Die Spannweite gesellschaftlicher Zielbilder der Lebensgestaltung ist groß. Am einen Extrem findet sich das Zielbild des kontemplativen Lebens. Am konsequentesten wird es vermutlich im buddhistischen Mönchstum befolgt. Lebensgestaltung heißt hier meditative innere Vertiefung auf dem Weg zu Nirwana und heißt, andere Menschen in selbstloser Liebe zum Heilsweg führen. Am anderen Extrem steht das Zielbild des Homo Faber, des in Arbeit befangenen Menschen. Individuelle Leistung und materieller Erfolg im Hier und Jetzt sind hierbei wichtige Antriebskräfte. Es lohnt sich, das Thema des Beitrags, Burn-out und Arbeitswelt, in diesen weiteren Zusammenhang gesellschaftlicher Zielbilder der Lebensgestaltung zu stellen, denn offensichtlich stoßen die Exzesse der auf dem Leistungsprinzip beruhenden Wirtschaftsordnung an Grenzen menschlicher Anpassungsfähigkeit.

Hintergrund

Wenn Arbeit in größerem Umfang kollektive Erschöpfung hervorruft, wenn sie an Leib und Seele krank macht, dann ist es angezeigt, die Folgen des vorherrschenden Zielbilds der Lebensgestaltung kritisch zu überprüfen. Eine empirische Überprüfung erfolgt am besten dadurch, dass die negativen Auswirkungen der modernen Arbeitswelt auf die Gesundheit der Beschäftigten in epidemiologischen Studien analysiert werden.

Stimmt die Annahme, dass die moderne Arbeitswelt immer mehr Menschen in einen Zustand kritischer Erschöpfung treibt? Liegt es nicht vielmehr an den persönlichen Eigenschaften jener Beschäftigten, die mithilfe der Medien ins Licht der Öffentlichkeit gerückt werden? Oder verbergen sich hinter dem weit verbreiteten Label „Burn-out“ v. a. jene Leidenszustände, die aus Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung nicht Depressionen genannt werden? Folgende Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang:

- Macht die moderne Arbeitswelt krank?

- Und falls ja, wie?

- Was tragen die Beschäftigten selbst zu diesen Risiken bei?

- Gibt es wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen Belastungen der Arbeitswelt und der Entwicklung seelischer Leiden?

- Und falls ja, welche Folgerungen ergeben sich daraus für Prävention und Therapie?

Begriffliche Klärungen

Warum kommt dem Erwerbsleben eine offensichtlich zentrale Bedeutung für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Beschäftigten zu? Die Schlüsselfunktion der Berufsrolle im herrschenden Gesellschaftssystem ergibt sich zunächst daraus, dass der Beruf für die meisten Menschen noch immer die einzige, zumindest die wichtigste Quelle eines regelmäßigen Erwerbseinkommens darstellt. Der Beruf sichert ferner den sozialen Status einer Person und bestärkt sie in ihrer sozialen Identität. Nirgends werden vermutlich so intensive Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg gemacht wie im Berufsleben. Der Beruf stellt allerdings wiederkehrende Anforderungen an das Leistungsvermögen der Arbeitenden; oft herrschen Konkurrenzdruck und die Verpflichtung, die eigene Qualifikation zu sichern und weiter zu verbessern. Der Beruf eröffnet vielen Menschen neue Lernchancen und stimulierende Erfahrungen. Schließlich kann Berufsarbeit aufgrund der langen Expositionszeit die Gesundheit der Beschäftigten beschädigen, entweder durch Noxen am Arbeitsplatz oder – wie hier zu zeigen ist – durch chronische Stressbelastung.

