen. Eine Übersichtsarbeit dieses Heftes zeigt, dass die Nutzung von grossen Datenmengen aus dem Internet (sog. „Big Data“) derzeit bereits wissenschaftlich zur Diagnostik und Risikovorhersage von jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen erprobt wird (Schmidt & Kaess, 2020). Ebenfalls von diagnostischem Interesse könnte in Zukunft die Präferenz bestimmter Online-Anwendungen oder sogar die Präferenz von Avataren, also virtuellen Charakteren, in die junge Menschen im Rahmen von Online-Spielen schlupfen können. Hier konnte in einem Artikel dieses Heftes gezeigt werden, dass die Präferenz dieser Avatare bei Jugendlichen mit Traumaerfahrungen verändert ist (Kothgassner et al., 2020).

Im Bereich der Prävention und Therapie gibt es bereits für eine Vielzahl von Störungsbildern des Kindes- und Jugendalters Online-Interventionen, auch wenn diese in Deutschland noch kaum flächendeckend eingesetzt werden. Die potenziellen Vorteile solcher Interventionen liegen auf der Hand: sie sind einfach und jederzeit erreichbar, niederschwellig, anonym und dabei kostengünstig und können so einer großen Gruppe bei gleichbleibender Qualität zur Verfügung gestellt werden. Aber sind sie auch effektiv? Und wenn ja, welche Eigenschaften machen sie effektiv? Werden Online-Interventionen denn tatsächlich viel mehr genutzt? Und wenn ja, von welcher Zielgruppe? Hier beinhaltet dieses Heft sowohl eine allgemeine Übersicht zum aktuellen Stand der Forschung (Domhardt et al., 2020) als auch weitere Artikel zur Dissemination von Online-Interventionen im Kontext der Prävention von Essstörungen (Bauer et al., 2020) und zu wesentlichen Qualitätskriterien von Online-Interventionen (Tutus et al., 2020).

Wir hoffen Ihnen mit diesem Heft ein paar Einblicke in die Welt der „E-Mental Health“ geben zu können und den möglichen Stellenwert der neuen Medien für die Zukunft unseres Faches aufzuzeigen. Weltweit und auch in Deutschland sind derzeit gross angelegte Studien zur Untersuchung und Entwicklung der „E-Mental Health“ im Gange (z. B. Kaess & Bauer, 2019), so dass wir in den kommenden Jahren sicherlich mit etlichen Erkenntnissen und Entwicklungen rechnen können. Dennoch möchten wir abschliessend auch nochmals anmerken, dass der Stellenwert unserer Berufsgruppe vorerst wahrscheinlich nicht durch die Digitalisierung gänzlich an Bedeutung verliert, die Art und Weise unserer diagnostischen und therapeutischen Arbeit wird sich allerdings durch einen Siegeszug der E-Mental Health dramatisch verändern.

Literatur

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Prof. Dr. med. Michael Kaess, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, und Psychotherapie, Universität Bern, Stöckli, Bolligenstr. 111, 3000 Bern, Schweiz, E-Mail
Prof. Dr. Paul Plener, Medizinische Universitat Wien, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Währingergürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich, E-Mail