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Free AccessEditorial

Bedeutung der Architektur in der und für die Kinder- und Jugendpsychiatrie

Importance of architecture in and for child and youth psychiatry

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000639

In der stationären und tagesklinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist eine evidenzbasierte, leitlinienorientierte multimodale Therapie im multiprofessionellen Team Standard. Neben kinder- und jugendpsychiatrischer und psychotherapeutischer Therapie, dem strukturierenden Umfeld mit klarer Tagesstrukturierung und verbindlichen Stationsregeln und dem milieutherapeutischen Umfeld sind Kliniken und Tageskliniken für die Zeit der (teil)stationären Behandlung auch vorübergehend Wohn- und Lebensraum der psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen. Deswegen und aufgrund der im Vergleich zu akut körperlich erkrankten Kindern längeren Verweildauern und anderen Bedürfnissen und Ansprüchen spielt auch die bauliche Ausstattung eine wichtige Rolle. Die architektonische Gestaltung und räumliche Ausstattung hat des Weiteren einen erheblichen und nicht zu vernachlässigbaren Einfluss auf die Atmosphäre der Stationen und die therapeutische Arbeit (Becker, Schmidtke & Glasow, 2019; Fricke, 2017; Fricke, Halswick, Längler & Martin, 2019; Müller-Küppers, Lehmkuhl & Mahlke, 1987; Wöckel, Rung, Bachmann, Dietschi & Wild, 2019). Als ein (Teil-)Bestandteil des therapeutischen Milieus haben bis dato wissenschaftliche Untersuchungen zur räumlichen Umgebung auf die Effektivität therapeutischer Interventionen nur wenig Aufmerksamkeit erhalten (Richter & Hoffmann, 2014).

Nach Umzug einer Universitätsklinik für (Erwachsenen-)Psychiatrie in ein neues Klinikgebäude mit größeren Stationen (400 qm für 17 erwachsene Patienten statt zuvor 200 qm für 16 bis 18 Patienten im Altbau), Ein- und Zweibettzimmern (statt Zwei- bis Vierbettzimmer), verbesserten Sanitärbereichen (ein Sanitärraum pro Patientenzimmer statt zwei Toiletten- und Duschräume pro Station), mehr Tageslicht (große Panoramafenster statt kleiner Fenster) und Balkonen sank die Anzahl der Zwangsmaßnahmen (Dresler, Rohe, Weber, Strittmatter & Fallgatter, 2015) im Vergleich zu den Jahren vor dem Umzug. Dies, so spekulieren die Autoren, sei auf die architektonischen Veränderungen zurückzuführen, die über Mediatoren wie gesteigertes Wohlbefinden der Patienten, verbesserte Mitarbeiter-Patienten-Beziehung und mehr Möglichkeiten zum Rückzug für die (erwachsenen) Patienten in stressbelasteten Situationen dazu führten, dass weniger Zwangsmaßnahmen notwendig wurden. Die Daten zur Anzahl der Zwangsmaßnahmen wurden dabei in einem naturalistischen Design über einen Drei- bzw. Fünfjahreszeitraum vor und nach dem Umzug verglichen. Die ebenfalls zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen beitragenden Deeskalationsmanagement-Schulungen der Mitarbeiter waren bereits vor dem Umzug etabliert worden. Die zurückgegangene Zahl der Zwangsmaßnahmen sei ebenfalls weder über gesteigerte Medikamentengaben erklärbar noch über Veränderungen des Diagnosespektrums, die jeweils vergleichbar waren (Dresler et al., 2015). Eine Verkürzung der Verweildauern der unfreiwillig untergebrachten Patienten im fakultativ geschlossenen Bereich (von 49 auf knapp 41 Tage) zeigte sich in einer Schweizer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie nach einer umfangreichen innenarchitektonischen Umgestaltung (Wöckel et al., 2019).

