Warum brauchen wir ein Staatsexamen?

Im Masterplan Medizinstudium 2020 wird gefordert, die ensprechend der Ärztlichen Approbationsordnung (ÄAppO) durchzuführenden Staatsexamina kompetenzorientiert zu gestalten [1, 2]. Staatsexamina sind eine Erfindung der Preußen unter Friedrich I. und eine Reaktion auf Missstände an den Universitäten, denn „… es gab einen Überfluss an unfähigen Akademikern, während im Handwerk und anderen praktischen Berufen der Nachwuchs fehlte“ [3]. Zuerst bei den Juristen eingeführt, wurden sie um 1820 auch in der Medizin etabliert. Staatsexamina haben nach wie vor die Aufgabe, für den Staat und die Bevölkerung, bei aller Freiheit der Forschung und Lehre, die Qualität der Absolventen zu sichern und vom Studienort unabhängige Standards zu gewährleisten.

Darüber hinaus motivieren medizinische Prüfungen zum Lernen und geben ihm eine Richtung, schützen die Öffentlichkeit vor inkompetenten Ärzten, differenzieren zwischen Studierenden und sie entsprechen der öffentlichen Erwartung von Selbstregulation [4].

Prüfungsergebnisse informieren die Studierenden über das erreichte Kompetenzniveau und geben Hinweise, welches Wissen noch vertieft werden sollte. Sie geben den Lehrenden eine Rückmeldung zu den Stärken und Schwächen ihres Unterrichts und zeigen somit Verbesserungsmöglichkeiten auf. Für Fachverbände und Öffentlichkeit wird anhand der Ergebnisse deutlich, ob die ausgebildeten Ärzte vorgegebenen Qualitätskriterien entsprechen. Die medizinischen Fakultäten erhalten eine Rückmeldung zu ihren Curricula [5].

Staatsexamina international: Europa, USA und Kanada

Die Vergleichbarkeit von Hochschulabschlüssen gewinnt aufgrund der zunehmenden Mobilität von Ärzten national und international zunehmend an Bedeutung. Wie kann ein Land sicherstellen, dass die Hochschulabsolventen alle ein ähnliches Niveau aufweisen? Gerade wenn Studienbedingungen und Curricula unterschiedlich sind und ggf. auch divergierende Schwerpunkte der Fakultäten, wie z. B. in Modellstudiengängen, widerspiegeln, ist es wichtig, dass Berufsanfänger eine vergleichbare Kompetenz unabhängig von ihrem Studienort und idealerweise unabhängig von dem Land der Ausbildung aufweisen. Diese Sicherheit für Patienten kann nur durch einheitliche Prüfungen erreicht werden. In den USA und Kanada wurden deshalb bereits in den Jahren 1916 bzw. 1912 zentrale Prüfungen eingeführt. Diese werden jeweils von einem von den Fakultäten unabhängigen Institut durchgeführt und genießen weltweit ein hohes Ansehen [6, 7]. Auch Ärzte mit ausländischen Berufsqualifikationen, die in den USA bzw. Kanada arbeiten möchten, müssen diese Examina bestehen, völlig unabhängig von den bereits national absolvierten Examina. Damit wird erreicht, dass Ärzte mit ausländischen Berufsqualifikationen identische Behandlungsergebnisse am Patienten erzielen wie Ärzte, die ihr Studium in den USA absolviert haben [8].

Aufgrund der in verschiedenen Studien belegten großen Divergenz und der niedrigen Reliabilität in der Durchführung mündlich-praktischer Prüfungen in Abhängigkeit von Standort und Prüfern wurden zudem standardisierte mündlich-praktische Prüfungen, etwa das Clinical-Skills-Examen in den USA und vergleichbare Formate in Kanada und in der Schweiz, eingeführt [9,10,11].

In Ländern ohne Staatsprüfung wird diese von politischer Seite gefordert, wie z. B. in Großbritannien und Australien. Einige Fakultäten fürchten dabei einen Autonomieverlust durch die Abgabe der Abschlussprüfung an eine unabhängige Organisation. Andere Fakultäten begrüßen zentrale Prüfungen, da sie den hohen Ressourcenaufwand für die Erstellung qualitativ hochwertiger Prüfungen kennen.

