Lernziele

Nach Lektüre dieses Beitrags

  • kennen Sie die zwei wichtigsten Frailty-Konzepte.

  • können Sie den Nutzen der Identifikation von Patient*innen mit Frailty benennen.

  • können Sie die Eigenschaften einzelner Frailty-Instrumente unterscheiden.

  • sind Sie in der Lage, für verschiedene klinische Einsatzgebiete ein geeignetes Frailty-Instrument auszuwählen.

Grundlagen

Der medizinisch-wissenschaftliche Begriff der Frailty entspricht nicht der deutschen Übersetzung Gebrechlichkeit. Während Letztere einen Zustand beschreibt, der durch körperliche Schwäche, geringe Belastbarkeit, Hinfälligkeit und Fragilität gekennzeichnet ist, handelt es sich bei Frailty um ein multidimensionales geriatrisches Syndrom, das durch den Verlust von individuellen Reserven und eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber internen und externen belastenden Einflussfaktoren charakterisiert wird [1]. Frailty kann auch in Abwesenheit von Multimorbidität und Behinderung auftreten und als reines Altersphänomen verstanden werden. Es stellt damit einen Versuch dar, das biologische Alter einer älteren Person zu erfassen. Somit unterscheidet sich Frailty vom Konzept der Multimorbidität und ist nicht mit dem Vorliegen von Behinderung gleichzusetzen. Vielmehr stellt Frailty eine Vorstufe für die Entwicklung einer Behinderung dar. Es ließ sich bislang eine Vielzahl von Einflussfaktoren identifizieren, die die Entstehung einer Frailty begünstigen ([1]; Abb. 1). Um ihre Pathogenese verstehen zu können, bedarf es einer lebenslangen Perspektive, für die individuellen Lebensstilfaktoren wie Ernährungsstatus, Bewegungsverhalten und Genussmittelkonsum wesentliche Bedeutung zukommt. In späteren Jahren wird diese Entwicklung durch die individuelle Komorbidität akzentuiert.

Abb. 1
figure 1

Risikofaktoren für die Entwicklung und den Progress von Frailty. IGF „insulin-like growth factor“. (Nach Hoogendijk et al. [1])

Ältere Personen mit Frailty weisen eine erhöhte Mortalität sowie ein erhöhtes Risiko für negative Gesundheitsereignisse wie Stürze, Krankenhaus- und Pflegeheimaufnahmen auf [2, 3]. Das Erkennen von Frailty hat somit prognostische Relevanz und erlaubt die Identifikation von älteren Patienten, die einer weiteren diagnostischen Abklärung zugeführt werden sollten und deren Gefährdung im Rahmen laufender und zukünftiger Therapien einer besonderen Berücksichtigung bedarf. Das Konzept der Frailty hat in den letzten Jahren auch in medizinischen Fachdisziplinen außerhalb der Geriatrie eine zunehmende Aufmerksamkeit erhalten, so insbesondere in der Onkologie, Nephrologie, Kardiologie und Chirurgie [4, 5, 6, 7, 8].

Frailty-Konzepte

Trotz der wachsenden Bedeutung der Frailty im Kontext von Wissenschaft und klinischer Versorgung besteht bisher noch kein internationaler Konsens hinsichtlich einer einheitlichen Definition und Erfassung [2]. Je nach Setting und untersuchter Population sind unterschiedliche Ansätze indiziert, um ältere Personen mit einer diesbezüglichen Risikokonstellation zu identifizieren.

Das gegenwärtig am weitesten verbreitete Konzept stammt von Fried et al. [9] und beschreibt den sog. physischen Frailty-Phänotyp („physical phenotype of frailty“). Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass Frailty als Folge einer Dysregulation in mehreren physiologischen Regelkreisen entsteht, u. a. in den Bereichen des endokrinen Systems, des Immunsystems, des hämatologischen Systems und des muskuloskeletalen Systems [10]. Die Identifikation erfolgt anhand von 5 Kriterien genannt (Kriterien gemäß der Cardiovascular Health Study [CHS], Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Cardiovascular-Health-Study-Kriterien nach Fried (0 Punkte ≙ robust, 1–2 Punkte ≙ „pre-frail“, ≥ 3 Punkte ≙ frail). (Deutsche Übersetzung und Adaptation nach Braun et al. [11])