Wird von der modernen Arbeitswelt und ihren Risiken für die Gesundheit gesprochen, ist v. a. gemeint, dass die folgenden Herausforderungen in ihrer Intensität und in ihrem Zusammenspiel etwas Neuartiges darstellen:

1) spürbare Zunahme des Leistungs- und Wettbewerbsdrucks, insbesondere als Folge der ökonomischen Globalisierung;

2) gesteigerte Anforderungen an Flexibilität, Mobilität und Anpassungsfähigkeit der Erwerbstätigen;

3) zunehmende „Fragmentierung“ der Erwerbsbiografie durch Berufswechsel, Umschulung, Zeitverträge, Perioden der Arbeitslosigkeit und generell gesteigerte Arbeitsplatzunsicherheit sowie

4) steigende „Tertiarisierung“ des Arbeitsmarkts, d. h. wachsender Anteil von Beschäftigten in Dienstleistungsberufen.

Im Verein mit der Ausbreitung neuer Technologien einschließlich elektronischer Medien ergeben sich aus diesen Herausforderungen einschneidende Veränderungen. Dabei bewirkt die wirtschaftliche Globalisierung – als eine der Ursachen zunehmenden Leistungsdrucks –, dass mit dem Export von Marktwirtschaft und moderner Technologie in Schwellenländer nicht nur der Kapital- und Warenmarkt, sondern auch der Arbeitsmarkt ausgeweitet wird. In den Hochlohnländern entsteht damit ein globales Angebot an Arbeitskräften, und aufgrund internationaler Lohnkonkurrenz wächst der Rationalisierungsdruck. Dieser Druck manifestiert sich in Form von Restrukturierungen, zumeist verbunden mit Personalabbau, Firmenzusammenschlüssen und dem Auslagern weniger produktiver Bereiche. Als Folge erleben Beschäftigte vermehrt eine Intensivierung ihrer Arbeit, eine Zunahme der Arbeitsplatzunsicherheit bei gleichzeitiger Stagnation von Löhnen und Gehältern und begrenzten Aufstiegschancen.

Welche Zusammenhänge zwischen den auf diese Weise charakterisierten Belastungen moderner Erwerbsarbeit und gesundheitlichen Risiken sind wissenschaftlich belegt? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Denn anders als im Fall von Arbeitslosigkeit, bei der ein einschneidendes negatives Ereignis das Wohlbefinden der Betroffenen nachhaltig beeinträchtigt, sind die auslösenden Bedingungen und Mechanismen des Krankwerdens unter den wiederkehrenden Bedingungen alltäglicher Erwerbsarbeit schwer zu identifizieren. Hierzu ist zunächst eine Klärung der Begrifflichkeit erforderlich, mit deren Hilfe die Fragestellung präzisiert werden kann, und es ist ein Rückgriff auf theoretische Modellvorstellungen angezeigt. Die Funktion solcher Modelle ist es, aus der Komplexität und Vielfalt der Arbeitswelt die entscheidenden krank machenden Faktoren herauszufiltern. Zwei Begriffe stehen im Zentrum der vorliegenden Analyse: „Burn-out“ und „Stress“. Beide Termini sind durch Mehrdeutigkeit und Inkonsistenz ihres Bedeutungsgehalts gekennzeichnet, und daher ist eine klärende Erörterung angezeigt. Es dürfte zumindest in den Wissenschaftszweigen, die sich mit Burn-out befassen, einen Konsens darüber geben, dass dieser Begriff ein kritisches Stadium einer – meist beruflichen – Verausgabungskarriere bezeichnet, das bei bisher leistungsfähigen Personen als Zustand tiefer psychophysischer Erschöpfung in Erscheinung tritt. Die Betroffenen fühlen sich nicht fähig, in den eingefahrenen Gleisen beruflicher Anforderungen weiterzufunktionieren. Ohnmachtgefühle, Selbstzweifel, aber auch Entfremdungsgefühle bis hin zu Zynismus können auftreten und die Leistungskrise weiter verschärfen.

