Obwohl wir von den Einzelenzymdefekten, aus denen die pathologischen Vorgänge und die Symptomatik bei Angeborenen Stoffwechselstörungen entstehen, sehr viel über die physiologischen Mechanismen im gesunden Organismus lernen können, haben Angeborene Stoffwechselstörungen i. Allg. einen „schlechten Ruf“ … Generell werden Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Angeborenen Stoffwechselstörungen von einer überschaubaren Anzahl von Kolleg*innen betreut – weil sie als „selten“, „kompliziert“ und „ohne wirkliche Therapieoption“ wahrgenommen werden. Ja, jede angeborene Stoffwechselstörung für sich gehört in den Topf „Seltene Erkrankung“, aber kumulativ gesehen ist etwa jedes 500. Neugeborene von einer solchen betroffen, sodass angenommen werden kann, dass jede(r) von uns früher oder später einer Person mit einer Angeborenen Stoffwechselstörung begegnen wird. Etwa die Hälfte der Angeborenen Stoffwechselstörungen ist einer Therapie zugänglich (z. B. Ernährungstherapie, Medikamente, Enzymersatztherapie), die eine gute Entwicklung des Kindes und eine gute Lebensqualität der betroffenen Familien ermöglicht.

Im vorliegenden Heft der Monatsschrift Kinderheilkunde haben wir mit den verschiedenen Beiträgen einen Bogen gespannt, von der Diagnostik bis hin zur Therapie, und hoffen, dass wir damit die/den eine/einen oder andere/anderen für die faszinierenden Zusammenhänge des menschlichen Stoffwechsels ein wenig begeistern können.

Durch den Wissenszuwachs über Stoffwechselwege haben sich neue Therapieansätze ergeben

Das Thema „Angeborene Stoffwechselstörungen“ ist für Kinder- und Jugendärzt*innen kein ganz alltägliches. Im pädiatrischen Alltag kann sich – angefangen mit einem positiven Neugeborenenscreening-Recall – jederzeit die Konfrontation damit ergeben, sowohl im niedergelassenen Bereich als auch im Krankenhaus. Deshalb sollte ein gewisses Grundwissen über Angeborene Stoffwechselstörungen zum Repertoire der Pädiatrie gehören. Die Thematik ist aktuell, weil in den letzten 4 bis 5 Jahrzehnten das Wissen um die Stoffwechselwege und ihre Störungen extrem gewachsen ist. Mit dem besseren Verständnis der Stoffwechselwege konnten auch zunehmend die pathologischen Vorgänge, die zu verschiedenen Symptomkomplexen und laborchemischen Befundkonstellationen führen, besser verstanden werden – und daraus neue Therapieansätze entwickelt werden.

Es ist nicht Absicht dieses Themenhefts, auf die Vielzahl der Angeborenen Stoffwechselstörungen detailliert einzugehen. In diesem Themenheft werden vielmehr verschiedene Aspekte von Angeborenen Stoffwechselstörungen und -erkrankungen beleuchtet, in der Hoffnung, die Leser*innenschaft für diese Problematik zu sensibilisieren und – soweit in diesem Rahmen möglich – zu qualifizieren.

Jörn Oliver Sass aus Bonn beschreibt in seinem Beitrag die Tatsache, dass sich Angeborene Stoffwechselstörungen darauf zurückführen lassen, dass ein Gendefekt die Funktion eines Enzyms einschränkt oder ausschaltet, wodurch ein bestimmter Schritt in einem Stoffwechselweg beeinträchtigt wird. Frühzeitige Diagnose und unverzüglicher Therapiebeginn sind häufig für Entwicklungsperspektiven betroffener Patienten entscheidend. Während das Neugeborenenscreening bekanntlich unterschiedslos für alle Neugeborenen durchgeführt wird, werden selektives Screening und spezifische Tests nur für ausgewählte Patient*innen und individuell ausgewählte Tests durchgeführt, auf die er beispielhaft eingeht. Obwohl Mutationsanalysen in der Labordiagnostik Angeborener Stoffwechselstörungen weiterhin an Bedeutung zunehmen, sind Untersuchungen auf Metaboliten- und Enzymebene immer noch wichtige Elemente in der Abklärung und im Therapiemonitoring.