Bei der Architektur inklusive der Innenarchitektur und Raumgestaltung kinder- und jugendpsychiatrischer Kliniken sind Chefärzte und Klinikträger im Spannungsfeld zwischen einer altersgerechten ansprechenden nachhaltigen Wohnfeldgestaltung mit Individualräumen auf der einen und Gemeinschaftsbereichen auf der anderen Seite (mit Rückzugsmöglichkeiten, Spiel- und Tobebereichen und angelegtem Außengelände mit Bewegungs- und Freizeitmöglichkeiten), die kindgerecht, funktional und architektonisch befriedigend und außerdem nachhaltig und haltbar sind, die den Hygieneanforderungen entsprechen und den Brandschutzauflagen genügen unter gleichzeitiger Berücksichtigung wirtschaftlicher und ökonomischer Aspekte. Diese Erkenntnisse sind auch nicht neu, schon Müller-Küppers et al. (1987) formulierten, ein gestalteter kinderpsychiatrischer klinischer Lebensraum bedeute Schlafen, Essen, Spielen, Betätigung, Werken, Beschäftigung mit schulischen Materialien etc. und bedeute auch gleichzeitig Therapie von kindlichen Störungen, die im Bereich des Schlafs, der Nahrungsaufnahme, des Spiel-, Lern- und Arbeitsverhaltens angesiedelt sind. Auch ökonomische Vorgaben, wie viel ein Quadratmeter Klinikfläche in der Kinder- und Jugendpsychiatrie maximal zu kosten habe, gab es wahrscheinlich schon immer. Vorschriften und Auflagen hinsichtlich Klinikausstattungen bezüglich Einhalten von strengen Hygienerichtlinien und Brandschutzvorgaben sind des Weiteren zu erfüllen und kollidieren mitunter mit funktionalen und ästhetischen Vorstellungen von kind- und jugendgerechter Möblierung unter gleichzeitiger Einhaltung eines finanziellen Rahmens. Aber hier gibt es Beispiele, wie im konstruktiven Dialog mit Nutzern, Architekten und Hygienefachkräften eine (erwachsenen)psychiatrische Soteria-Station eingerichtet wurde. Zugunsten der Schaffung einer wohnlichen, nicht klinisch-sterilen Atmosphäre wurde auf nicht benötigte, krankenhaustypische Elemente wie Rammschutz an Türen verzichtet und auch die Mindeststandards erfüllende Materialauswahl (Sofabezüge, Holzboden im Wohnbereich) ging hier nicht auf Kosten der Wohnlichkeit und Atmosphäre (Voss & Danziger, 2017). Grundprinzip der Gestaltung dieser Soteria-Station für (erwachsene) Patienten mit schizophrener Erkrankung war es, eine „Entinstitutionalisierung“ der Räume vorzunehmen. Statt eines hoch funktionalen, sterilen, alltagsfernen und teilweise beängstigenden Krankenhausmilieus sollte eine Umgebung gestaltet werden im Sinne einer „rich environment“ mit ausgewogener Balance zwischen Stimulation und Anregung einerseits sowie Schutz vor Reizüberflutung, Orientierung und Sicherheit anderseits (Voss & Danziger, 2017). Die Autoren stellen heraus, dass (z. B. in Hinblick auf Hygienerichtlinien) eher die Maßstäbe einer therapeutischen Wohngemeinschaft als einer Krankenhausstation angelegt werden sollten. Aber nicht nur die Innenausstattung, auch die Bezeichnung der Räume sollte überlegt werden (Voss & Danziger, 2017). Statt „Patientenaufenthaltsraum“, „Pflegestützpunkt“ und „Angehörigenaufenthaltsraum“ könnten neutrale Bezeichnungen wie „Aufenthaltsbereich“, „Stationszimmer“ und „Besucherraum“ oder noch innovativer und positiver „Wohnzimmer“ (oder „Chill Zone“), „Empfang“ und „Wintergarten“ verwendet werden. In einer Schweizer Klinik für Kinderpsychiatrie heißen die Aufenthaltsräume zum Beispiel „Lounges“, die auch entsprechend mit Sitznischen und stilisierten Kaminen ansprechend gestaltet sind (Wöckel et al., 2019). Bei offen geführten Stationen könnte überlegt werden, inwieweit ein klassischer institutioneller Stationsstützpunkt künftig mehr Ähnlichkeiten mit einer Hotelrezeption haben könnte, um den Willkommenscharakter mehr zu betonen, ohne natürlich dabei auf Praktikabilität, Funktion und Datenschutz zu verzichten. Atmosphäre definiert, so Wigley (1998), den Raum zwischen Bauwerk und seinem Kontext. Hoffmann (2017) postuliert, wie Patienten, Angehörige, Besucher und Personal die Station wahrnehmen, beeinflusst auch deren Verhalten in der Klinik. Es sollten auch und erst recht in Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie Räume geschaffen werden, in denen man sich gerne aufhält und die eine Atmosphäre bieten, die den Genesungsprozess unterstützt, vertrauensfördernd ist und Geborgenheit vermittelt.

