Die 1. Revision der S2k „Sepsisleitlinie“ wurde von Dezember 2007 bis Februar 2010 unter Beteiligung von Mandatsträgern aus 17 deutschen Fachgesellschaften entsprechend den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin entwickelt, wie sie von der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) und dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (AZQ) als Standard definiert wurden. Die Leitlinie berücksichtigt Aspekte der Diagnostik, der kausalen, supportiven und adjunktiven Therapie sowie Präventions- und Nachsorgemaßnahmen. Die wichtigsten Inhalte zu Diagnostik und Therapie wurden in dieser Zeitschrift bereits kürzlich publiziert [10, 11]. Der aktuelle Beitrag enthält die aktuellen Empfehlungen zu den Präventions- und Nachsorgemaßnahmen.

Zahlen zur Häufigkeit von Krankenhausinfektionen, deren Vermeidbarkeit und hierdurch verursachter Todesfälle finden sich nicht nur in der medizinischen Fachliteratur, auch in den Medien werden hierzu immer wieder Zahlen präsentiert. Die Seriosität der Beiträge lässt sich mitunter nur schwer beurteilen, gerade polarisierende Beiträge mit hohen Zahlen zu Infektions- und Todesfällen stoßen auf ein breites gesellschaftliches Interesse und verunsichern die Patienten. In einem kürzlich publizierten gemeinsamen Positionspapier des Nationalen Referenzzentrums für die Surveillance von nosokomialen Infektionen (NRZ), der Deutschen Sepsis-Gesellschaft (DSG), dem Aktionsbündnis Patientensicherheit und der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI) wurde daher ein Versuch unternommen, das Problem nosokomialer Infektionen auf der Grundlage vorliegender Daten realistischer zu beziffern [31]. Hier wird davon ausgegangen, dass von den jährlich 400.000–600.000 nosokomialen Infektionen ca. 80.000–180.000 potenziell vermeidbar sind. Nimmt man bei 7500–15.000 Todesfällen wegen nosokomialer Infektionen einen Anteil von 20–30% vermeidbarer Fälle an, könnten zwischen 1500–4500 Patienten pro Jahr in Deutschland an einer (potenziell) vermeidbaren nosokomialen Infektion versterben.

Angesichts der Bedeutung von Maßnahmen zur Prävention von Krankenhausinfektionen wurde daher das Kapitel „Prävention“ in den Titel der revidierten Leitlinie aufgenommen und gegenüber der 1. Auflage wesentlich erweitert. Überdies wurden Impfempfehlungen für Risikopatienten entlang den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI) bzw. den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) des Robert Koch-Instituts erstellt.

Ein erhebliches Defizit besteht in der Erforschung und Behandlung der Langzeitfolgen eines – dank der modernen Intensivtherapie – überlebten septischen Multiorganversagens. Von ca. 75.000 Patienten überleben in Deutschland jährlich ca. 35.000 eine schwere Sepsis bzw. einen septischen Schock [27]. Neben den Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität [42] leiden ca. 70% dieser Patienten unter langwierigen funktionellen Einschränkungen, wie Critical-illness-Polyneuropathie und -Myopathie [8, 84], Störungen des Protein- und Glukosemetabolismus und neurokognitiven Einschränkungen („posttraumatic stress disorder“, PTSD und Depressionen; [22, 45]). Sepsispatienten werden zu einem Zeitpunkt aus der akutmedizinischen Versorgung entlassen, an dem die Folgen der Erkrankung noch nicht überwunden sind (Abb. 1). Die Langzeitfolgen einer Sepsis sind den nachbehandelnden Ärzten in der Regel jedoch wenig bekannt, da diese Diagnosen nicht in den Krankenhausentlassungsberichten enthalten sind. Die Nachsorge erfolgt nicht strukturiert [23], bis heute gibt es für Postsepsispatienten weder therapeutische Rehabilitationsstandards noch speziell ausgerichtete Rehabilitationseinrichtungen.

Der Appell zur Verbesserung der postakut-stationären Nachsorge von Patienten, welche eine Sepsis überlebt haben, wurde nicht zuletzt aufgrund der wichtigen Hinweise der Selbsthilfegruppe „Deutsche Sepsis-Hilfe e.V.“ neu in die Leitlinie aufgenommen.