Weniger Konsens besteht jedoch bei weiterführenden Fragen: Ist Burn-out ein Krankheitsbild, das eindeutig diagnostiziert werden kann? Und falls ja, in welchen Aspekten unterscheidet es sich von einer Depression? Wie sieht der professionelle Behandlungsbedarf bei Burn-out-Betroffenen aus? Und auf welcher wissenschaftlichen Basis beruhen ggf. die Behandlungskonzepte? Man muss zugestehen, dass nicht nur die Antworten auf diese Fragen divergieren, sondern dass auch auf der vorgelagerten Ebene der Konstruktdefinition und seiner psychometrisch validen Messung Dissens besteht. Ebenso ist die empirische Evidenz aus Längsschnittstudien bisher eher dürftig, die bei initial gesunden Beschäftigten eine kausale Beziehung zwischen Arbeitsbedingungen und nachfolgend erhöhten Burn-out-Risiken belegt. Und dennoch: Trotz dieser Unklarheiten und Einschränkungen muss das Phänomen „Burn-out“ ernst genommen werden, und zwar als das Erleben und Verbalisieren eines individuellen sowie kollektiven Leidens unter den Zwängen der gegenwärtigen Arbeitswelt. Nur stellt sich die Frage, ob es einen weniger verfänglichen Leitbegriff gibt, der bei der Analyse dieses Zusammenhangs weiterhilft.

In Übereinstimmung mit anderen Wissenschaftern hat der Autor vorgeschlagen, hierbei auf die Terminologie der modernen Stressforschung zurückzugreifen und dabei arbeitsbezogene Stressoren von den Stressreaktionen der Beschäftigten zu unterscheiden. Als Stressor wird jede Form einer bedrohlichen Herausforderung bezeichnet, die die betroffene Person zu bewältigen hat, ohne ihr ausweichen zu können. Sind Stressoren nur mit besonderen Anstrengungen zu bewältigen, oder erfährt die Person, dass sie bei ihrer Bewältigung scheitert, werden massive zentralnervöse Stressreaktionen ausgelöst. Bedrohlich sind dabei v. a. soziale Stressoren, d. h., die die personale Kontrolle beim Handeln in zentralen gesellschaftlichen Rollen einschränken – und damit das Erleben von Selbstwirksamkeit verhindern; bedrohlich sind Stressoren, die den Erhalt von Belohnungen im Austausch von Leistung und Gegenleistung gefährden – und damit das Selbstwertgefühl verletzen; und bedrohlich sind Stressoren, die die Kontinuität sozialer Beziehungen unterbinden – und damit wertvolle Zugehörigkeitsgefühle schwächen. Man sieht, dass diese sozialen Stressoren in der modernen Arbeitswelt häufig und wiederkehrend auftreten und damit nicht nur wichtige psychische Bedürfnisse der arbeitenden Person unterbinden, sondern auch fortgesetzt Stressreaktionen in ihrem Organismus auslösen, die längerfristig das psychische sowie das körperliche Funktionsvermögen einschränken und zur Entwicklung stressassoziierter Krankheiten beitragen.

