Zusammenfassung
Neuronale Zeroidlipofuszinosen (NCL) sind genetisch heterogene lysosomale Erkrankungen mit rasch progredienter Neurodegeneration und charakteristischen lysosomalen Lipopigmenteinschlüssen. Das klinische Bild ist gekennzeichnet durch Bewegungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten, Epilepsie, Visusverlust und fortschreitender Demenz. Im kraniellen MRT findet sich eine globale Hirnatrophie, die frühzeitig den Kleinhirnwurm betrifft. Bei Verdacht auf das Vorliegen einer NCL-Erkrankung sollten zunächst wichtige Krankheitstypen, wie die CLN1-, CLN2- und CLN10-Erkrankung, sowie die häufigste CLN3-Mutation abgeklärt werden. Diese Untersuchungen lassen sich anhand einer Trockenblutkarte durchführen. Bei negativem Befund, aber weiter bestehendem NCL-Verdacht, sollte das weitere Prozedere dann zusammen mit einem Experten abgestimmt werden. Andere diagnostische Optionen umfassen die elektronenmikroskopische Darstellung von Speichermaterial in Lymphozyten und Hautbiopsiematerial oder die direkte molekulargenetische Analyse bekannter NCL-Gene. Bisher können die NCL-Erkrankungen nur symptomatisch behandelt werden.
Abstract
The neuronal ceroid lipofuscinoses (NCL) are a heterogeneous group of lysosomal diseases with rapidly progressive neurodegeneration and characteristic lipopigmentary lysosomal inclusions. The clinical picture is characterized by motor disturbances, developmental delay, behavioral abnormalities, epilepsy, loss of vision and dementia. Cranial MRI reveals global brain atrophy and in particular early atrophy of the cerebellum. If an NCL disease is suspected initial diagnostic assessment for the CLN1, CLN2, CLN3 and CLN10 subtypes is recommended. The investigations can be done with a dried blood spotted on filter paper. If the results are negative but an NCL disease is still suspected the further approach should be coordinated with an expert in the field. Possible other diagnostic examinations include electron microscopy of the storage material in lymphocytes and skin biopsy specimens or molecular genetic analysis of the suspected NCL gene. At present only symptomatic therapy is available for NCL diseases.
Die neuronalen Zeroidlipofuszinosen werden den lysosomalen Erkrankungen zugeordnet und zeigen eine Gesamthäufigkeit von etwa 1:30.000 Geburten. Die klinischen Merkmale umfassen zerebrale Krampfanfälle, progrediente Bewegungsstörungen, fortschreitender Sehverlust bis zur Erblindung, Demenz und frühzeitiger Tod. Die historische Klassifikation der NCLs bezieht sich auf das Alter der Patienten zu Beginn der Erkrankung: infantil (1. bis 2. Lebensjahr), spätinfantil (3. bis 5. Lebensjahr), juvenil (5. bis 8. Lebensjahr) und adult (Erwachsenenalter). Zusätzlich zeichnen sich diese Erkrankungen durch die Akkumulation von autofluoreszierendem Pigment (Ceroid-Lipofuszin) in zahlreichen Geweben aus. Die biochemische Analyse dieses Speichermaterials zeigt eine Mischung aus lipophilen Substanzen wie die Untereinheit c der ATP-Synthase, Sphingolipid-Aktivatorproteine und Glykosphingolipide. Die elektronenmikroskopische Darstellung des Speichermaterials weist spezifische Muster auf. Diese sind „granular osmiophilic deposits“ (GRODS), „curvilinear bodies“ (CB) und „fingerprint profiles“ (FP), die zur Subklassifizierung der NCL-Erkrankungen hilfreich sind.
Die Identifizierung von 8 der mindestens 10 krankheitsrelevanten Genen (CLN1, CLN2, CLN3, CLN5, CLN6, CLN7, CLN8, CLN10) führte zu einer neuen Einteilung der NCLs, die das klinische Erscheinungsbild und die assoziierten Genmutationen berücksichtigen [2].
Die 3 am häufigsten betroffenen NCL-Gene sind CLN1, CLN2 und CLN3.
Studien zur Korrelation von Phänotyp und Genotyp zeigen, dass bestimmte Mutationen im CLN1-Gen mit infantilen, spätinfantilen, juvenilen und adulten Verlaufstypen assoziiert sind [1]. Ähnlich sind CLN2-Mutationen vorwiegend mit spätinfantilen, seltener mit atypisch juvenilen NCL-Formen verbunden [9]. Bei dem erst kürzlich beschriebenen CLN10-Typ ist der Krankheitsbeginn besonders variabel und kann kongenital, spätinfantil bzw. juvenil oder adult sein [6, 8]. Dieser variable Krankheitsverlauf ist charakteristisch für NCL-Formen, denen ein Enzymdefekte (CLN1, CLN2 und CLN10) zugrunde liegt. Er erklärt sich durch die unterschiedlich hohen enzymatischen Restaktivitäten, die mit den verschiedenen Mutationen assoziiert sind. Im Gegensatz hierzu weisen die NCL-Erkrankungen, die auf Defekten von Membranproteinen beruhen, einen weniger heterogenen klinischen Phänotyp auf. Mutationen im CLN3-Gen führen zur juvenilen NCL-Erkrankung [3]. CLN5-, CLN6- und CLN7-Defekte verursachen spätinfantile Krankheitsverläufe [5, 7, 10] und nur die CLN8-Erkrankung ist sowohl als variante spätinfantile Form als auch als milder verlaufende, spezifisch finnische Nordische Epilepsie bekannt [4]. Eine Übersicht über die aktuell bekannten NCL-Krankheitsbilder und ihre Gen- bzw. Proteindefekte ist in Tab. 1 wiedergegeben.