Abb. 1
figure 1

Krankheitsbelastung im Verlauf

Empfehlungen gemäß den Regeln der S2k-Leitlinien

Bei der Erstellung dieser Empfehlungen wurden die zugrunde liegenden Studien von dem Expertenkomitee gesichtet und gemäß Oxford Centre of Evidence Based Medicine in Evidenzgrade eingeteilt (Tab. 1).

Tab. 1 Evidenzgrade

Das „Alle-oder-Keiner-Prinzip“ (Evidenzgrad Ic) erlaubt die Graduierung von medizinischen Maßnahmen, die fester Bestandteil der ärztlichen Routineversorgung sind, ohne dass entsprechende Studien vorliegen müssen, da diese aus ethischen Gründen nicht möglich sind (z. B. Sauerstoffinsufflation bei Hypoxie). Trotz der zunehmenden Akzeptanz von systematischen Übersichtsarbeiten müssen diese auch kritisch bewertet werden. So hatte eine kürzliche Metaanalyse einiger Studien mit kleinen Fallzahlen einen protektiven Effekt einer Therapie ergeben [95], der dann durch eine große prospektive Studie widerlegt wurde [1]. Auch muss bedacht werden, dass bei Metaanalysen eine Selektion von Studien mit positiven Ergebnissen vorliegen kann (Publikationsbias).

Gemäß der Evidenzgrade können für eine bestimmte Fragestellung Empfehlungen mit Empfehlungsgrad ausgesprochen werden ([77]; Tab. 2).

Tab. 2 Empfehlungsgrade

Dabei wird der Evidenzgrad der Studie benannt, die zu dem entsprechenden Empfehlungsgrad geführt hat. Das Expertenkomitee kann per Abstimmung entscheiden, den Empfehlungsgrad um eine Stufe auf- bzw. abzuwerten. Die Umwertung muss begründet werden (s. auch ausführlichen Methodenreport).

Prävention

Programme zur Infektionsprävention (ventilatorassoziierte Pneumonien, ZVK-assoziierte Bakteriämie, katheterassoziierte Harnweginfektionen)

– An das Intensivpersonal gerichtete Schulungsprogramme und Präventionsprotokolle werden empfohlen, da diese nachweislich die Rate an ventilatorassoziierten Pneumonien [3, 18, 50, 52, 96, 78], ZVK-assoziierten Bakteriämien [3, 4, 74, 90, 91] und katheterassoziierten Harnweginfektionen reduzieren [83].

Empfehlung Grad B (Evidenzgrad IIc für [3, 74])

– Es wird empfohlen, die Rate an ventilatorassoziierten Pneumonien (VAP) und ZVK-assoziierten Bakteriämien regelmäßig zu erfassen und zu analysieren, um Trends zu erfassen und die Situation der eigenen Intensivstation im Vergleich zu anderen zu beurteilen. Deshalb sollten einheitliche Definitionen zur Diagnose einer VAP und ZVK-assoziierten Bakteriämie Verwendung finden [13, 65] und einheitliche Raten bestimmt werden (Anzahl ventilatorassoziierte Pneumonien pro 1000 Beatmungstage und Anzahl von Bakteriämien pro 1000 ZVK-Tage; [13, 32, 65]). Auch wird empfohlen, die verursachenden Erreger und deren Resistenzsituation regelmäßig zu erfassen und zu analysieren.

Empfehlung Grad B (Evidenzgrad IIc für [32])

Umgang mit „devices“

– Eine hygienische Händedesinfektion vor und nach Patientenkontakt wird empfohlen [9, 73].

Empfehlung Grad A (Evidenzgrad Ia für [9])

Kommentar: Die hygienische Händedesinfektion vor Patientenkontakt ist die wichtigste Maßnahme zur Vermeidung der Erregerübertragung auf die Patienten. Die regelmäßige hygienische Händedesinfektion nach Patientenkontakt dient v. a. dem Personalschutz und der Vermeidung der Erregerausbreitung in der unbelebten Patientenumwelt. In den letzten Jahren wurde in verschiedenen Studien gezeigt, dass mit Steigerung der Compliance zur Händedesinfektion die Inzidenz nosokomialer MRSA-Infektionen signifikant reduziert werden konnte [73, 87].

– Eine aseptische Technik bei der Anlage von zentralen Venenkathetern und anderen vergleichbaren zentralen intravasalen Kathetern wird empfohlen [75].