Arbeitsstressmodelle und Erkrankungsrisiken

Wie ist es nun möglich, aus der Vielfalt und Komplexität von Arbeitsplätzen, Tätigkeitsprofilen und Beschäftigungsverhältnissen jene „toxischen“ Komponenten herauszufiltern, die als Stressoren das arbeitsbedingte Erkrankungsrisiko erhöhen? Zu diesem Zweck wird ein theoretisches Modell benötigt. Wie bereits angedeutet kommt ihm die Aufgabe zu, aus dem komplexen Beziehungsgeflecht von Arbeitssituation und arbeitender Person bestimmte Merkmalskombinationen herauszufiltern, denen aufgrund theoretischer Annahmen eine pathogene Wirkung zugeschrieben wird. Ein erfolgreich getestetes Modell leistet somit einen Beitrag zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Arbeitsbelastungen und Erkrankungsrisiko. In der internationalen Forschung der vergangenen drei Jahrzehnte sind v. a. zwei solche theoretischen Modelle untersucht worden, das Anforderungs-Kontroll-Modell (Karasek u. Theorell 1990) und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist 1996). Ein drittes Modell befasst sich mit unfairen Verfahrensweisen in Organisationen (Greenberg 2010). Da es jedoch bisher nicht so umfangreich wie die ersten beiden Modelle überprüft worden ist, wird es in der nachfolgenden Analyse nicht berücksichtigt. Das Anforderungs-Kontroll-Modell konzentriert sich auf zwei Merkmale von Tätigkeitsprofilen, ohne die arbeitende Person in das Konzept einzubeziehen. Danach sind diejenigen Personen durch Arbeitstress gesundheitlich besonders gefährdet, die hohen quantitativen Anforderungen ausgesetzt sind (z. B. permanenter Zeitdruck), ohne dass sie ausreichende Kontrolle und Entscheidungsmacht über die Ausführung ihrer Tätigkeit besitzen. Typische Beispiele solcher Arbeitsplätze sind Industriearbeiter am Fließband oder im Akkord, Verkäuferinnen im Supermarkt, Beschäftigte in Call-Centers oder Dienstleistende in der Gepäckabfertigung. Zwar leiden auch leitende Manager oder Ärzte im Krankenhaus unter hoher Arbeitsverdichtung, aber ihre Tätigkeit gewährt hohe Kontroll- und Entscheidungsspielräume – und damit, stresstheoretisch bedeutsam, positive Erfahrungen von Selbstwirksamkeit.

Während dieses Modell somit den Arbeitsplatz ins Zentrum rückt, befasst sich das in der Arbeitsgruppe des Autors entwickelte Modell beruflicher Gratifikationskrisen mit den vertraglichen Bedingungen der Arbeit. Denn Arbeit ist wesentlich ein Tauschprozess zwischen Leistung und Gegenleistung. Wird der Grundsatz der Tauschgerechtigkeit bei der Arbeit verletzt – d. h., dass einer hohen Verausgabung keine angemessene Belohnung gegenübersteht –, stellt dies für die beschäftigte Person eine „Gratifikationskrise“ dar: Erwartete, legitime Belohnungen bleiben aus oder werden nicht ausreichend gewährt. Im Modell beruflicher Gratifikationskrisen geht es nicht allein um Geld; ebenso wichtig sind die Sicherung des sozialen Status von Beschäftigten (in Form angemessener Aufstiegschancen und Arbeitsplatzsicherheit) sowie die nichtmaterielle Gratifikation in Form von Wertschätzung und Anerkennung des Geleisteten, insbesondere durch Vorgesetzte. Und auch auf der Seite der Verausgabung differenziert das Modell: Es sind nicht allein die von außen gestellten Anforderungen, die das Ausmaß der geleisteten Verausgabung bestimmen. Auch Beschäftigte selbst tragen dazu bei, beispielsweise indem sie ein besonderes Engagement mitbringen, vielleicht sogar die Aufgaben mit 150 %-iger Perfektion erledigen wollen. Menschen mit exzessiver Verausgabungsneigung im Berufsleben erhöhen auf diese Weise ihr Risiko, gratifikationskritische Situationen zu erfahren. Neben äußeren Zwängen wie fehlender Alternative auf dem Arbeitsmarkt oder starkem Wettbewerb um knappe Stellen tragen somit auch persönliche, biografisch erworbene Bewältigungsmuster in Leistungssituationen Einflussfaktoren zur Aufrechterhaltung stressauslösender Arbeitskonstellationen bei.