Rockwood und Mitnitski entwickelten einen Ansatz, bei dem Frailty als eine Akkumulation von Defiziten aufgefasst wird [12]. Entsprechend wird in dem von ihnen entwickelten „Frailty Index“ eine große Zahl – in der ersten Version 70 – von krankheitsassoziierten Beschwerden sowie funktionellen Defizite erfasst und in einem Score zusammengeführt [4]. Der Rockwood-Index ist daher im Vergleich zu den Fried-Kriterien wesentlich umfassender angelegt und beschränkt sich nicht auf die Erfassung funktioneller Aspekt aus den Bereichen Kraft, Mobilität und Aktivität. Er wurde wiederholt adaptiert [9, 13]. Dabei werden Informationen des geriatrischen Assessments berücksichtigt. Neben den Kriterien nach Fried und denjenigen nach Rockwood wurde in den letzten Jahren eine Vielzahl von weiteren Frailty-Konzepten publiziert. Diese basieren zum einen auf der Absicht, der Multidimensionalität der Frailty stärker gerecht zu werden, zum anderen liegen ihnen unterschiedliche Patienten- oder Personenkollektive zugrunde.

Merke

Es existieren zwei dominierende Frailty-Konzepte:

  • das Konzept der physischen Frailty nach Fried, das eine verminderte objektive und subjektive Leistungsfähigkeit sowie einen Gewichtsverlust erfasst;

  • das Konzept der Defizitakkumulation nach Rockwood, das neben funktionellen Komponenten auch soziale und kognitive Aspekte sowie die Morbidität stärker berücksichtigt.

Verlauf und Prävalenz

Frailty entwickelt sich über längere Zeiträume, wobei die individuellen Trajektorien sehr unterschiedlich sein können. Diese Entwicklung kann durch den Verlauf individueller aktueller und chronischer Komorbiditäten beschleunigt werden [14]. Das Vollbild der Frailty ist als Endpunkt eines dynamischen Kontinuums zu betrachten, an dessen Anfang die funktionelle Unversehrtheit steht und dessen Verlauf als prinzipiell reversibel betrachtet werden kann. Allerdings ist eine Verschlechterung des Frailty-Grades wesentlich häufiger zu beobachten als seine Verbesserung. Zwischen „non-frail“, dem Synonym von funktionell „robust“ und „frail“, existiert der Übergangsbereich des „pre-frail“[15]. Frailty gefährdet Selbstständigkeit, Teilhabe und Lebensqualität im Alter, begünstigt das Auftreten von sozialer Isolation und führt häufig zu Hilfs- und Pflegebedürftigkeit [1].

Fallvignette

Ein 87-jähriger Patient wird mit leichtem Fieber und akuter Verwirrtheit in die Notaufnahme eingewiesen. Bei Eintreffen weist er eine pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung (SpO2) von 87 % unter Raumluft und eine Atemfrequenz von 25 /min auf. Die Körpertemperatur beträgt 38,3 °C. Der Patient ist hämodynamisch stabil. Im CT zeigen sich beidseitige Infiltrate; ein Abstrich erweist sich mithilfe der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) als positiv für das „severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“ (SARS-CoV-2). Als Vorerkrankungen sind eine chronische Niereninsuffizient im Stadium 3a, eine arterielle Hypertonie, eine diuretikapflichtige Herzinsuffizienz sowie eine senile Makuladegeneration bekannt. Der Patient lebte bislang mit der Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes im betreuten Wohnen. Es liegt eine Vollmacht vor. Die Clinical Frailty Scale (CFS) wird anhand anamnestischer Angaben der den Patienten begleitenden Tochter erhoben – Bezugszeitraum 3 Wochen vor der stationären Aufnahme – und ein CFS-Wert von 6 ermittelt. Die verantwortliche Ärztin auf der „Coronavirus-disease-2019“(COVID-19)-Station diskutiert mit der Tochter die aufgrund von Frailty-Score, Multimorbidität und des Vorliegens eines Delirs anzunehmende schlechte Prognose des Patienten. Nach ausführlicher Erörterung unter Einbeziehung des mutmaßlichen Patientenwillens wird der Verzicht auf intensivmedizinische Maßnahmen protokolliert und der Patient auf der Normalstation medizinisch versorgt.

Klinische und wissenschaftliche Aussagekraft von Frailty

Instrumente zur Erfassung von Frailty kommen sowohl in der klinischen Routine als auch im wissenschaftlichen Kontext zur Anwendung.