Empfehlung Grad A (Evidenzgrad Ib für [75])

Kommentar: In einer randomisierten kontrollierten Studie wurde der Vorteil der gemeinsamen Anwendung von sterilen Handschuhen, sterilem Kittel, Mund-Nasen-Schutz, Kopfhaube und großem Abdecktuch vs. sterile Handschuhe und kleinem Abdecktuch bei der Anlage von zentralen Venenkathetern gezeigt. Es gibt keine randomisierten kontrollierten Studien, die den Beitrag der verschiedenen Einzelkomponenten untersucht haben.

– Sofern diese nicht mehr indiziert sind, wird die unverzügliche Entfernung von intravasalen und Harnwegskathetern empfohlen [70].

Empfehlung Grad A (Evidenzgrad Ic)

– Ein routinemäßiger Wechsel von intravasalen und Harnwegskathetern wird nicht empfohlen [20].

Empfehlung Grad B (Evidenzgrad Ib für [20])

– Der Einsatz von Endotrachealtuben mit der Möglichkeit zur subglottischen Absaugung kann erwogen werden, da diese mit geringeren Pneumonieraten assoziiert sind [24, 63].

Empfehlung Grad C (Evidenzgrad IIb für [63])

Körperposition

– Es wird empfohlen, eine Oberkörperhochlagerung so häufig wie möglich zur Vermeidung einer ventilatorassoziierten Pneumonie (VAP) bei intubierten Patienten durchzuführen – sofern hierfür keine Kontraindikation besteht.

Empfehlung Grad B (Evidenzgrad IIb für [26])

Kommentar: Die Aspiration von bakteriell kontaminierten Sekreten des oberen Magen-Darm-Trakts und des Pharynx wird allgemein als Risikofaktor und Auslöser für die Entwicklung einer nosokomialen und ventilatorassoziierten Pneumonie (VAP) angesehen. Daraus wird geschlossen, dass Maßnahmen, die zu einer Abnahme des gastroösophagealen Refluxes und einer Reduktion der oropharyngealen Sekretmenge führen, mit einer geringeren Inzidenz nosokomialer Pneumonien und VAP einhergehen [19, 47, 48, 55]. Die Effekte der Oberkörperhochlagerung zur Prävention einer Aspiration und Pneumonie wurde bei orotracheal intubierten Patienten ohne bekannte Risikofaktoren für einen gastroösophagealen Reflux, die mit einer nasogastralen Sonde versorgt waren, eine Stressulkusprophylaxe erhielten und bei denen der endotracheale Cuffdruck kontrolliert und über 25 cmH2O gehalten wurde, untersucht. Ein Teil der eingeschlossenen Patienten erhielt eine enterale Ernährung. Bei diesen Patienten führte eine kontinuierliche 45°-Oberkörperhochlagerung zu einer Verzögerung des gastroösophagealen Refluxes und/oder zu einer Abnahme, aber nicht vollständigen Vermeidung der pulmonalen Aspiration pharyngealer Sekrete [68, 85] und der Inzidenz der VAP [26] verglichen mit einer flachen Rückenlagerung (0°-Oberkörperhochlagerung). Die 30°-Oberkörperhochlagerung in Kombination mit der Absaugung subglottischer Sekrete führte nicht zu einer Reduktion der Kolonisation der unteren Atemwege verglichen mit einer flachen Rückenlagerung mit 0°-Oberkörperhochlagerung [34]. Obwohl die 45°-Oberkörperhochlagerung in einer klinischen Untersuchung in der Interventionsgruppe angestrebt wurde, zeigten Messungen, dass trotz Studienbedingungen nur eine Oberkörperhochlagerung von 30° erreicht wurde. Diese Oberkörperhochlagerung von 30° führte nicht zu einer Reduktion der Inzidenz der VAP verglichen mit einer flachen Rückenlagerung mit 10°-Oberkörperhochlagerung [66].

Ernährung

– Nach einer Metaanalyse führt eine frühe orale bzw. enterale Ernährung bei chirurgischen Patienten mit Operationen am Gastrointestinaltrakt zu einer Verminderung von Infektionen und der Aufenthaltsdauer im Krankenhaus [62]. Eine frühe orale bzw. enterale Ernährung wird bei solchen Patienten empfohlen.

Empfehlung Grad B (Evidenzgrad Ia für [62])

Kommentar: Unter früher enteraler bzw. oraler Ernährung ist der Ernährungsaufbau binnen 24 h postoperativ zu verstehen. Die Menge der zugeführten Ernährung hat sich nach der Toleranz des Patienten zu richten. Auch geringe Mengen von Nahrungs- bzw. Flüssigkeitszufuhr sind bereits mit einer Verbesserung des Verlaufs verbunden. Eine Sondenernährung ist lediglich dann erforderlich, wenn der Patient nicht im Stande ist, selbständig zu schlucken [92].