Johannes Häberle aus Zürich befasst sich weniger mit dem Aspekt der Diagnostik als mit den Möglichkeiten der Therapie bei Angeborenen Stoffwechselstörungen. Die Herausgeber des Standardwerks The Metabolic and Molecular Bases of Inherited Disease [1] schrieben in dessen Einleitung im Jahr 1960: „Some of these diseases lend themselves unusually well to the ingenious employment of therapeutic maneuvres, and often the results are especially gratifying. In many conditions, however, there is little hope of development of specific therapy.“ Diese Sätze haben auch heute Gültigkeit, wenngleich der Anteil der behandelbaren Stoffwechselkrankheiten seitdem deutlich zugenommen hat. Nicht geändert haben sich seither die Grundzüge der therapeutischen Herangehensweise, die Johannes Häberle in seinem Beitrag erläutert und für die er Beispiele zeigt. Obwohl das Arsenal möglicher Therapien in den vergangenen Jahren stetig erweitert wurde, ist die Datengrundlage für einzelne Krankheiten oftmals gering. Dies stellt im Hinblick auf den Beginn einer Therapie und die Auswahl der geeignetsten Optionen eine Schwierigkeit dar. Auch die Beendigung einer Therapie ist eine Herausforderung, die Johannes Häberle am Ende seines Beitrags kurz diskutiert. Insgesamt betont er, dass Angeborene Stoffwechselstörungen individuell selten sind, aber sehr vielfältig, und vielfach behandelbar.

Einem spezifischen therapeutischen Ansatz und dessen Einsatzgebiet widmet sich der Beitrag von Sabine Scholl-Bürgi et al. aus Innsbruck mit dem Exkurs zu ketogenen Ernährungstherapien (KETh). Ketogene Ernährungstherapien sind verschiedene Ernährungsformen, denen die Reduktion der Kohlenhydratzufuhr bei gleichzeitiger Steigerung der Fettzufuhr gemeinsam ist. Unterschieden werden muss zwischen KETh als Lifestylemaßnahme und KETh als medizinisch notwendige, professionell begleitete und dauerhaft aufrechterhaltene Therapie. Am häufigsten werden KETh bei pharmakoresistenten Epilepsien und Epilepsiesyndromen eingesetzt. Bei Angeborenen Stoffwechselstörungen gibt es Erkrankungen mit klaren pathophysiologischen Merkmalen, bei denen KETh die Therapie der Wahl darstellen. Gleichzeitig erfolgt der Einsatz der KETh zunehmend bei anderen Angeborenen Stoffwechselstörungen mit weniger eindeutiger pathophysiologischen Vorgängen und bei Angeborenen Stoffwechselstörungen, bei denen eine pharmakoresistente Epilepsie trotz der zugrunde liegenden Stoffwechselstörung mit KETh behandelt wird. Sowohl bei pharmakoresistenten Epilepsien als auch bei Angeborenen Stoffwechselstörungen sind KETh etablierte Therapieoptionen und keinesfalls „alternative“ Therapieformen.

Der letzte Beitrag von Martina Huemer aus Bregenz/Basel/Zürich widmet sich der Frage nach dem Nutzen und der Wirkung von Leitlinien auf die Diagnosestellung und Therapievereinheitlichung auch bei Angeborenen Stoffwechselstörungen. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit der Frage, welchen Beitrag Leitlinien zur Standardisierung in der Medizin leisten können. Das Ziel von Leitlinien ist das Aussprechen evidenzbasierter Empfehlungen, um informierte Entscheidungen zu ermöglichen und die Variabilität klinischen Handelns zu reduzieren, also eine Standardisierung herbeizuführen. Leitlinien, die mithilfe transparenter, strukturierter Prozesse der Konsensfindung erstellt sowie zielgruppennah und pragmatisch implementiert werden, haben höhere Chancen, von ihren Adressat*innen umgesetzt zu werden und damit das Ziel der Standardisierung zu erreichen. Leitlinien und Standardisierung sollten jedoch Kreativität und Autonomie von Ärzteschaft und Patient*innen nicht ersticken. Abweichungen von der Leitlinie, um Anpassungen an die individuellen Situationen von Patient*innen vornehmen zu können, sollten in die Diskussion zur ständigen Verbesserung der Leitlinie einfließen. Leitlinienprozesse können ggf. aufdecken, zu welchen wichtigen Themen Evidenz fehlt und dadurch Forschung zum Schließen dieser Evidenzlücken inspirieren.

Wir hoffen, dass dieses Themenheft dazu beiträgt, Kinder- und Jugendärzt*innen in ihrer Kompetenz zu stärken, wenn es darum geht, Angeborene Stoffwechselstörungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen frühzeitig wahrzunehmen und Betroffene einer adäquaten Diagnostik und Therapie zuzuführen. Mit den verschiedenen Beiträgen haben wir einen Bogen zu spannen versucht, und hoffen, dass wir damit für die faszinierenden Zusammenhänge des menschlichen Stoffwechsels ein wenig begeistern können.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Lektüre – wie immer freuen wir uns über jegliche Form der Rückmeldung.

a.o. Univ.-Prof.in Dr. Daniela Karall, Präsidentin der ÖGKJ

Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl, Generalsekretär der ÖGKJ

Innsbruck/Leoben im September 2020