Das Staatsexamen in der Bundesrepublik Deutschland

Die medizinischen Staatsprüfungen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von den Hochschullehrern mündlich-praktisch abgenommen. Schon in den 1950er-Jahren wurden auf dem Königsteiner Ärztetag Prüfungen mit einem höheren Praxisbezug gefordert. In den 1960er-Jahren wurde zunehmend Kritik an der Subjektivität der mündlichen Prüfungen laut und zudem wurde die fehlende Vergleichbarkeit der Prüfungsinhalte an den einzelnen Standorten bemängelt.

Von einer aus verschiedenen Hochschullehrern zusammengesetzten „Kleinen Kommission zur Neuordnung der ärztlichen Ausbildung“ wurde der Entwurf für eine neue Approbationsordnung und die Einführung bundeseinheitlicher schriftlicher Prüfungen entwickelt. Dieser beinhaltete, neben der Definition des Formats der schriftlichen Prüfungen als Multiple-Choice-Fragen, Überlegungen zur Logistik von gleichzeitig stattfindenden Prüfungen und zur Erstellung der Fragen durch zu berufende Hochschullehrer. Mit Unterstützung des damaligen WHO-Beauftragten für Europa, Herrn Dr. Wiedersheim, wurde ein erster Entwurf für die Konzeption einer zentralen Institution erstellt, die u. a. die Prüfungsfragen für zentrale Examina am Ende der Ausbildungsabschnitte mit den zu berufenden Hochschullehrern erarbeiten sollte. Vorbild war das National Board of Medical Examiners (NBME) in den USA, zu dem damals enger Kontakt bestand.

Entsprechend der Formulierung eines „catalogues of learning objectives“ des NBME wurde in Deutschland die Formulierung von Gegenstandskatalogen für den jeweiligen Prüfungsabschnitt vorgesehen: „Diese Gegenstandskataloge, die auf der Grundlage der der Verordnung beigegebenen Prüfungskataloge und als ihre Konkretisierung erstellt werden sollen und veröffentlicht werden können, werden den Hochschulen und den Studierenden als Leitlinien für die Ausbildung dienen können“ [12].

Explizit wurden diese Gegenstände dann als Lernziele formuliert, sodass sie neben Wissen auch Fähigkeiten und Haltungen abbildeten (Bsp.: „Der Student soll die arterielle Hypertonie als Verstellung der gesamten Kreislaufregulation beschreiben, Ursachen und Folgen diskutieren können“, GK 1974). Da der ursprüngliche Gedanke, in einem zweiten Schritt neben den schriftlichen Prüfungen auch die mündlich-praktischen Prüfungen zu standardisieren, in den nächsten Jahren nicht verfolgt wurde, erfolgte in den späteren Auflagen der Gegenstandskataloge (www.impp.de) die Formulierung der Prüfungsgegenstände lediglich als Auflistung, die die Themen für die bundeseinheitlichen schriftlichen Prüfungen festlegte (z. B. „essentielle Hypertonie“). Diese Verdichtung hatte jedoch die Konsequenz, dass für Studierende und Dozenten nicht erkennbar war, welche Aspekte der Erkrankung für das Examen wichtig sind und in welcher Tiefe. Besonders problematisch ist zudem, dass wichtige ärztliche Aufgaben, wie z. B. Kommunikationskompetenz, Wissenschaftskompetenz oder interprofessionelles Zusammenarbeiten, keine bzw. keine ausreichende Abbildung in den Gegenstandskatalogen fanden und dementsprechend auch nicht in die schriftlichen Examina aufgenommen wurden.

Das IMPP

Im Jahr 1971 wurde das Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) als eine zentrale Einrichtung der damals elf Bundesländer in Mainz gegründet, um die mit der damaligen Änderung der Approbationsordnung vorgesehenen zentralen Prüfungen durchführen zu können. Neben der Bedeutung des Instituts für die nationale Ausbildung ist seine europäische Ausrichtung bemerkenswert. Sie wurde im damals von Herrn Dr. Helmut Kohl als Ministerpräsidenten geprägten rheinland-pfälzischen Landtag als wichtiger Auftrag begriffen (persönliche Mitteilung Dr. Kraemer, 04.07.2017). Bei der ersten konstituierenden Sitzung des Verwaltungsrates wies der Minister Herr Dr. Heiner Geißler „… auf die Bedeutung des Instituts für die medizinische Ausbildung in der Bundesrepublik“ hin und betonte, dass diese Einrichtung in Europa einmalig sei. Nur in den USA und in Kanada befänden sich ähnliche Institute. Es könne angenommen werden, dass diese Einrichtung beispielhaft für andere europäische Länder werde [12].