Immunonutrition

– Der perioperative bzw. postoperative Einsatz von immunmodulierenden Sondennahrungen (Arginin, ω3-Fettsäuren, Nukleotide) bei elektiven chirurgischen Patienten mit gastrointestinalen Tumoren oder Polytraumapatienten, die enteral ernährt werden können, wird empfohlen, da derartige Sondennahrungen mit einer Verminderung der Aufenthaltsdauer im Krankenhaus und einer Reduktion nosokomialer Infektionen assoziiert sind [41, 43].

Empfehlung Grad A (Evidenzgrad Ia für [43])

Insulintherapie

– Die routinemäßige Anwendung einer intensivierten intravenösen Insulintherapie mit dem Ziel der Wiederherstellung einer Normoglykämie (4,4–6,1 mmol/l (80–110 mg/dl) kann bei Intensivpatienten außerhalb klinischer Studien nicht empfohlen werden.

Empfehlung Grad A (Evidenzgrad Ia für [93])

Kommentar: Eine kontinuierliche intravenöse Verabreichung von Insulin mit dem Ziel der Wiederherstellung einer Normoglykämie (4,4–6,1 mmol/l bzw. 80–110 mg/dl) bei Intensivpatienten war nach der bisher vorliegenden Datenlage eine Maßnahme, welche septische Komplikationen bei postoperativen und mechanisch beatmeten, überwiegend kardiochirurgischen Patienten verhindert (Prävention einer schweren Sepsis) und damit zu einer Senkung der Letalität und Morbidität beitragen könnte [6, 57]. Dieses ist jedoch nur in einer monozentrischen randomisierten Studie gezeigt worden; eine konfirmative Studie stand bisher aus. In einer weiteren Studie konnte bei internistischen Intensivpatienten weder eine Reduktion septischer Komplikationen noch ein Überlebensvorteil nachgewiesen werden, bei einer gleichzeitigen Steigerung der Rate schwerer Hypoglykämien (<40 mg/dl bzw. 2,2 mmol/l) um den Faktor 5–6 [5]. In einer 2008 publizierten Metaanalyse [93], in der die Ergebnisse von 29 randomisierten Studien mit insgesamt 8432 eingeschlossenen Patienten analysiert wurden, zeigte sich kein Unterschied in der Krankenhaussterblichkeit zwischen Patienten, welche mit oder ohne eine „tight glycemic control“ (TGC), d. h. mit einer intensivierten intravenösen Insulintherapie (Zielwerte 80–110 mg/dl) oder einer moderaten Kontrolle der Hyperglykämie (Zielwerte <150 mg/dl) behandelt wurden (23% vs. 25,2%; RR 0,90; 95% CI 0,77–1,04; bzw. 17,3% vs. 18,0%; RR 0,99; 95% CI 0,83–1,18). Weder auf rein chirurgischen Intensivstationen (8,8% vs. 10,8%; RR 0,88; 95% CI 0,63–1,22), noch rein internistischen (26,9% vs. 29,7%; RR 0,92; 95% CI 0,82–1,04) oder internistisch-chirurgischen Intensivstationen (26,1% vs. 27,0%; RR 0,95; 95% CI 0,80–1,13) zeigte sich ein Überlebensvorteil durch TGC. Die intensivierte intravenöse Insulintherapie reduzierte nicht die Rate eines nierenersatzpflichtigen akuten Nierenversagens (11,2% vs. 12,1%; RR 0,96; 95% CI 0,76–1,20), jedoch die „Sepsisrate“ (10,9% vs. 13,4%; RR 0,76; 95% CI 0,59–0,97). Allerdings war dieser Unterschied auf chirurgische Intensivpatienten beschränkt. Zudem wiesen diese Patienten eine – im Vergleich zu Patienten mit schwerer Sepsis – ungewöhnlich geringe Sterblichkeit auf. Eine TGC erhöhte das Risiko schwerer Hypoglykämien (Glukose: ≤40 mg/dl; bzw. 2,2 mmol/l) signifikant (13,7% vs. 2,5%; RR 5,13; 95% CI 4,09–6,43). Die Ergebnisse der NICE-SUGAR-Studie aus dem Jahre 2009 [29] und eine nachfolgende neuere Metaanalyse unter Einbeziehung dieser Studie [37] haben bestätigt, dass eine intensivierte intravenöse Insulintherapie mit dem Ziel der Wiederherstellung einer Normoglykämie nicht in der klinischen Routine durchgeführt werden sollte.