Frailty als Risikofaktor für das Eintreten eines negativen gesundheitsbezogenen Ereignisses

Es liegt bereits eine große Zahl von Studien vor, die die Vorhersagekraft von Frailty-Instrumenten für Outcomes wie funktionellen Abbau, Krankenhauseinweisungen, Pflegebedürftigkeit und Tod in verschiedenen Populationen analysierten. Die Ermittlung des Frailty-Status diente der Identifikation von Risikogruppen unter älteren Patient*innen, unabhängig von einem definierten Behandlungsanlass. So erlaubt der Frailty-Status bei vorliegender COVID-19 valide Aussagen zum zu erwartenden Verlauf [16].

Frailty als Merkmal, das Diagnose- und Therapieentscheidungen unterstützt

Verfahren zum Erkennen von Frailty werden in zahlreichen Fächern außerhalb der Geriatrie bereits eingesetzt und leisten dort einen Beitrag zur Darstellung der individuellen Nutzen-Risiko-Relation. Man ist auf der Suche nach möglichst einfachen Instrumenten, die von nichtgeriatrischem Fachpersonal oder via Selbstauskunft angewandt werden können und die eine statistische Vorhersage über den Behandlungserfolg erlauben. Aktuelles Beispiel ist die Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), im Falle einer Ressourcenknappheit im Kontext der COVID-19-Pandemie Frailty als eines der Kriterien heranzuziehen, um über die Ressourcenallokation zu entscheiden [17]. Keinesfalls darf jedoch das Merkmal Frailty als alleiniges Kriterium für die Vorenthaltung einer Behandlung dienen [18], so auch nicht im vorliegenden Fallbeispiel.

Frailty als Merkmal, das ein umfassendes geriatrisches Assessment triggert

Hier dient die Anwendung entsprechender Instrumente dem „case finding“ im Sinne eines Screenings, z. B. im ambulanten Bereich. Dieses Screening sollte einen geringen Zeitaufwand erfordern, sehr einfach sein, d. h., auch von Assistenzpersonal durchführbar sein und keine weiterführende Erfahrung oder Expertise voraussetzen. Ebenso sollten keine komplexen technischen Hilfsmittel erforderlich sein.

Frailty als Zielparameter entsprechender Interventionen

Hierbei ist zwischen einer präventiven Ausrichtung und der Therapie einer bereits eingetretenen Frailty zu unterscheiden. Mehrere Übersichtsarbeiten resümierten, dass für eine Reihe von Interventionen Hinweise auf eine Wirksamkeit vorliegen, die diesbezügliche Datenlage aber noch nicht befriedigend ist [19]. Am schlüssigsten ist die gegenwärtige Evidenz für den Nutzen eines körperlichen Trainings sowie für die Kombination von Training plus proteinreicher Ernährung. Dies gilt sowohl für die Prävention als auch für die Therapie einer Frailty.

Merke

  • Die Ermittlung von Frailty ist in ganz unterschiedlichen klinischen Situationen hilfreich. Patient*innen mit diesem Merkmal haben in vielen klinischen Situationen einen ungünstigeren Behandlungs- und Krankheitsverlauf.

  • Ältere Patient*innen mit Frailty sind als Risikogruppe zu identifizieren, womöglich profitieren sie von einer Anpassung der Therapie.

  • Das Erkennen von Frailty bietet die Möglichkeit, im Rahmen eines umfassenden geriatrischen Assessments Aspekte zu identifizieren, die durch eine Intervention gezielt beeinflusst werden können.

Instrumente zur Erfassung von Frailty

Es gibt eine große Zahl unterschiedlicher Instrumente zur Erfassung von Frailty [13]. Für den Einsatz im ambulanten und/oder im stationären Kontext ist v. a. die pragmatische Anwendbarkeit von entscheidender Bedeutung. Nur wenige Instrumente liegen bisher in einer deutschsprachigen Version vor. Auf Letztere werden sich die weiteren Ausführungen konzentrieren.