Auch im Bereich der Architektur von Gesundheitsbauten rücken zunehmend Themen wie „Architekturpsychologie“, „Healing Architecture“, „Healing Environment“, „Emotionsarchitektur“ oder „Evidence-Based Design“ mit in den Fokus der Planung und Umsetzung, ebenso in der studentischen Lehre (Schmitt-Sausen, 2017). Wissenschaftliche Projekte zeigten z. B. bei onkologischen Patienten eine differierende Raumwahrnehmung und ein anderes Architekturempfinden als bei Gesunden, was neben der Verwendung von Farben, Materialien und Dekorationselementen von Bedeutung ist. Auch was Patienten sehen, wenn sie aus dem Fenster des Zimmers schauen (z. B. Ulrich, 1984; Wald- oder Parkfläche versus trostlose Betonhäuserwand), hat Einfluss auf den Gesundungsprozess und das Wohlbefinden. Es gilt das Wissen der heilenden Architektur auf der einen und das Wohlbefinden und Gesundheit fördernde medizinische Wissen im allgemeinen mit alters- und krankheitsbezogenem Wissen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Besonderen zusammenzubringen und gemeinsam weiterzuentwickeln! Um auch hier auf der Basis von Evidenzen Empfehlungen zu formulieren, sind wissenschaftliche Studien notwendig und hilfreich.

Von gemeinsamen konstruktiven Gesprächen und Planungen sowie multiprofessioneller (einerseits Architektur und Bauplanung und andererseits Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Kinder- und Jugendlichenpsychologie) Auseinandersetzung können nicht nur Architektur und Medizin/Psychologie profitieren. Es dient auch den Patienten und deren Familien und auch der Arbeitsatmosphäre der in Kliniken und Tagesklinik beschäftigten Mitarbeiter und sollte unbedingt einen Stellenwert in Klinik/Krankenversorgung sowie Forschung und Lehre haben. In Marburg entstand z. B. in Kooperation mit der Hochschule Wismar, Fakultät Gestaltung Fachrichtung Innenarchitektur, eine Diplomarbeit zum „Umbau einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie“ (Behringer, 2009), in der u. a. Thema war, wie Kinder eigentlich vorhandene Klinikräume wahrnehmen. Beim DGKJP-Kongress in Ulm 2017 gab es ein gut besuchtes Symposium zum Thema Architektur in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Fricke & Preuss, 2017), bei dem auch deutlich wurde, dass sich viele lokal mit dem Thema auseinandersetzen, es aber übergeordnet noch (zu) wenig Best-Practice-Beispiele gibt oder diese noch zu wenig bekannt sind.

Aus diesen Tatsachen entstand die Idee, dieses wichtige und bis dato noch stiefmütterlich behandelte Thema in einem Themenheft der Zeitschrift abzubilden – und das Ergebnis kann sich sehen lassen.