Die Aufgaben des Instituts wurden 1971 in einem Staatsvertrag geregelt und umfassen insbesondere die Erstellung von Gegenstandskatalogen und Prüfungsaufgaben, die Auswertung von Prüfungen und die angewandte Prüfungsforschung.

Parallel zu den Anfängen der Medizindidaktik in einigen Fakultäten wurde im IMPP eine Abteilung Ausbildungsforschung unter Leitung von Herrn Prof. Boelcke gegründet und bis 1983 fortgeführt. Sie hatte den Auftrag, das Prüfungswesen zu erforschen und damit die Grundlagen für eine kontinuierliche evidenzbasierte Gestaltung der Prüfungen und die Information der obersten Landesgesundheitsbehörden über notwendige Reformen zu schaffen.

Mit der Gründung des IMPP war der Grundstein für eine Standardisierung der deutschen Examina gelegt. 1974 wurden die ersten schriftlichen Staatsexamina in Medizin und Pharmazie durchgeführt. Später, im Zuge der Umsetzung des 1998 verabschiedeten Psychotherapeutengesetzes, kam die Psychotherapie hinzu. Das IMPP war im weiteren Verlauf insbesondere in die Entwicklung der neuen ärztlichen Approbationsordnung einbezogen. Die Veränderungen der Approbationsordnung spiegelten sich dann jeweils auch in den Zeitpunkten für die Prüfungen und der Anzahl der Fragen wider.

Stellenwert von Prüfungen im Lernprozess

Die Vorbereitung auf das Staatsexamen hat bei den Studierenden einen hohen Stellenwert. Bereits in den 1980er-Jahren wurde von jungen Absolventen Vorbereitungsliteratur dafür entwickelt (z. B. „schwarze oder gelbe Reihe“), später folgten elektronische Vorbereitungsprogramme, z. B. vom Thieme-Verlag [13] und von Miamed mit dem Programm Amboss [14]. Die extensive Vorbereitung spezifisch für das Staatsexamen belegt damit erneut das Phänomen „assessment drives learning“.

Die Einstellung zu Prüfungen und die Aufgabe von Prüfungen in einem kompetenzorientierten Ausbildungsmodell haben sich im letzten Jahrzehnt deutlich gewandelt [15]. Während in früheren Ausbildungsmodellen der Wissenserwerb und der Prozess des Wissenserwerbs, z. B. über Problemorientiertes Lernen (POL), stark im Fokus stand, ist heute die klare Formulierung des erwarteten Outcomes von Absolventen eines Studiengangs der zentrale Bestandteil. Zusätzlich zeigen Studien, dass wiederholtes Prüfen zu einem höheren Lernzuwachs führt [16]. Dadurch wird das Prüfen in ein völlig neues Licht gerückt.

Nicht „assessment of learning“, sondern zunehmend „assessment for learning“ ist die zentrale Aufgabe bei der anspruchsvollen inhaltlichen und formalen Gestaltung eines Gesamtprüfungsprogramms. Prüfungen sollen die Lernenden durch ihren stark motivierenden und leistungssteuernden Beitrag in ihrem Lernprozess unterstützen. Deswegen ist es wichtig, dass die fakultätsinternen Leistungsnachweise aufeinander abgestimmt sind: Die Prüfungen bauen aufeinander auf, vermeiden ungewünschte Redundanzen und prüfen z. B. klinische Kompetenzen nicht nur schriftlich, sondern auch angemessen praktisch. Andererseits werden die fakultätsinternen Prüfungen und die Staatsexamina zueinander in einen sinnvollen Bezug gebracht [17]. Damit wird vermieden, dass die Studierenden für fakultätsinterne und staatliche Prüfungen unterschiedliches Lernverhalten zeigen, wie es leider derzeit häufig der Fall ist. Daher werden praktische oder kommunikative Prüfungsinhalte sowohl im Studium als auch im Staatsexamen mit den passenden praktischen Prüfungsformaten, z. B. mittels Simulationspatienten, bewertet. Der Schwierigkeits- und Komplexitätsgrad der Prüfungen nimmt aufeinander abgestimmt zu.

Aktuelle Gestaltung der Staatsexamina

Die derzeitige Durchführung der schriftlichen und mündlich-praktischen Staatsexamina entspricht den Vorgaben der ÄAppO 2002 bzw. der Novellierung von 2012 [2].