Assessmentbasierte Einschätzung

Gehgeschwindigkeit

Auch wenn ein einzelner Funktionsparameter das durchaus komplexe Frailty-Syndrom nicht ausreichend präzise beschreiben kann, lässt sich eine enge Beziehung zwischen Frailty und der Gehgeschwindigkeit nachweisen. In einer Übersichtsarbeit hatte die Gehgeschwindigkeit bei ambulant lebenden älteren Personen eine Sensitivität von 99 % für das Vorliegen einer Frailty, jedoch nur eine Spezifität von 64 % [20]. Eine Gehgeschwindigkeit ≤ 0,8 m/s ist zudem per se mit einer erhöhten Mortalität verbunden [21]. Somit eignet sich dieser Parameter im hausärztlichen Setting durchaus, um Risikopatienten zu identifizieren. In der Praxis scheitert die Bestimmung der Gehgeschwindigkeit jedoch häufig an den begrenzten räumlichen Möglichkeiten zur Durchführung dieses Tests. In diesem Zusammenhang ist jedoch damit zu rechnen, dass sich durch Sensoren, vielleicht auch solche, die in Smartphones verbaut werden, die Gehgeschwindigkeit mit einer für ein Frailty-Screening akzeptablen Präzision unter Alltagsbedingungen bestimmen lässt. Im Setting einer stationären Behandlung bleibt die Einschränkung, dass das Gros der Patient*innen zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht mobil genug ist, um die Gehgeschwindigkeit im Rahmen einer Eingangsuntersuchung zu bestimmen.

Cardiovascular-Health-Study-Kriterien nach Fried et al.

Die Erfassung des Frailty-Phänotyps nach Fried beinhaltet 5 Merkmale, deren Vorliegen zur Kategorisierung als robust, pre-frail oder frail führt:

  • Gehgeschwindigkeit,

  • Handkraft,

  • Erschöpfung (subjektiv),

  • Gewichtsverlust,

  • körperliche Aktivität.

Diese Kriterien und die dazugehörigen Schwellenwerte wurden basierend auf einem Datensatz der CHS entwickelt [10]. Der erforderliche diagnostische Aufwand ist nicht unerheblich, da Gehgeschwindigkeit und Handkraft durch entsprechende Messungen bestimmt werden müssen. Wie bereits beschrieben, ist die Messung der Gehgeschwindigkeit bei vielen Patient*innen in akut-geriatrischen Settings nicht möglich [22]. Zudem stoßen die Messungen sowie die Beantwortung der Fragen zu Erschöpfung und wöchentlicher Aktivität bei Patienten mit kognitiven Einschränkungen oftmals auf Schwierigkeiten. Diese Frailty-Diagnostik erfasst lediglich den aktuellen Zustand, der u. U. durch die akute Erkrankung temporär verschlechtert ist. Rückschlüsse auf den Ausgangszustand sind auf dieser Basis nur bedingt möglich. Es handelt sich dennoch um das gegenwärtig am weitesten verbreitete Frailty-Instrument und gilt als „Goldstandard“ zur Erfassung des physischen Frailty-Phänotyps, da Validierungsstudien für alle geriatrischen Settings und für unterschiedliche Outcomes vorliegen [9]. Aus den oben genannten Gründen spielen die Fried-Kriterien im klinischen Alltag jedoch nur eine untergeordnete Rolle.