Beide genannten Arbeitsstressmodelle werden anhand standardisierter, psychometrisch getesteter Selbstbeurteilungsinstrumente gemessen, zu deren Validierung umfangreiche zusätzliche Untersuchungen durchgeführt wurden. Entscheidend ist sodann die Tatsache, dass beide Modelle im Rahmen mehrerer prospektiver epidemiologischer Studien an umfangreichen Kollektiven initial gesunder Beschäftigter auf ihre Eignung, zur Erklärung des Auftretens stressassoziierter Erkrankungen in relevanter Weise beizutragen, hin überprüft wurden. Dieser Beitrag wird quantitativ als relatives Risiko bzw. als „odds ratio“ berechnet. Dabei wird ermittelt, um wie viel höher das Erkrankungsrisiko bei denjenigen Beschäftigten ist, die bei der initialen Messung ein hohes Maß an Arbeitsstress aufwiesen, im Vergleich zu nicht oder nur gering gestressten Beschäftigten. Bei einer Odds ratio von 2,0 ist beispielsweise das Erkrankungsrisiko der dem Arbeitsstress exponierten Personen doppelt so hoch wie bei den nichtexponierten Personen. Es handelt sich somit um eine Erhöhung der Erkrankungswahrscheinlichkeit um 100 %. Die epidemiologische Forschung zum Thema „Arbeitsstress“ hat sich unter dem Aspekt ihrer gesundheitspolitischen Bedeutung v. a. auf 2 große stressassoziierte Krankheitsbilder konzentriert: Depressionen und koronare Herzkrankheiten. Ihre Bedeutung muss an dieser Stelle nicht eigens erörtert werden, da allgemein bekannt ist, dass sie weltweit zu den führenden Ursachen vorzeitigen Todes und von durch Behinderung eingeschränkten Lebensjahren gehören.

Empirische Evidenz

Die weltweit erste prospektive epidemiologische Studie, die die beiden genannten Arbeitsstressmodelle im Hinblick auf ein erhöhtes Depressionsrisiko überprüft hat, ist die englische Whitehall-II-Studie an Regierungsbeamten. Ihre 1999 publizierten Ergebnisse zeigten, dass Männer, die zu Beginn durch berufliche Gratifikationskrisen belastet waren, nach fünf Jahren ein doppelt so hohes Risiko wie ihre belastungsärmeren Kollegen aufwiesen, in der Zwischenzeit an einer behandlungswürdigen depressiven Episode erkrankt zu sein. Ähnlich ausgeprägt war der Effekt bezüglich der Komponenten des Anforderungs-Kontroll-Modells (Stansfeld et al. 1999). Bei Frauen findet sich in dieser Studie interessanterweise trotz höherer Häufigkeit von Depressionen ein statistisch schwächerer Zusammenhang. Hier war die Wahrscheinlichkeit nur um etwa 60 % erhöht. Die weiterführende Hypothese, diesen Unterschied auf die durchschnittlich größere Fähigkeit von Frauen zurückzuführen, berufliche Enttäuschungen durch außerberufliche Gratifikationen zu kompensieren, konnte in dieser Studie nicht untersucht werden, erscheint jedoch plausibel. Inzwischen liegen umfangreiche Resultate zum Zusammenhang zwischen Arbeitstress, gemessen anhand der beiden Modelle, und erhöhtem Depressionsrisiko vor, nicht nur aus Europa und Nordamerika, sondern auch aus asiatischen Ländern (Nieuwenhuijsen et al. 2010; Siegrist et al. 2012). Neben depressiver Symptomatik wurden vereinzelt auch Angststörungen und somatoforme Störungen als Gesundheitsmaße mituntersucht.