Klinische Symptome
Bei einem gemeinsamen Auftreten von Epilepsie, Bewegungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen und Sehstörungen sollte immer an eine neuronale Zeroidlipofuszinose gedacht werden. Hierbei ist zu beachten, dass insbesondere zu Beginn der Erkrankung nicht alle Symptome gleichzeitig vorliegen.
Zu Beginn der Erkrankung liegen nicht alle Symptome gleichzeitig vor
Bei einigen NCL-Formen (CLN3, CLN5, CLN10) steht initial die Sehstörung im Vordergrund, die oftmals vom Augenarzt als Retinitis pigmentosa, Zapfen-Stäbchen-Dystrophie oder M. Stargardt diagnostiziert wird. Häufig folgen bei diesen NCL-Formen erst mit einer Verzögerung von einigen Jahren kognitive und motorische Defizite und später die ersten zerebralen Krampfanfälle. Im Gegensatz hierzu fallen die meisten infantilen und spätinfantilen NCL-Formen (CLN1, CLN2, CLN6, CLN7, CLN8) durch Entwicklungsverzögerungen und schwer therapierbare Epilepsien auf, die oftmals mit Myoklonien einhergehen. Die Sehstörungen folgen erst im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf.
Bildgebende und neurophysiologische Diagnostik
Parallel zu dem Auftreten demenzieller Symptome und ataktischer Bewegungsstörungen finden sich im kraniellen MRT Zeichen einer kortikalen Hirnatrophie (Abb. 1). Dabei ist häufig im Frühstadium der Kleinhirnwurm am deutlichsten betroffen. Diese MRT-Veränderungen sind richtungsweisend und finden sich insbesondere bei den infantilen und spätinfantilen NCL-Formen, während sie in der frühen Krankheitsphase der juvenilen und adulten NCL-Formen fehlen (CLN3, CLN10). Bei einigen spätinfantilen NCL-Erkrankungen, v. a. bei Patienten mit CLN2, seltener CLN5 und CLN6, lassen sich durch Blitze pathologisch gesteigerte Reizantworten im EEG und VEP auslösen (Abb. 2, Abb. 3). Das ERG zeigt bei fast allen NCL-Formen reduzierte oder fehlende skotopische und photopische Antworten.
Diagnostisches Vorgehen
Da mehr als zwei Drittel der in Deutschland gefundenen NCL-Fälle durch einen CLN2- oder CLN3-Defekt verursacht werden, sollten diese beiden NCL-Erkrankungen bei der initialen Diagnostik besondere Berücksichtigung finden. Die beiden Defekte CLN2 und CLN3 weisen eine unterschiedliche zeitliche Reihenfolge der charakteristischen Leitsymptome auf. Zu Beginn der CLN2-Erkrankung stehen Sprachentwicklungsverzögerung und motorische Defizite im Vordergrund. Der klinische Verdacht einer NCL-Erkrankung ergibt sich aber meist nach dem Auftreten der ersten zerebralen Krampfanfälle. Die Sehstörungen treten schließlich erst im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf auf. Im Gegensatz hierzu ist das initiale Leitsymptom der CLN3-Erkrankung die fortschreitende Sehstörung.
Erst mit einer Latenz von einigen Jahren treten kognitive Defizite und Verhaltensauffälligkeiten auf.
Zerebrale Krampfanfälle treten häufig dann im Spätstadium der Erkrankung in Erscheinung. Im Blutausstrich finden sich häufig Vakuolen in den Leukozyten. Das in Abb. 4 gezeigte diagnostische Flussdiagramm beschreibt ein überlegtes diagnostisches Vorgehen bei dem Verdacht auf eine NCL-Erkrankung. Die Basisdiagnostik umfasst die enzymatischen Untersuchungen auf einen CLN1-, CLN2- und CLN10-Defekt und die molekulare Analyse der häufigsten CLN3-Mutation, die bei über 90% aller CLN3-Patienten zumindest in einem Allel auftritt, entweder als homozygote Mutation oder heterozygot in Kombination mit einer anderen CLN3-Mutation. Diese Untersuchungen sind kostengünstig und lassen sich mühelos aus Trockenblut auf einer Filterkarte (Guthrie-Karte) bewerkstelligen. Im Fall negativer Resultate, aber weiter bestehendem Verdacht auf eine NCL-Erkrankung, sollte zusammen mit einem Experten auf dem Gebiet neurodegenerativer Krankheiten des Kindes- und Jugendalters das weitere diagnostische Prozedere abgesprochen werden. Der Nachweis von charakteristischem Speichermaterial (Tab. 1) in Hautbiopsiematerial oder Lymphozyten kann das Vorliegen einer NCL-Erkrankung untermauern oder unwahrscheinlich machen. Unter Berücksichtigung des klinischen Verlaufs und spezifischer ethnischer Gegebenheiten kann eine direkte molekulargenetische Untersuchung ausgewählter Krankheitsgene sinnvoll sein.