In dem Übersichtsartikel von Fricke et al. (2019) in diesem Heft geht es um die „Healing Architecture for Sick Kids“. Hier zeigten sich Tageslicht, Zugang zur Natur, lärmreduzierende Maßnahmen und eine zu schaffende Atmosphäre der Privatheit als wichtige architektonisch umzusetzende Faktoren, die die therapeutischen Prozesse in der Klinik unterstützen. Auch profitieren in (kinder)psychiatrischen Kliniken Patienten von solchen Raumstrukturen, die die therapeutische Beziehung zwischen den Kindern/Jugendlichen und den Mitarbeitenden des Pflege- und Erziehungsdienstes und dem therapeutischen Personal fördern. Weitere wichtige Variablen, so Fricke et al. (2019), sind eine Anleitung auf Wegen, freier Raum zum Gestalten sowie bewegungsfördernde Raumstrukturen, die auch die Orientierung unterstützen. Ein weiterer Beitrag des vorliegenden Themenhefts beschäftigt sich mit suizidpräventiver Architektur in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Becker et al., 2019) und damit, welche restriktiven und sichernden architektonischen Maßnahmen wichtig sind bei gleichzeitig notwendiger Schaffung einer altersgerechten, freundlichen und antisuizidalen Atmosphäre in einer Akutstation. Auch in einer Akutstation sollten, neben der gezielten Reduzierung potenzieller Möglichkeiten zur Selbstschädigung, konkrete Möglichkeiten zur positiven Ablenkung durch Blicke in die Natur und auch gesicherte Zugänge zu einem ansprechend gestalteten geschützten Außenbereich möglich sein. Des Weiteren, so Becker et al. (2019), sollten Beschäftigungs- und Bewegungsmöglichkeiten gegeben sein und die positive Wirkung durch Licht und Farben genutzt werden. Stressreduzierend wirken nicht nur Schutz vor Lärm, sondern auch ein gutes Raumklima (frische Luft) und eine angenehme Raumtemperatur, was auch Schutz vor zu großer Hitze im Sommer bedeutet und Kühlungs-/Lüftungsmöglichkeiten.

Um ein neues innenarchitektonisches Konzept geht es schließlich im Artikel von Wöckel et al. (2019), die die Innenarchitektur sowie das übergeordnete Konzept einer Umgestaltung einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Schweiz vorstellen, das 2015 sogar mit dem Silbernen Sonderpreis der Jury des KlinikAwards prämiert wurde (Rung & Wild, 2015). Hier greifen Klinik-, Architektur- und Kommunikationskonzept ineinander. Ein Drache ist der Hauptschutzpatron der Klinik und es gibt sieben weitere speziell entworfene Identifikationsfiguren für die einzelnen Stationen, die sich in Wandgrafiken wiederfinden und das Gemeinschaftsgefühl stärken sollen. Farbcodes und interaktive Elemente (wie zum Beispiel von den Patienten selbst zu gestaltende Sprechblasen) schaffen mit Lichteffekten eine angenehme Atmosphäre. Die übergeordnete Idee dieser Umgestaltung war, eine Geschichte von „Burg Lino“ zu erzählen und diese zu vereinen mit Farben, Formen und Materialien, Grafiken und Möbeln, einen Genesungsprozess anzustoßen und eine angstarme Umgebung zu schaffen (Wöckel et al., 2019). Nach der Umgestaltung kam es zu einer Abnahme der Verweildauern bei gleichzeitiger Zunahme der stationären Aufnahmen. Die Autoren vermuten einen Zusammenhang zwischen diesen Veränderungen und einem höheren Commitment der Patienten, einer höheren Akzeptanz und gleichzeitig geringeren Gewaltbereitschaft der Patienten sowie einer höheren Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden im professionellen Team.

Mögen die Empfehlungen und Gestaltungsvorschläge auf eine interessierte und breite multiprofessionelle Leserschaft bei den Klinikern, den Geschäftsführungen und Architekten stoßen und mit dazu beitragen, dass künftig auch die Gestaltung des therapeutischen Umfeldes durch Architektur (neben Leitlinien-Behandlung, multiprofessionellen Teams, Beziehungsgestaltung und Strukturierung) an Bedeutung gewinnt und eine wichtige Rolle spielt bei Neubauplanungen sowie Erweiterungen und Umgestaltungen vorhandener Kliniken. Außerdem ist zu wünschen, dass auch zu diesem Thema künftig mehr wissenschaftliche Studien und Projekte (zum Beispiel auch Medizin, Psychologie und Architektur gemeinsam) entstehen, die die derzeit noch häufig „gefühlten“ Verbesserungen und die auf Erfahrungen beruhenden „eminenzbasierten“ Empfehlungen wissenschaftlich belegen.

Literatur

Prof. Dr. Katja Becker, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg und Universitätsklinikum Marburg (UKGM), Hans-Sachs-Str. 6, 35039 Marburg, Deutschland, E-Mail