– Eine intravenöse moderate Insulintherapie zur Senkung erhöhter Glukosespiegel (Schwellenwert von >150 mg/dl bzw. >8,3 mmol/l) kann bei Intensivpatienten erwogen werden Footnote 1.

Empfehlung: Grad E (Evidenzgrad V: Expertenmeinung)

Kommentar: Ob eine moderatere Einstellung der Blutglukose vorteilhaft ist, ist derzeit nicht durch Studien belegt. Bei erhöhten Blutzuckerwerten sollte zunächst die parenteral zugeführte Glukosemenge reduziert und die Indikation einer evtl. bestehenden Medikation mit Glukokortikosteroiden überprüft werden. Bei älteren Patienten (>60 Jahre), bei internistischen Patienten und bei Patienten mit ansonsten hoher Krankheitsschwere besteht ein erhöhtes Risiko für eine Hypoglykämie bei der Anwendung einer Insulintherapie in der Intensivmedizin. Vermutlich ist das Risiko schwerer Hypoglykämien durch eine moderate intravenöse Insulintherapie geringer. Eine engmaschige (initial 1- bis 2-stündliche) bettseitige Kontrolle der Blutglukose ist jedoch auch hier zwingend erforderlich. Die Messung der Glukosekonzentration im Vollblut gehört u. a. wegen ihrer Abhängigkeit vom aktuellen Hämatokrit zu den komplexesten Laborbestimmungen bei intensivmedizinischen Patienten [12]. Aufgrund der mangelnden Präzision (Variationskoeffizient bis >20%) und geringen Sensitivität im hypoglykämischen Messbereich der gegenwärtig verfügbaren Messgeräte zur Bestimmung der Glukosekonzentration im Vollblut sollten nur Geräte zur Anwendung kommen, welche die sichere und frühzeitige Detektion einer Hypoglykämie gewährleisten [17].

Selektive Darmdekontamination

Vorbemerkung:

In zahlreichen Studien konnte nachgewiesen werden, dass durch eine selektive Darmdekontamination (SDD) die Rate an nosokomialen Infektionen – v. a. Pneumonien und Bakteriämien – bei Intensivpatienten reduziert werden kann [58, 64, 81]. Darüber hinaus zeigten 4 unabhängige prospektive, randomisierte klinische Studien, dass durch SDD die Letalität von beatmeten Intensivpatienten reduziert wird. Die selektive Darmdekontamination besteht aus einer 2- bis 4-tägigen intravenösen Antibiotikagabe, meist Cefotaxim (sofern nicht ohnehin bereits Antibiotika gegeben werden) und der topischen Applikation von nicht-resorbierbaren Antibiotika in den Mund-Rachen-Raum und über eine Magensonde während der gesamten Intubationsdauer. In einzelnen Studien konnte eine Reduktion der Pneumonie-Inzidenz auch durch alleinige selektive orale Dekontamination (SOD, ohne intravenöse oder gastrale Gabe) erreicht werden [7]. Eine Studie zeigte bezüglich der Letalitätsreduktion eine ähnlich gute Wirksamkeit von SOD im Vergleich zu SDD [82].

– Es wird empfohlen, die selektive (orale) Darmdekontamination bei Patienten mit voraussichtlich längerer Beatmungsdauer (>48 h) zur Prophylaxe von Infektionen anzuwenden.

Empfehlung Grad A (Evidenzgrad Ia für [82])

Kommentar: In einer Publikation wurde bei insgesamt 934 Patienten eine verringerte Sterblichkeit auf der Intensivstation (15 vs. 23%; p<0,002) und im Krankenhaus (24 vs. 31%, p<0,02) bei kritisch kranken Patienten durch Verwendung der SDD nachgewiesen. Allerdings handelte es sich bei dieser Studie nicht um eine patienten- sondern stationsbezogene randomisierte Studie [53]. In einer bizentrischen, prospektiven, randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie an 546 chirurgisch-traumatologischen Intensivpatienten war die Überlebensrate während des gesamten stationären Aufenthalts und nach 60 Tagen in der SDD-Gruppe mit initialem APACHE-II-Score von 20–29 signifikant verbessert [58]. In einer weiteren prospektiven, randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie an insgesamt 107 schwer brandverletzten Patienten war die intensivstationäre Letalität signifikant reduziert (9,4% vs. 27,8%; RR 0,25; 95% CI 0,10–0,80; [59]) Zwei Langzeitstudien zeigten keine relevanten Resistenzprobleme nach mehrjähriger Anwendung von SDD [40, 61]. Voraussetzung für die Verwendung von SDD sollte das regelmäßige Führen von Resistenzstatistiken sein, um ein gehäuftes Auftreten von multiresistenten Erregern rechtzeitig zu erkennen. Der Vorteil von SDD bei hoher Prävalenz von methicillinresistenten Staphylokokken ist nicht bewiesen [53].