Schriftliche Staatsexamina

Über die deutschen schriftlichen Staatsexamina gibt es bisher nur recht wenige Studien. Die Ergebnisse zeigen eine hohe Reliabilität der Prüfungen. So können die Prüflinge sicher sein, dass sie in einem vergleichbaren Examen ebenfalls bestehen bzw. nicht bestehen würden. Die Reliabilität der letzten Jahre lag bei 0,91–0,96 (interne Auswertung IMPP). Eine Studie zum Inhalt der Examina zeigt eine sinkende Anzahl von Fragen mit einem höheren taxonomischen Niveau: von 61,5 % im Jahr 2006 zu 41,6 % im Jahr 2012 [18].

Mit der Änderung der Approbationsordnung im Jahr 2002 wurde der Fachbezug aufgehoben. Aufgrund der deutlich reduzierten Anzahl und der möglichst interdisziplinären Konstruktion werden die Fragen nicht mehr einzelnen Fächern zugeordnet. Dennoch haben Vertreter verschiedener Fächer die Examina in Hinblick auf die Zugehörigkeit zu ihren Fächern ausgewertet. So kommt die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie bei der Klassifikation auf 28,4 % chirurgische Fragen [19]. Bei einer weiteren Klassifikation durch allgemeinmedizinische Kollegen wurden 40 % der Fragen ihrem Fachgebiet zugeordnet [20]. Dies zeigt, dass die Auflösung der Fächerzuordnung sinnvoll war, da in sehr vielen Fragen mehrere unterschiedliche Fächer abgebildet werden können.

Weiterhin konnte festgestellt werden, dass die Examensleistungen des ersten Ärztlichen Abschnitts (M1) die Ergebnisse im zweiten Ärztlichen Abschnitt (M2) vorhersagen [21]. Aussagen zu einer längerfristigen Validität der Staatsexamensprüfungen bestehen derzeit nicht. Insofern wären Absolventenstudien, die überprüfen, inwiefern das Staatsexamen die tatsächliche Performanz der zukünftigen Ärzte vorhersagt, dringend geboten.

Mündlich-praktische Staatsexamina

Die mündlich-praktischen Staatsexamen (M3) werden an den einzelnen medizinischen Fakultäten durchgeführt. Während die Reliabilität der schriftlichen Prüfungen hoch ist, ist davon auszugehen, dass die derzeit durchgeführten mündlich-praktischen Prüfungen meistens eine niedrige Reliabilität haben. So konnten van den Bussche et al. schon 2006 zeigen, dass die Korrelation zwischen Noten in schriftlichen Staatsexamina und mündlich-praktischen Abschlussnoten standortabhängig ist, was auf die niedrige Reliabilität der mündlich-praktischen Note hinweist [22].

In einer weiteren Studie konnte gezeigt werden, dass die Prüfer im M3 überwiegend Faktenwissen statt z. B. klinischer Entscheidungsfindung oder wissenschaftlicher Urteilsfähigkeit prüfen, obwohl dies bereits jetzt in einer strukturierten mündlich-praktischen Prüfung gut erfassbar wäre. Auch die explizit in der Approbationsordnung geforderte Überprüfung der ärztlichen Gesprächsführung wird nur marginal, wenn überhaupt, aufgegriffen [23].

Neugestaltung der Staatsexamina

Das Staatsexamen in den Heilberufen hat als höchste Aufgabe, die Patientensicherheit zu gewährleisten. Es soll sicherstellen, dass unabhängig vom Studienort die Patienten und die Gesellschaft darauf vertrauen können, dass die Absolventen einen vergleichbaren Standard aufweisen.

Aufbauend auf dem in den 2000er-Jahren sich international verbreitenden Canmeds-Modell wurde der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin (NKLM) vom Medizinischen Fakultätentag (MFT) und der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) entwickelt. In diesem Modell werden ärztliche Aufgaben und Rollen beschrieben, die die Grundlage für zu erwerbende Kompetenzen und die daraus folgenden Lernziele bilden [24]. Die Kompetenzorientierung wurde mittlerweile in den Staatsexamina in den USA, Kanada und der Schweiz aufgegriffen und die Prüfungen entsprechend umgestaltet.

Eine kompetenzorientierte Ausrichtung der deutschen Staatsexamina wird im Masterplan Medizinstudium 2020 festgelegt und erfordert in der Konsequenz eine grundlegende Neuausrichtung der bisherigen Konzeption der Prüfungen, der Prüfungspraxis, der Zusammenarbeit zwischen den Fakultäten, dem IMPP und den für die Versorgung zuständigen Akteuren.