Für das andere Krankheitsbild, die koronaren Herzkrankheiten, existieren vergleichbare Befunde zu stressassoziierten Erkrankungsrisiken bei entsprechender Exposition, wenn auch die Odds ratios hier im Mittel etwas niedriger sind als bei depressiver Gefährdung. So zeigt eine Metaanalyse prospektiver Studien zum Anforderungs-Kontroll-Modell eine durchschnittliche Risikoerhöhung um etwa 40 % (Steptoe u. Kivimäki 2012), während das Review einer allerdings geringeren Zahl von Studien zum Gratifikationskrisenmodell eine Erhöhung des Koronarrisikos um etwa 60 % ermittelt (Kivimäki et al. 2006). Bedenkt man allerdings, dass in diesen Studien etwa jeder 5. Beschäftigte von einer dieser Formen von Arbeitsstress betroffen war, zeigt sich die gesundheitspolitische und präventivmedizinische Aktualität dieser neuen Erkenntnisse. Auch im Fall der Herz-Kreislauf-Risiken ließ sich belegen, dass der Geltungsbereich der beiden Arbeitsstressmodelle nicht auf die westlichen Industrieländer beschränkt bleibt, sondern zumindest auf ein so bedeutsames Land wie China ausgeweitet werden kann. Vor Kurzem überraschten chinesische Forscher mit dem Ergebnis einer Studie an mehreren Hundert Angestellten, die wegen akuter Herzbeschwerden in eine Klinik in Peking eingewiesen worden waren. Etwa bei zwei Dritteln der Angestellten wurde eine relevante Koronarstenose mit pektanginösen Beschwerden ermittelt, während beim restlichen Drittel funktionelle Herzbeschwerden vorlagen. Nach Diagnosenstellung und akuter Therapie wurde für beide Gruppen die rezente Arbeitsbelastung nach dem Gratifikationskrisenmodell erfasst, wobei den Interviewern keine Informationen über Diagnose und Therapie vorlagen. Die Auswertung der Informationen ergab, dass hochgradige berufliche Belastungen etwa 5-mal so häufig in der Gruppe mit klinisch gesichertem Koronarrisiko zu verzeichnen waren wie in der Gruppe ohne diesen klinischen Befund (Xu et al. 2009).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass inzwischen eine robuste empirische Basis zu gesundheitsgefährdenden psychosozialen Arbeitsbelastungen besteht, soweit diese in Form von Tätigkeitsprofilen mit geringem Kontrollspielraum im Verein mit quantitativ hohen Anforderungen und in Form von gratifikationskritischen Beschäftigungsverhältnissen erfasst werden. Neben affektiven Störungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurde dies für eine Reihe weiterer Gesundheitsindikatoren belegt.

Es ist sicher berechtigt, die kritische Frage aufzuwerfen, ob man epidemiologischen Ergebnissen, die stets auf statistischen Analysen umfangreicher Daten beruhen, vertrauen kann. Daher ist es wichtig, ergänzende Belege aus experimentellen und quasiexperimentellen Untersuchungen heranzuziehen. Sie können Informationen zu den in den statistischen Beziehungen unterstellten psychobiologischen Mechanismen beisteuern. Zu beiden Modellen liegt eine Vielzahl solcher Studien vor. Ihre Ergebnisse belegen, dass unter experimentell erzeugten Stressoren (z. B. mentaler Rechentest, improvisierte Bewerbungsrede vor einem Expertenkreis) jeweils signifikante Unterschiede bei Blutdruckanstieg, verminderter Herzfrequenzvariabilität, veränderten Ausscheidungsmustern von Stresshormonen sowie erhöhter endogener Entzündungsaktivität zwischen einer durch Arbeitsstress belasteten und einer nichtbelasteten Gruppe bestehen (Chandola et al. 2010; Nakata 2012). Gleiches gilt für Studien, bei denen kardiovaskuläre und hormonelle Parameter unter Alltagsbedingungen im Tagesverlauf erfasst wurden.

Auf der Wegstrecke von erfahrenem Arbeitsstress zum Ausbruch einer chronischen Krankheit wie Depression oder koronare Herzkrankheit durchlaufen sicherlich viele Personen eine Burn-out-Phase. Daher ist es nicht erstaunlich, dass manche Studien einen deutlichen Zusammmenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Burn-out gefunden haben. Besonders instruktiv ist in dieser Hinsicht eine neuere Studie bei chirurgisch tätigen Ärzten in deutschen Krankenhäusern (Klein et al. 2011). Dabei zeigte sich, dass kritisch hohe Werte auf einer vielfach verwendeten Burn-out-Skala 5-mal häufiger bei Medizinern mit ausgeprägtem Arbeitsstress vorlagen, als dies bei vergleichsweise stressfreien Teilnehmern der Studie der Fall war. Zusätzlich wurden in diesem kritischen Gemisch von andauernder Überforderung, mangelnder Anerkennung und nachhaltiger Erschöpfung auch Einbussen bei der Qualität ärztlicher Arbeit beobachtet. Das Thema „Burn-out und Arbeitswelt“ erhält somit auf dem skizzierten wissenschaftlichen Hintergrund eine berechtigte Aktualität, sodass abschließend gefragt werden muss, was getan werden kann, um diesen gesundheitsgefährdenden Bedingungen entgegenzuwirken.