In einer 3-armigen, prospektiven, offenen Studie in 13 Intensivstationen mit randomisiertem halbjährlichem Wechsel zwischen SDD, SOD oder keiner dieser Maßnahmen („cluster randomised design“) an über 6000 Patienten zeigte sich zunächst kein Benefit durch SDD oder SOD bezüglich der 28-Tage-Letalität [82]. Allerdings waren die Studiengruppen bezüglich begleitender Risikofaktoren nicht ausgewogen verteilt, zum Nachteil der beiden Behandlungsgruppen. Eine logistische Regressionsanalyse ergab einen signifikanten Überlebensvorteil für die Patienten der SDD-Gruppe, wenn die Faktoren Alter >65 Jahre und APACHE-Score >20 rechnerisch ausgeglichen wurden. Nach Einbeziehen weiterer Faktoren zeigte sich für SOD ebenfalls ein signifikanter Überlebensvorteil. Es überrascht nicht, dass das Weglassen der gastralen Antibiotikagabe keinen wesentlichen Einfluss hat, da die Notwendigkeit dieser Maßnahme in der gesamten SDD-Literatur am wenigsten belegt ist und die oral applizierten Antibiotika ohnehin in den Magen gelangen. Ob die intravenöse Antibiotikagabe tatsächlich entbehrlich ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten, da in allen SDD-Studien die Mehrheit der Patienten – auch in den Kontrollgruppen – intravenöse Antibiotika bekamen und in den SDD-Gruppen in den meisten Studienprotokollen auf die zusätzliche Gabe von Cefotaxim verzichtet wurde, wenn die Patienten Antibiotika aus klinischer Indikation bekamen. In der Arbeit von de Smet et al. war trotz Routinegabe von Cefotaxim der Gesamtverbrauch an i.v.-Antibiotika in der SDD-Gruppe am niedrigsten und in der Standardgruppe am höchsten (Tab. 3 Footnote 2).

Tab. 3 Regime zur Darmdekontamination. (Nach [82])

Orale Antiseptika zur Mundpflege

– Es wird empfohlen, orale Antiseptika zur Prophylaxe von Infektionen anzuwenden.

Empfehlung Grad A (Evidenzgrad Ia für [16])

Kommentar: Mehrere Arbeiten zeigen, dass die VAP-Inzidenz reduziert werden kann, wenn orale Antiseptika (meist 0,12–0,2% Chlorhexidin) zur Mundpflegelösung und zum Zähneputzen bei Intensivpatienten hinzugefügt werden [14, 16, 54, 80]. In einer Metaanalyse an 1650 Patienten zeichnete sich dadurch aber kein Überlebensvorteil ab [16].

Präemptive antimykotische Behandlung

– Effektivität und Sicherheit einer präemptiven antimykotischen Behandlung bei Intensivpatienten sind nicht ausreichend untersucht [44, 72], eine derartige Intervention wird daher nicht empfohlen.

Empfehlung Grad E (Evidenzgrad V: Expertenmeinung)

Imprägnierte Gefäßkatheter

– Wenn die Infektionsraten trotz intensiver Kontrollanstrengungen hoch bleiben [33, 51, 86, 89], wird die Anwendung von mit Antiseptika imprägnierten Kathetern empfohlen.

Empfehlung Grad E (Evidenzgrad V: Expertenmeinung)

Kommentar: Antibiotikaimprägnierte Katheter reduzieren die Infektionsraten [28], es ist aber ungeklärt, wie sich ihre routinemäßige Anwendung in Bezug auf die Resistenzraten auswirkt.

Personalausstattung

– Eine qualitativ und quantitativ ausreichende Personalausstattung von Intensivstationen wird empfohlen [2, 25, 30, 38, 39, 46, 71, 76, 38, 39, 46].

