Kaum ein geriatrischer Patient, kaum ein geriatrisch tätiger Arzt, der nicht mit der Thematik der Polypharmazie konfrontiert ist. Eine gültige Definition fehlt bis heute, allgemein spricht man von Polypharmazie bei der gleichzeitigen Verordnung von mehr als 5 Substanzen [1]. Geriatrische Patienten nehmen häufig ein Vielfaches mehr ein, 8 bis zu 10 verschiedene Medikamente sind nicht ungewöhnlich [2]. Neben den ärztlich verordneten Substanzen greifen ältere Patienten, aber auch deren Angehörige zusätzlich auf „over-the-counter medications“ zurück, also die freiverkäuflichen Substanzen [3]. In Anbetracht dieses Ausmaßes ist es verständlich, dass die Definition an sich in den Hintergrund rückt.
Im Mittelpunkt des Interesses steht zunehmend die Patientensicherheit. Die Risiken von Nebenwirkungen und Interaktionen, sowohl von „drug-drug interactions“ als auch von „drug-disease interactions“, sind kaum mehr überschaubar. In einer von Lazarou et al. [4] durchgeführten Metaanalyse wurde geschätzt, dass in den USA jährlich 106.000 Personen an den Folgen einer unerwünschten Arzneimittelwirkung („adverse drug reaction“, ADR) sterben. Das heißt, 0,19% aller hospitalisierten Patienten erleiden eine tödliche Arzneimittelwirkung. Die von einer norwegischen Arbeitsgruppe durchgeführte prospektive Analyse aller in einer internistischen Abteilung aufgenommenen Patienten ergab eine Inzidenz von 0,95%, an einem arzneimittelinduziertem Ereignis zu versterben [5]. Geriatrische Patienten stellen bedingt durch ihre Vulnerabilität eine besondere Risikogruppe für das Auftreten einer ADR dar. Sowohl die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie [6] als auch die Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie [7] haben dieser Entwicklung Rechnung getragen und Arbeitsgruppen zum Thema Polypharmazie eingerichtet. Beide Arbeitsgruppen haben wesentlich dazu beigetragen, dass dieses Thema in den Fokus der geriatrischen Medizin gerückt ist. Wie Abb. 1 zeigt, haben die PubMed-Publikationen zur Polypharmazie seit dem Jahr 2000 im Vergleich zu Frailty deutlich zugenommen. Die relative Zuwachsrate erreicht zwar nicht das Ausmaß der Publikationen zu Frailty, allerdings bestätigt der kontinuierliche Anstieg das wachsende Interesse an der Thematik.
Die Anzahl der verordneten Medikamente ist der stärkste Prädiktor für das Auftreten einer ADR [8]. Zahlreiche Initiativen und Tools sind Negativlisten und zielen auf eine Reduktion der Substanzen ab. Zusätzlich werden die Listen im Hinblick auf potenziell inadäquate Substanzen für ältere Patienten fortlaufend überarbeitet und auch für mehrere Länder an die eigenen Gegebenheiten angepasst [9, 10]. Im Mittelpunkt steht somit das Management der Polypharmazie. Trotz aller vielversprechenden Ansätze fehlt nach wie vor die Evidenz, dass die Anwendung derartiger Listen zu einem besseren Outcome für die Patienten führt [11]. Als Paradoxon der geriatrischen Pharmakotherapie kann man den Zusammenhang zwischen Polypharmazie und medikamentöser Unterversorgung, dem „undertreatment“, bezeichnen [12]. Gerade dieser Zusammenhang zeigt deutlich, wie komplex die Fragestellungen in der Pharmakotherapie des geriatrischen Patienten sind. Eine einfache Lösung ist aktuell nicht in Sicht. Leitsätze wie „weniger ist mehr“ führen sehr rasch in ein „undertreatment“. Die Qualität und Sicherheit einer Polypharmazie lassen sich nicht allein an der Anzahl der Substanzen festmachen.
Der aktuelle Themenschwerpunkt schließt sich den vielen wertvollen Initiativen beider Fachgesellschaften nahtlos an. Eine Lösung darf man in Anbetracht der Komplexität nicht erwarten, allerdings sollen die Artikel einen Beitrag zu einer verbesserten und damit auch sicheren Pharmakotherapie leisten. Gassmann et al. weisen in ihrer Arbeit eindrucksvoll auf die Prävalenz der Problematik in einem geriatrischen Patientenkollektiv hin. Zwei weitere Artikel zeigen die möglichen Auswirkungen der Polypharmazie auf eine einzelne Erkrankung – Osteoporose (Gosch et al.) – bzw. auf ein geriatrisches Syndrom – Inkontinenz (Talasz u. Lechleitner). Einen Überblick über aktuell zur Verfügung stehende Tools im Management der Polypharmazie gibt der Review von Dovjak. Heppner et al. bringen Daten zur Prävalenz und den Folgen von ADR aus der klinischen Praxis. Der Beitrag von Stegemann verdeutlicht, dass das Problem auch für die Pharmaindustrie eine große Herausforderung darstellt.
Wir hoffen, dass der Themenschwerpunkt Ihr Interesse findet und Sie sowohl praktische als auch theoretische Anregungen zum Thema finden.
M. Gosch, K. Pils
Literatur
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Lazarou J, Pomeranz BH, Corey PN (1998) Incidence of adverse drug reactions in hospitalized patients – a metaanalysis of prospective studies. JAMA 279:1200–1205
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Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie. http://www.geriatrie-online.at/dynasite.cfm?dsmid=110510. Zugegriffen: 16.05.2012
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Gosch, M., Pils, K. Polypharmazie im Fokus der Geriatrie. Z Gerontol Geriat 45, 448–449 (2012). https://doi.org/10.1007/s00391-012-0364-9
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