Folgerungen für Prävention und Therapie

Wann ist Arbeit gesund? Aus der dargestellten wissenschaftlichen Evidenz kann gefolgert werden, dass Tätigkeiten zwar anspruchsvoll, jedoch nicht überfordernd gestaltet werden sollten und dass sie den Beschäftigten nicht nur mehr Autonomie, sondern auch Lern- und Entwicklungschancen gewähren sollten. Zweitens sollten angemessene Erfahrungen von Erfolg und sozialer Anerkennung mit guter Leistung einhergehen, sowohl auf der materiellen wie auf der nichtmateriellen Ebene. Drittens sollte die Zusammenarbeit in Betrieben und Organisationen von Vertrauen, Fairness und transparenten, gerechten Verfahrensweisen gekennzeichnet sein, und schließlich wäre wünschenswert, wenn Erwerbstätige ihren beruflichen Einsatz mit Sinn erfüllen und in einem gesicherten Kontext erbringen könnten. Obwohl die Wirklichkeit in den Betrieben oft unerträglich weit von diesen normativen Bestimmungen abweicht, gibt es die berechtigte Erwartung, dass der betrieblichen Gesundheitsförderung in Zukunft mehr Gewicht zukommen wird. Damit schließt sich der Kreis zu der letzten der zu Beginn aufgeworfenen Fragen: Welche praktischen Folgerungen ergeben sich aus diesen neuen Erkenntnissen für Prävention und Therapie?

Eine erste Ebene betrifft die Therapeut-Klient- bzw. Arzt-Patient-Beziehung. Psychotherapeutische Arbeit mit Patienten, die an berufsbedingten Konflikten, Kränkungen und Schicksalsschlägen leiden, ist oft zunächst klärende, bewusst machende, durch Anstöße zur Veränderung helfende Beziehungsarbeit. Hierbei ist das sozialanamnestische Gespräch von zentraler Bedeutung. Es kann auch hilfreich sein, riskante Arbeitsbedingungen und riskante Bewältigungsformen in standardisierter Form anhand eines anerkannten Screeningverfahrens zu erheben. Die auf Anamnese und Diagnose aufbauenden primär- und sekundärpräventiven Therapieverfahren zu beschreiben, ist jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags, zumal es hierzu umfangreiche Literatur aus der Hand erfahrener Experten gibt. Hingegen soll hier eine zweite Ebene praktischer Folgerungen erörtert werden, die enger an die oben besprochene Thematik anschließt. Sie betrifft präventive Maßnahmen in Betrieben und Organisationen, die auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einschließlich der Zusammenarbeit unter den Beschäftigten abzielen. Hierzu zählen bekannte Strategien der Organisations- und Personalentwicklung, insbesondere die wirksame Schulung von Führungsverhalten. In manchen Unternehmen verfahren Führungskräfte noch immer nach dem alten Grundsatz: „Kein Tadel ist genügend Lob“, anstatt Beschäftigte durch glaubwürdige Zeichen der Anerkennung erbrachter Leistung zu motivieren. Eine Änderung der Mentalität und eine Verbesserung sozialer Kompetenzen bei Führungskräften kann beispielsweise durch ein innovatives Programm erreicht werden, bei dem Führungskräfte und engste Mitarbeiter sich gemeinsam an künstlerischen Inhalten abarbeiten, um Kreativität, Sensibilität und moralisches Bewusstsein zu schulen (Romanowska et al. 2011). Weiterreichende Interventionen bauen auf nachhaltiger „Gesundheitszirkel“-Arbeit auf, wie sie in vorbildlicher Weise in einem kanadischen Krankenhausprojekt realisiert wurde. Dort konnten selbst nach drei Jahren signifikante Verringerungen von Burn-out beim ärztlichen und pflegerischen Personal derjenigen Stationen nachgewiesen werden, die ihre Arbeitsbedingungen nach den Prinzipien der beiden hier besprochenen Arbeitsstressmodelle verbessert haben (Bourbonnais et al. 2011). Investitionen in eine gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung lohnen sich somit nicht nur für die Beschäftigten, sondern, wie betriebswirtschaftliche Studien nachgewiesen haben, ebenso für die Unternehmen.