Insbesondere die Stärkung der Arzt-Patient-Kommunikation, der interprofessionellen Zusammenarbeit, der Allgemeinmedizin und der ambulanten Versorgung sind Themen, die gesundheitspolitisch bereits als hochrelevant erkannt wurden, aber erstmalig in die Konzeption der Staatsexamina aufgenommen werden müssen. Konsequenterweise ist damit eine völlige Neugestaltung der Gegenstandskataloge einer der ersten zentralen Schritte.

Überarbeitung der Gegenstandskataloge

Die Erstellung der Gegenstandskataloge für das Staatsexamen ist eine im Staatsvertrag festgelegte Hauptaufgabe des IMPP (zuletzt 2004 und 2011). Die derzeitigen faktenorientierten Gegenstandskataloge müssen in Richtung Kompetenzorientierung weiterentwickelt werden. Der NKLM bietet hierfür in großen Teilen eine geeignete Ausgangs- und Diskussionsbasis. Die aktuellen internationalen Entwicklungen mit der Formulierung von anvertraubaren ärztlichen Tätigkeiten („entrustable professional activities“), d. h. Tätigkeiten, die von einem Absolventen selbstständig durchgeführt werden können, wie z. B. die Erhebung einer Krankengeschichte und die körperliche Untersuchung des Patienten, sollten aufgegriffen werden. Dabei wird jeweils für eine bestimmte Prüfung festgelegt, welche anvertraubaren ärztlichen Tätigkeiten vom Prüfling sicher beherrscht werden müssen, um diesen „Meilenstein“ zu passieren. [25, 26].

Die Fokussierung auf ein Kerncurriculum und die Neuaufnahme von Lerninhalten erfordern notwendigerweise, wie vom Wissenschaftsrat empfohlen, eine entsprechende Reduktion der derzeitigen Prüfungsinhalte in den Gegenstandskatalogen um insgesamt ca. 20–25 %, um die neuen Themen in die Prüfungen aufnehmen zu können [27].

Zukünftige Gestaltung des ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung (M1)

Der erste Abschnitt der Ärztlichen Prüfung (M1) soll weiterhin aus zwei Teilen bestehen: einem schriftlichen und einem mündlich-praktischen Teil. Um die Vergleichbarkeit der Leistungsstandards an den verschiedenen Fakultäten wiederherzustellen, sollen auch die Modellstudiengänge am gemeinsamen M1 teilnehmen. Durch eine Flexibilisierung und Modularisierung dieses Abschnitts sollen unterschiedliche curriculare Konzepte an den verschiedenen Standorten weiterhin ermöglicht werden. Dies fördert die Mobilität der Studierenden im Inland und bewahrt die positiven Erfahrungen der Modellstudiengänge mit innovativen Prüfungsformaten.

Im schriftlichen Teil sollen, wie vom Wissenschaftsrat gefordert, die naturwissenschaftlichen Fragen reduziert werden. Hier sind klinisch orientierte Fragen und insbesondere die Erfassung von Wissenschaftskompetenz, ethisch-rechtlichen Grundlagen, psychosozialen Kenntnissen etc. verstärkt abzubilden und möglichst mit einem klinisch relevanten Kontext zu verbinden. Anwendungsorientierte Fragen sollen möglichst Fragen zur Überprüfung reinen Faktenwissens ersetzen.

Die bisherigen mündlich-praktischen Prüfungen sollen durch eine OSPE/OSCE („objective practical structured examination“ bzw. „objective structured clinical examination“) ersetzt werden. In einem Parcours mit voraussichtlich zehn Stationen können so zu festgesetzten bundesweiten Terminen alle Studierenden an zentral entwickelten Aufgaben geprüft werden. Das Ziel dabei ist es, die nicht oder nur sehr begrenzt im schriftlichen Teil erfassbaren Fähigkeiten, wie z. B. Begründen und Erklären von bedeutsamen physiologischen Zusammenhängen, anatomischen Strukturen sowie Funktionsweisen, zu überprüfen. Weiterhin sollen praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für die Patientenversorgung bedeutsam sind, geprüft werden. Dies beinhaltet Anamneseerhebungen an Simulationspatienten, das Beherrschen von grundlegenden körperlichen Untersuchungstechniken und einfachen praktischen Fertigkeiten, wie z. B. die korrekte Händedesinfektion oder steriles Arbeiten. Ebenso gehört die Etablierung einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung, z. B. der adäquate Umgang mit Emotionen und eine patientenorientierte Informationsvermittlung, zum Inhalt des ersten Abschnitts.