Therapeutische Maßnahmen
Eine kausale Therapie der NCL-Erkrankungen steht aktuell nicht zur Verfügung. Verschiedene experimentelle Therapieansätze wurden bisher mit Tiermodellen oder mit kleinen Patientengruppen verfolgt. Hierzu gehören die Transplantation von hämatopoetischen oder neuronalen Stammzellen, die intrazerebrale Injektion von adenoassoziierten viralen Vektoren zur gentherapeutischen Anwendung und die intraventrikuläre Enzymersatztherapie. Letzterer ist nur für NCL-Erkrankungen, bei denen ein nicht membrangebundenes Protein defekt ist, anwendbar (CLN1-, CLN2-, CLN5-, CLN10-Defekt).
Die neuropädiatrische symptomatische Therapie umfasst die Kontrolle der zerebralen Krampfanfälle und die Behandlung depressiver oder psychotischer Symptome. Einige Antiepileptika wie Carbamazepin, Oxcarbezepin, Phenytoin und Vigabatrin können zu einer Verschlechterung der Krampfsituation führen und sollten daher vermieden werden. Zur Behandlung der Epilepsien haben sich Valproat und Lamotrigin häufig auch in Kombination miteinander sowie Topiramat und Levetiracetem bewährt. Letzteres ist insbesondere zur Mitbehandlung von Tremor und Myoklonien vorteilhaft. Andere gegen Myoklonien wirksame Medikamente sind Piracetam und Zonisamid, zur Behandlung von Tremor werden auch Antiparkinsonmittel wie L-Dopa/Carbidopa verwendet. Die Behandlung depressiver und psychotischer Symptome spielt bei den protrahierten NCL-Formen eine bedeutende Rolle und sollte in Zusammenarbeit mit einem Kinder- und Jugendpsychiater erfolgen. Verwendet werden Inhibitoren der Serotonin-Wiederaufnahme (z. B. Citalopram, Sertralin) und atypische Neuroleptika (z. B. Risperidon).
Durch orthopädische und physiotherapeutische Maßnahmen kann der Verlust motorischer Fähigkeiten verzögert werden.
Im Spätstadium der Erkrankung wird die Ernährung der NCL-Patienten zunehmend schwieriger und muss häufig über eine Sonde durchgeführt werden. Weiter kommt es im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf zur Spastik der Muskulatur und zu Kontrakturen der Gelenke. Schmerzhafte spastische Krisen können mit Baclofen und Tetrazepam vermieden werden oder müssen akut mit Opiaten behandelt werden. In schweren Fällen lässt sich die Spastik nur mit einer intrathekalen Baclofen-Pumpe wirksam behandeln. Als Besonderheit kann es bei der juvenilen NCL (CLN3-Defekt) aufgrund von Herzrhythmusstörungen zu Adynamie und Leistungseinschränkung kommen, die sogar eine Schrittmacherimplantation erforderlich macht.
Wichtig ist es, die betroffenen Familien durch psychotherapeutische Begleitung und sozialpädiatrische Hilfen zu unterstützten und im Spätstadium eine professionelle Sterbebegleitung zu vermitteln.
Fazit für die Praxis
Die Basisdiagnostik bei Verdacht auf das Vorliegen einer NCL-Erkrankung sollte bevorzugt anhand von Trockenblut durchgeführt werden und umfasst die enzymatische Untersuchung auf einen CLN1-, CLN2- und CLN10-Defekt und die molekulargenetische Untersuchung auf die häufigste CLN3-Mutation. Bei einem negativen Resultat sollte unter Einbeziehung der klinischen Angaben sowie der bildgebenden und neurophysiologischen Befunde zusammen mit einem Experten das weitere Vorgehen abgesprochen werden. Als weitere diagnostische Möglichkeit dient der Nachweis von charakteristischem Speichermaterial im Hautbiopsat und in den Lymphozyten. Bei positivem enzymatischem oder neuropathologischem Befund kann die Diagnose meist durch Nachweis der Mutation in einem der bekannten CLN-Gene gesichert werden. Zum aktuellen Zeitpunkt existiert keine kausale Therapie; Krampfanfälle, psychiatrische Verhaltensauffälligkeiten und körperliche Beschwerden werden symptomatisch behandelt.
Literatur
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Steinfeld, R. Diagnostik und Therapie der neuronalen Zeroidlipofuszinosen aus Sicht des Neuropädiaters. Ophthalmologe 107, 616–620 (2010). https://doi.org/10.1007/s00347-009-2109-8
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00347-009-2109-8
Schlüsselwörter
- Neuronale Zeroidlipofuszinose (NCL)
- Gendefekt
- Lysosomale Diagnostik
- Neurodegeneration
- Symptomatische Behandlung