Anlässlich der 55. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ), die vom 21.09.2017 bis zum 23.09.2017 in Graz stattfindet, orientiert sich die Septemberausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde am Thema der Jahrestagung „Kinder wachsen – Kind erwachsen“.

Die Veranstaltung ist auch die „Abschiedsvorstellung“ von Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Urban, der mehrere Jahrzehnte die Abteilung für Kinder-Hämatoonkologie in Graz geleitet hat. Er war in all den Jahren (auch) mit innovativen Therapiezugängen darum bemüht, Kinder und Jugendliche mit bösartigen Erkrankungen nicht nur zu „survivors“ zu machen, sondern sie auch mit möglichst wenigen Spätfolgen und somit guter Lebensqualität aus der Therapie zu entlassen. In diesem Verständnis wurde das vorliegende Themenheft mit 4 Beiträgen von der Medizinischen Universität Graz gestaltet.

Während noch vor 50 Jahren ein Großteil der Kinder mit malignen Erkrankungen daran verstorben ist, überleben heute 70–80 % ihre Erkrankung. Bei bestimmten Erkrankungen wie der akuten lymphoblastischen Leukämie (ALL) werden sogar Überlebensraten deutlich über 90 % erzielt. Um diese Raten zu erreichen, müssen allerdings auch aggressive Therapieverfahren wie Polychemotherapie, Stammzelltransplantation, Strahlentherapie u. a. zur Anwendung kommen, bei soliden Tumoren praktisch immer in Kombination mit chirurgischer Tumorresektion oder -reduktion. Die (meist multimodale) Therapie so aggressiv wie nötig, aber so schonend wie möglich zu gestalten, ist eine der Aufgaben des interdisziplinären hämatoonkologischen Teams.

Therapien so aggressiv wie nötig, aber so schonend wie möglich gestalten

M. Bergovec et al. von der Grazer Universitätsklinik für Orthopädie und Traumatologie berichten über „Extremitätenerhaltende Chirurgie bei Tumoren im Kindesalter“. Sie führen aus, dass im Gegensatz zur früher häufig erfolgten Amputation heute verschiedene Möglichkeiten existieren, Extremitäten zu erhalten und damit ein besseres funktionelles Ergebnis zu erzielen, das oft auch mit weniger Stigmatisierung und besserer sozialer Integration einhergeht. Endoprothetische Rekonstruktionen können „legoartig“ entsprechend (auch an das Wachstum) angepasst werden und gewährleisten sofortige Stabilität. Allerdings gehen sie mit einer relativ hohen Infektionsrate einher, und in etwa 10 % der Fälle kommt es zu schweren Komplikationen. Biologische Rekonstruktionen erfolgen durch eigenes biologisches Material (Autografts), Knochen eines Fremdspenders (Allografts) oder durch Kombinationen auch mit Endoprothesen („allograft-prosthesis composite“). Die Fibula-pro-Tibia-Plastik ist eine typische derartige biologische Rekonstruktion mit meist gutem funktionellen Ergebnis. Sowohl endoprothetische als auch biologische Rekonstruktionen werden in dem Beitrag durch entsprechendes Bildmaterial illustriert. Die Autoren beschreiben schließlich Gründe für das „Versagen“ extremitätenerhaltender Verfahren und erwähnen Scoring-Systeme, mit denen das „Outcome“ im täglichen Leben objektiviert werden kann.

P. Sovinz et al. widmen ihren Beitrag zum Retinoblastom in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Essen einem Tumor, der zwar relativ selten ist, aber mehrere biologische Besonderheiten aufweist. So sind etwa 50 % aller Retinoblastomerkrankungen erblich bedingt, und Knudson hat mit seiner „two-hit hypothesis“ bereits 1971 darauf hingewiesen, dass für die Tumormanifestation 2 Mutationen erforderlich sind (sie beruht letztlich auf einem Fehlen des Tumorsuppressorgens RB1). Dies bedingt, dass erbliche Formen früher auftreten als nichterbliche und häufig beide Augen betreffen. Die frühzeitige Diagnose der Tumorerkrankung ist entscheidend für den weiteren Verlauf. Je früher der Tumor erkannt wird, desto besser ist die Prognose, insbesondere auch, was die Bulbuserhaltung und somit die Erhaltung der Sehfunktion betrifft. Die Autoren weisen daher nachdrücklich auf mögliche frühe „Warnsymptome“ hin. Dies sind in erster Linie die Leukokorie („Katzenauge“, weißlicher Pupillenreflex), neu auftretendes Schielen und Rötungen des (manchmal schmerzhaften) Auges. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die von der deutschen KinderAugenKrebsStiftung (KAKS) initiierte Aufklärungskampagne „Weiß sehen“, die modifiziert in Österreich übernommen wurde. Entsprechende Abbildungen der „Warnhinweise“ sollen das frühe Erkennen von Retinoblastomen unterstützen. Die Prognose der Erkrankung quo ad vitam ist gut, durch moderne und kombinierte Therapieverfahren (Lasertherapie, Kryotherapie, lokale und systemische Chemotherapie, Brachytherapie u. a.) kann oft die Sehfunktion befallener Augen erhalten werden. Wegen der (insbesondere bei erblichen Formen bestehenden) Prädisposition zu Zweitmalignomen ist jedoch eine lebenslange Nachsorge unumgänglich.