Empfehlung Grad C (Evidenzgrad IIb für [46])

Kommentar: In der Vergangenheit konnte im Rahmen von Ausbruchsepisoden wiederholt gezeigt werden, dass die Ausbruchsereignisse mit Personalmangelsituationen assoziiert waren. Kürzlich wurde auch für endemische Situationen gezeigt, dass Personalmangel mit einer hohen Sepsisinzidenz assoziiert war [46].

Impfungen

– Bei Patienten mit anatomischer oder funktioneller Asplenie wird unabhängig von der Grunderkrankung vor (falls möglich) oder während des stationären Aufenthalts nach Splenektomie eine Impfung gegen Pneumokokken empfohlen. Bei älteren Kindern (ab 5 Jahren) und Erwachsenen wird die Polysaccharidvakzine empfohlen, eine Wiederimpfung (mit Polysaccharidvakzine) sollte alle 5–6 Jahre erfolgen.

Empfehlung: Grad B (Evidenzgrad IIa für [94])

Kommentar: Patienten mit Splenektomie aufgrund einer hämatologischen Tumorerkrankung haben ein höheres Risiko einer unzureichenden Impfantwort und ein höheres Risiko für ein Impfversagen [15, 60]. Aufklärung der Patienten, Angehörigen und primär betreuenden Ärzte, Aushändigen eines entsprechenden Ausweises und Dokumentation der Impfungen sind daher wesentlich. Eine dauerhafte Antibiotikaprophylaxe (mit Oralpenizillin oder niedrig dosiertem Erythromycin) wird von einigen Gesellschaften zusätzlich zur Impfung empfohlen [21, 94]. Die Bestimmung von Antikörpertitern nach Impfung zur Indikationsstellung für eine vorzeitige Wiederimpfung bzw. Antibiotikaprophylaxe ist umstritten [60]. Patienten mit Asplenie haben auch ein höheres Risiko für schwer verlaufende Infektionen nach Bissverletzung, bei Malaria und Babesiose, möglicherweise auch bei anderen Erregern. Die verfügbaren Pneumokokkenkonjugatvakzine sind bislang nur im pädiatrischen Bereich zugelassen.

– Bei Patienten mit anatomischer oder funktioneller Asplenie, die bisher nicht geimpft sind, werden unabhängig von der Grunderkrankung vor (falls möglich) oder 2 Wochen nach Splenektomie die einmalige Impfung gegen Haemophilus Typ B sowie die Impfung gegen Meningokokken der Serogruppe C (Konjugatvakzine) und nachfolgend (Abstand 6 Monate) die Impfung mit 4-valentem Meningokokkenpolysaccharidimpfstoff empfohlen. Die Impfungen gegen Pneumokokken und Meningokokken werden – analog zur Empfehlung bei Asplenie – auch empfohlen bei Patienten mit medikamentöser Immunsuppression bzw. mit andersartigen Immundefekten, bei denen von einer T- und/oder B-zellulären Restfunktion ausgegangen werden kann.

Empfehlung: Grad E (Evidenzgrad V für [21, 94])

– Bei Patienten mit chronischen Krankheiten (Herz, Kreislauf, Atmungsorgane, Diabetes mellitus, Niere, zentrales Nervensystem inkl. Liquorfistel) sowie bei Patienten (unabhängig von einer Grunderkrankung), die 60 Jahre oder älter sind, wird ebenfalls eine Impfung gegen Pneumokokken empfohlen. Bei älteren Kindern (ab 5 Jahren) und Erwachsenen wird die Polysaccharidvakzine empfohlen. Die verfügbaren Pneumokokkenkonjugatvakzine sind bislang nur im pädiatrischen Bereich zugelassen. Die Wiederimpfung mit Pneumokokkenpolysaccharidvakzine wird bei diesen Patienten inzwischen nicht mehr empfohlen Footnote 3 (Ausnahme: nephrotisches Syndrom).

Empfehlung: Grad C (Evidenzgrad IIb für [49, 88].

Kommentar: Man rechnet in Deutschland jährlich mit ca. 10.000 Todesfällen durch Pneumokokkeninfektionen. Hauptbetroffene sind Menschen über 60 Jahren. Anhand der Kapselpolysaccharide werden 90 Pneumokokkenserotypen unterschieden. Die verfügbaren 23-valenten Pneumokokkenimpfstoffe erfassen 90% der Serotypen, die für Pneumokokkenerkrankungen ursächlich sind. Sie reduzieren das Bakteriämierisiko um 40–50% und verhindern Pneumonietodesfälle. Inwieweit Patienten in dieser Altersgruppe, die kürzlich wegen einer Pneumonie stationär behandelt werden, von einer Impfung profitieren, ist nicht klar [69].