Fremdeinschätzung

Clinical Frailty Scale

Während der Frailty Index als Goldstandard für das Frailty-Konzept von Rockwood kaum Eingang in die klinische Praxis gefunden hat, ist die daran angelehnte Clinical Frailty Scale (CFS) inzwischen in zahlreichen klinischen Settings verbreitet. Die ursprünglich 7‑teilige Skala wurde zu einer 9‑teiligen Skala weiterentwickelt. Die CFS erlaubt einer Gesundheitsfachkraft, die Graduierung einer Frailty einzuschätzen [23]. Hierbei finden Krankheitssymptome, Funktionsverlust, kognitive Einschränkungen sowie Lebenserwartung in strukturierter Weise Berücksichtigung. Nach Möglichkeit soll der Zustand 2 Wochen vor der aktuellen akuten Erkrankung erhoben werden. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass akute funktionelle Verschlechterungen, z. B. im Rahmen eines Delirs oder im Rahmen einer sturzbedingten Verletzung, die Einschätzung beeinflussen. Die Einstufung kann auch durch nicht geriatrisch geschultes Fachpersonal durchgeführt werden. Mit diesem Instrument wird Frailty zudem nicht als dichotomer Zustand angegeben. Vielmehr werden ältere Patient*innen auf einer Skala von 1 (sehr fit) bis 9 (Sterbephase) eingeteilt. Höhere Werte sind mit negativen Outcomes assoziiert (z. B. Mortalität, Stürze, Pflegeheimaufnahme, Lebensqualität, [24]). Auch für den Einsatz in der Notaufnahme und auf der Intensivstation, wo ein schnell und einfach durchzuführendes Instrument benötigt wird, konnte gezeigt werden, dass mithilfe der CFS geschätzte Frailty mit einem ungünstigeren Verlauf assoziiert ist [25]. Da die Einschätzung auf anamnestischen Angaben beruht, ist jedoch die Zuverlässigkeit der Einstufung von der Qualität der diesbezüglichen Informationen abhängig. Für den englischsprachigen Raum ist frei zugängliches Schulungsmaterial wie „10-Tipps“, eine App und ein Online-Schulungsprogramm erhältlich [26, 27, 28]. Vergleichbares Material fehlt noch für Deutschland. Im Kontext von COVID-19 liegen inzwischen Ergebnisse zahlreicher Studien sowie einer ersten Metaanalyse vor, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen Werten der CFS und einer erhöhten Mortalität belegen ([16]; Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Clinical Frailty Scale (CFS). Ab Kategorie 5 wird von Frailty ausgegangen (Deutsche Übersetzung durch Singler et al. [29])

Selbst- und Fremdeinschätzung

FRAIL Scale

Die Einschränkungen der Praktikabilität einer Erhebung von Frailty anhand der Fried-Kriterien haben zur Entwicklung eines vereinfachten Fragebogeninstruments geführt, das vergleichbare Kriterien abfragt. Die FRAIL Scale („fatigue, resistance, ambulation, illness and loss of weight“) wurde von der International Academy of Nutrition and Aging mit dem Ziel vorgeschlagen, Frailty mithilfe von Selbstauskünften und ohne klinische Untersuchung identifizieren zu können [30]. Vier der 5 Fragen sind den Fried-Kriterien entlehnt. Ergänzend wird Multimorbidität anhand von 11 vorgegebenen Erkrankungen erfasst. Die FRAIL Scale kann über Selbstauskunft oder durch Fremdbeurteilung erhoben werden. Dieses Instrument wurde für selbstständig lebende ältere Personen entwickelt, findet aber zunehmend auch im klinischen Kontext Anwendung. So zeigten orthogeriatrische Patient*innen, die gemäß der FRAIL Scale als frail eingeschätzt wurden, einen ungünstigeren Behandlungsverlauf als Non-frail-Patient*innen [31]. Die Einfachheit der Erhebung hat dazu geführt, dass die FRAIL Scale inzwischen auch in nichtgeriatrischen Fachdisziplinen wie der Kardiologie und der Notfallmedizin genutzt wird. Auch hier zeigen Studien, dass höhere Punkte-Werte in der FRAIL Scale mit einem ungünstigeren Verlauf assoziiert sind (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

FRAIL Scale (0 Punkte ≙ robust, 1 bis 2 Punkte ≙ pre-frail, 3 bis 5 Punkte ≙ frail; Abkürzungserklärung s. Text). (Deutsche Übersetzung und Adaptation nach Braun et al. [11])

Groningen Frailty Indicator

In Anlehnung an das Konzept der Defizitakkumulation liegt eine Reihe weiterer Erhebungsinstrumente vor, die auf Selbstauskünften beruhen und neben physischen Aspekten auch emotionale, kognitive und soziale Aspekte berücksichtigen. Exemplarisch soll der Groningen Frailty Indicator (GFI) genannt sein. Der GFI ist ein aus 15 Fragen zusammengesetztes Instrument. Abgedeckt werden 4 Domänen der Funktionalität, wobei neben physischen und kognitiven Einschränkungen auch psychosoziale Aspekte Berücksichtigung finden. Die 15 Einzelitems werden dichotom bewertet. Ab einem Gesamtscore ≥ 4 wird von einer moderaten Frailty gesprochen [11]. Machbarkeit, Reliabilität und Konstruktvalidität des GFI wurden sowohl im häuslichen Umfeld als auch in einer Pflegeeinrichtung geprüft [32]. Dabei ist die Sensitivität akzeptabel, die Spezifität jedoch gering [33]. Daher eignet sich dieses Instrument v. a. zum Case finding, um ein ausführliches geriatrisches Assessment anzuschließen (Tab. 1).