O. Kindler et al. stellen ein Projekt vor, das unter dem Namen www.SIC-reg.org ab Herbst 2017 in Betrieb gehen soll. Es handelt sich um ein prospektives Register für schwere Immunzytopenien. Dazu zählen u. a. die autoimmunhämolytische Anämie (AIHA), chronische Immunthrombozytopenien (cITP), immunologisch bedingte Panzytopenien und das Evans-Syndrom (ES). Diese gehen häufig mit einem primären Immundefekt (PID) einher, dessen frühzeitige Diagnose entscheidend ist für Behandlung und Outcome. Die Autoren bezeichnen die „Früherkennung zugrunde liegender Krankheiten“ auch als primäres Ziel des Projekts. Sekundärziele sind u. a. eine „Datenbank“ über Immunzytopenien, die Identifikation von Biomarkern und epigenetischen „modifiers“, die Beforschung von Off-label-Medikamenten und die Beurteilung der Lebensqualität betroffener Patienten („patient-reported outcome measures“, PROM). Das Projekt bzw. die Website soll allerdings nicht nur ein Register darstellen, sondern ebenso Therapie‑/Handlungsempfehlungen abbilden. Die Autoren stellen am Beispiel der cITP dar, dass derartige Handlungsempfehlungen bisher entweder nicht existieren oder uneinheitlich sind. Das Register soll somit in weiterer Folge dazu beitragen, die „Best-of“-Therapie zu erkunden und als Standard festzulegen.

E. Nagele et al. beleuchten schließlich den Aspekt der psychosozialen Versorgung hämatoonkologischer Patienten; diese wird als „Mehrgenerationenauftrag“ angesehen. Die Autoren betonen die Wichtigkeit eines stützend-supportiven Zugangs. Respekt vor der Integrität und Würde der Patienten und deren Angehörigen gehört ebenso zur ethischen Grundhaltung der TherapeutInnen wie die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung. Dabei verfolgt die psychosoziale Unterstützung 5 übergeordnete Ziele: Unterstützung der Krankheitsbewältigung, Sicherstellung der Therapie und Kooperation, Behandlung spezifischer Symptome, sozialrechtliche Beratung und Nachsorge betreffend psychosozialer Folgeerscheinungen. Hierfür ist es entscheidend, einerseits mit dem (übrigen) Behandlungsteam zusammenzuarbeiten, aber auch die Ressourcen der Patienten und deren Familien zu erkunden und zu nutzen. Dabei gelten die Angehörigen ebenfalls als „Betroffene“, insbesondere die als „Schattenkinder“ bezeichneten Patientengeschwister. Die Autorengruppe beschreibt, welche Methoden therapeutisch zur Anwendung kommen und dass Bücher, Spiele, Geschichten, Zeichnungen und Filme die altersadäquate Aufklärung unterstützen können. Bezüglich des „Schmerzes“ wird weniger die absolute Schmerzfreiheit als die Erarbeitung von Bewältigungs- und Kontrollmechanismen in den Vordergrund gestellt. Schließlich beschreiben die Autoren das „Grazer Modell“ der psychosozialen Nachsorge/Rehabilitation. Diese verfolgt das Ziel der bestmöglichen psychosozialen Reintegration, um auch auf diese Weise die Lebensqualität „danach“ zu optimieren.

Auch wenn Hämatoonkologie in der Pädiatrie eher ein „Nischenthema“ darstellt, hoffen wir mit diesem Themenheft und den 4 ausgewählten Beiträgen das Interesse der Leserschaft zu finden.

Im Namen zahlreicher PatientInnen, die heute als „survivors“ ein gutes Leben führen, danke ich Herrn Professor Urban für seinen unermüdlichen Einsatz an der Grazer Klinik im Dienst „seiner Kinder“ und deren Angehörigen und wünsche ihm das Allerbeste für die Zeit nach seiner Emeritierung.

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Reinhold Kerbl