Nachsorge und Rehabilitation

Vorbemerkung:

Neben den im Rahmen validierter Testinstrumente (z. B. SF-36) erfassten Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität [36, 42, 56] leiden eine Vielzahl von ehemaligen Sepsispatienten unter funktionellen Einschränkungen, die unter den Begriffen Critical Illness Polyneuropathy (CIP) bzw. Critical Illness Myopathy (CIM) seit mehr als 2 Jahrzehnten bekannt sind [8]. Mehr als 70% der Patienten mit septischem Schock und mehr als 60% der mechanisch beatmeten Patienten sowie der Patienten mit einer schweren Sepsis zeigen signifikante elektrophysiologische Veränderungen bereits 3 Tage nach Aufnahme auf die Intensivstation [84]. Assoziationen mit myopathischen oder neuropathischen Veränderungen zeigen neben der Sepsis und der Beatmung auch das Multiorganversagen, das „acute respiratory distress syndrom“ ARDS, systemische Inflammation, Kortikosteroide, Störungen des Glukosemetabolismus und die Liegedauer auf der Intensivstation. In der Summe werden bei Patienten mit CIP/CIM häufiger Schwierigkeiten bei der Entwöhnung vom Ventilator („weaning failure“) und prolongierte Phasen der posthospitalen Rehabilitation beobachtet [84]. Zunehmend in den Blickpunkt geraten im Zusammenhang der perihospitalen funktionellen Entwicklung auch das Delirium während der Intensivtherapie sowie anhaltende neurokognitive Einschränkungen, posttraumatischer Distress (PTSD) und Depressionen [22, 79]. Der Grad der durch eine Sepsis resultierenden Funktionsdefizite und somit die tatsächliche Lebensqualität der Betroffenen kann jedoch durch eine geeignete Rehabilitationsmaßnahme durchaus beeinflussbar sein. Allerdings gibt es bis heute weder therapeutische Rehabilitationsstandards noch auf diese Patienten ausgerichtete Rehabilitationseinrichtungen, da die Langzeitfolgen einer Sepsis nach intensivtherapeutischer Behandlung den nachbehandelnden Ärzten in der Regel wenig bekannt sind. Bis zur Einführung der DRGs wurden Sepsispatienten bis zu ihrer „Entlassungsfähigkeit“ in der Regel im Akutkrankenhaus versorgt, welches jedoch im Allgemeinen nicht über entsprechende rehabilitationsmedizinische Ressourcen verfügt. Mit Einführung der DRGs sehen sich diese Patienten jedoch mit einem weiteren Problem konfrontiert. Aufgrund zukünftig fehlender Abrechnungsgrundlagen ist das Akutkrankenhaus an einer vorzeitigen Entlassung des Patienten interessiert, um das pro Behandlungsfall zur Verfügung stehende Budget nicht über Gebühr zu überschreiten. Das Ergebnis ist, dass Sepsispatienten nun noch früher aus der akutmedizinischen Versorgung entlassen werden. Gezielte Untersuchungen sind notwendig, um unser Verständnis der häufig lang andauernden neurokognitiven und motorisch-funktionellen Beeinträchtigungen dieser Patientengruppe zu verbessern und mögliche Präventions- bzw. Therapieansätze aufzuzeigen [35].

– Es wird empfohlen, typische Sepsisfolgen – sofern möglich – bereits im akutmedizinischen Bereich zu erfassen und die nachbehandelnden Ärzte im Postakut- und ambulanten Bereich über diesbezüglich bestehende bzw. potenziell im Langzeitverlauf auftretende Funktionsdefizite hinzuweisen.

Empfehlung Grad E (Evidenzgrad V: Expertenmeinung)

Kommentar: Die Deutsche Sepsis-Gesellschaft e.V. hat gemeinsam mit der Selbsthilfegruppe Deutsche Sepsis-Hilfe e.V. eine Informationsbroschüre (Sepsis-Informationen für Patienten und Angehörige, 3. Auflage 2009. Deutsche Sepsis-Hilfe e.V., www.sepsis-hilfe.org) zu Sepsisfolgen herausgegeben, welche Patienten, Angehörigen und nachbehandelnden Ärzten kostenlos zur Verfügung gestellt wird.