Tab. 1 Groningen Frailty Indicator. (Deutsche Übersetzung und Adaptation nach Braun et al. [11])

Frailty-Indizes für spezifische Populationen

Die Mehrzahl der medizinischen Fächer ist mit einer wachsenden Zahl älterer Patient*innen konfrontiert, die neben zahlreichen Begleiterkrankungen motorische und kognitive Einschränkungen aufweisen. Diese Komplexität hat das Interesse am Frailty-Konzept auch außerhalb der Geriatrie geweckt. Auch in der Onkologie steigt die Zahl betagter und multimorbider Patient*innen rasch an. Dabei erlaubt das chronologische Alter nur bedingt verlässliche Prognosen über den Nutzen und die Verträglichkeit therapeutischer Optionen. So ist es naheliegend, dass Onkolog*innen jene Patient*innen identifizieren möchten, die aufgrund des Vorliegens einer Frailty ein erhöhten Risiko für einen ungünstigen Krankheits- und Behandlungsverlauf aufweisen [34]. Für diesen Einsatz werden mehrere Screeninginstrumente verwendet [35]. Spezifisch für den Einsatz in der Onkologie wurde der „Geriatric 8 frailty questionnaire for oncology“ (G8) entwickelt ([36]; Tab. 2).

Tab. 2 „Geriatric 8 frailty questionnaire for oncology“. (Nach van Walree et al. [36], dt. Übersetzung nach Burkhardt [37])

Durch ein Frailty-Instrument können einerseits Therapieentscheidungen beeinflusst und andererseits jene Patient*innen identifiziert werden, die von einer geriatrischen Mitbeurteilung und ggf. Mitbetreuung profitieren. Hieraus kann sich für einen Teil dieser Patient*innen die Chance ergeben, durch eine geriatrische Prehabilitation die Verträglichkeit intensiver Therapieschemata zu verbessern und Risikofaktoren für einen ungünstigen Therapieverlauf zu minimieren [38].

Merke

Es gibt eine Vielzahl an Instrumenten zur Erfassung von Frailty. Die Auswahl richtet sich stark nach dem klinischen Setting und der Machbarkeit.

Ausblick: Erfassung von Frailty mithilfe elektronisch gesicherter Routinedaten

Eine andere Entwicklung ist die Etablierung von elektronischen Frailty-Indizes, die Informationen aus elektronischen Patientenakten nutzen. Im hausärztlichen Bereich konnte der „electronic frailty index“ (eFI) in Großbritannien zeigen, dass er für eine Reihe unerwünschter Ereignisse einen guten Vorhersagewert aufweist [14]. Der Hospital Frailty Risk Score (HFRS) wurde an einem Datensatz mit mehr als 20.000 Krankenhausbehandlungsfällen entwickelt, um Patient*innen mit ungünstigen Behandlungsverläufen zu identifizieren [39]. Aufgrund des Fehlens eines ähnlich einheitlichen und umfangreichen Datensatzes erscheint die Entwicklung eines Verfahrens, das Frailty aus elektronisch hinterlegten Daten erkennt, aktuell für Deutschland (noch) nicht möglich.

Fazit für die Praxis

  • Es liegt aktuell noch kein Konsens hinsichtlich eines einheitlichen Frailty-Konzepts vor.

  • Die Wahl eines Frailty-Instruments sollte sich nach pragmatischen Aspekten, aber auch der Zielsetzung orientieren.

  • Es gibt eine Vielzahl von Erhebungsinstrumenten, und deren Einsatz sollte an das Ziel der Frailty-Bestimmung angepasst werden.

  • Die Gehgeschwindigkeit, Kriterien nach Fried gemäß der Cardiovascular Health Study (CHS) sowie die FRAIL Scale berücksichtigen ausschließlich physische Aspekte.

  • Die FRAIL Scale mit den Komponenten „fatigue, resistance, ambulation, illness and loss of weight“ und die Clinical Frailty Scale (CFS) sind Instrumente, die eine Erfassung des Frailty-Status in Situationen erlauben, in denen eine einfache Risikostratifizierung angestrebt wird, wie z. B. Notaufnahmen und Intensivmedizin.

  • Komplexere Instrumente wie der Frailty Index oder der Groningen Frailty Indicator erfassen neben physischen auch kognitive, emotionale und soziale Dimensionen.