Bedenkt man allerdings die großen zu Beginn erwähnten Herausforderungen wirtschaftlicher Globalisierung, werden zusätzlich präventive Maßnahmen auf einer dritten Ebene erforderlich, der Ebene von Programmen nationaler Arbeits- und Sozialpolitik. Hierzu soll abschließend auf neue Ergebnisse aus international vergleichenden Studien zu Arbeitsbelastungen und gesundheitlichen Risiken hingewiesen werden. Im Rahmen einer europaweiten Studie an älteren Erwerbstätigen, der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE), konnte beispielsweise gezeigt werden, dass der mittlere Level von Arbeitsstress eines Landes umso höher ist, je geringer dessen Investitionen in wichtige arbeitspolitische Programme sind (Dragano et al. 2011). Als Beispiel solcher Investitionen können nationale Bemühungen um eine umfangreiche Beteilung der Erwerbsbevölkerung an beruflichen Fortbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen gelten. Ein weiterer Indikator betrifft den Anteil von Frauen an der erwerbsaktiven Bevölkerung. Je mehr ein Land in die Qualifizierung der Beschäftigten investiert und je mehr ein Land dafür sorgt, dass der Anteil weiblicher Beschäftigter wächst, umso besser ist die durchschnittliche Qualität von Arbeit und Beschäftigung, und dementsprechend niedriger dürfte die daraus resultierende Krankheitslast der Erwerbsbevölkerung sein (Dragano et al. 2011). Dies unterstreicht die hohe Bedeutung sozialpolitischer Programme in einer Zeit, in der neoliberale Wirtschaftspolitik und verantwortungslose Praktiken der Finanzwirtschaft die soziale Stabilität ganzer Nationen bedrohen.

Fazit

Es ist an der Zeit, nach Wegen aus dieser sich anbahnenden Krise zu suchen, Wegen, die zunächst beim Wertewandel einsetzen. Ein solcher Wertewandel betrifft in erster Linie ein Umsteuern im wirtschaftlichen Denken und Handeln. Ziel ist es, die Vormacht des Prinzips Eigennutz, des zweckrational operierenden Individuums, nicht nur im ökonomischen Denken und Forschen, sondern auch in der realen Wirtschaftspraxis, in Managementkonzepten und wirtschaftspolitischen Strategien zu schwächen. Fairness und Tauschgerechtigkeit stellen starke Prinzipien wirtschaftlichen und sozialen Handelns dar, und ihnen mehr Geltung zu verschaffen, ist eine vordringliche theoretische und praktische Aufgabe. Wichtig wäre es, diese ökonomische Wende mit einer ökologischen Wende zu verknüpfen, d. h. einem schonenden wirtschaftlichen Wachstum und einer Stärkung postmaterieller Werte. Dies führt letztlich zu der Frage, wie es gelingen kann, die eindimensionale Leistungskultur, die die Dynamik des herrschenden Wirtschaftssystems antreibt, durch hilfreiche Gegengewichte auszubalancieren, durch Gegengewichte, die zu kreativen Formen der Selbstentfaltung und der sozialen Kooperation führen. Alle sind aufgerufen, sich an der Beantwortung dieser Frage zu beteiligen.