Insgesamt wird damit gewährleistet, dass die Studierenden von Anfang an neben dem Erwerb der naturwissenschaftlichen Prinzipien die Berücksichtigung der Patientenperspektive erlernen.

Zweiter Abschnitt der Ärztlichen Prüfung (M2)

Das zweite schriftliche Staatsexamen soll kompetenzorientiert anhand eines im Voraus definierten mehrdimensionalen Blueprints (d. h. eines gewichteten Inhaltsverzeichnisses für die Prüfung) umgestaltet werden. Dies bedeutet, dass Experten und Sachverständige des IMPP gemeinsam festlegen, wie viele Prüfungsfragen zu den jeweiligen ärztlichen Aufgaben und Rollen eingebettet in einen klinischen Kontext gestellt werden. Hier wird die Herausforderung darin liegen, bisher fast nicht abgebildete Kompetenzbereiche wie Wissenschaftskompetenz oder professionelles Handeln z. B. mittels Situational Judgment Tests (SJT) oder modifizierten MC-Fragen schriftlich zu prüfen. Grundlage für die Bewertung der Güte der Fragen wird die Relevanz im Hinblick auf das erforderliche Niveau eines allgemein weiterbildungsfähigen Absolventen sein. Befragungen von Weiterbildungsassistenten und Weiterbildungsbeauftragten sowie die Berücksichtigung aktueller Versorgungsdaten werden in die regelmäßige Reflexion des Blueprints und damit der Zusammenstellung sowie der Aktualisierung der Prüfungsaufgaben einfließen. Ein differenziertes Klassifikationssystem wird ein aussagekräftiges Feedback zum Leistungsprofil des Absolventen ermöglichen, das den Studierenden, den Fakultäten und ggf. den Weiterbildnern z. B. zukünftige Lernziele in der Weiterbildung aufzeigt. Während derzeit keine fachbezogenen Rückmeldungen im Staatsexamen durchgeführt werden, wird durch die Mehrfachklassifikation sowohl ein organbezogenes als auch ein fach- und kompetenzbezogenes Feedback möglich sein. Das Staatsexamen wird dabei erstmalig neben seiner Bedeutung für die summative Einschätzung des Kandidaten in seiner formativen Aussagekraft nutzbar gemacht. Dies unterstreicht, dass sich auch die Staatsexamina als Unterstützung des lebenslangen ärztlichen Lernprozesses begreifen und für die Weiterbildung wichtige Informationen liefern.

PJ – Einführungs-OSCE

Vor dem praktischen Jahr (PJ) sollen die Fakultäten einen PJ-Einführungs-OSCE durchführen. Dieser soll vor dem stationär oder ambulant stattfindenden kontinuierlichen Patientenkontakt sicherstellen, dass die Studierenden die hierfür erforderlichen Kompetenzen aufweisen. Einige Fakultäten haben hiermit bereits positive Erfahrungen gemacht. Vorteil eines PJ-Einführungs-OSCE ist die interdisziplinäre Prüfung ärztlicher Kompetenzen, die die Integration der in den verschiedenen fachbezogenen Leistungsnachweisen erhobenen Wissens- und Handlungskompetenzen erfordert.

Dritter Abschnitt der Ärztlichen Prüfung (M3)

Das dritte Staatsexamen wird an den Fakultäten durchgeführt und besteht aus zwei Teilen, einer neugestalteten „Prüfung am Patienten“ am ersten Prüfungstag sowie einem OSCE am zweiten Tag. Übergeordnetes Ziel ist es, die Funktion des staatlichen Examens mit dem Aufgreifen der Patientenperspektive und der Patientensicherheit transparent und fair nachvollziehbar zu machen.

Prüfung am Patienten (1. Prüfungstag)

Diese Prüfung findet am realen Patienten statt und ist weltweit in den westlichen Ländern, soweit eruierbar, einmalig. Deswegen bietet sich hier die große Chance, durch die relativ einfache Weiterentwicklung der derzeit gut etablierten Prüfung am Patientenbett eine arbeitsplatzbasierte Prüfung zum Gegenstand des Staatsexamens zu machen.

Die Prüfung an Patienten greift die internationale und nationale positive Erfahrung zur Entwicklung einer arbeitsplatzbasierten Überprüfung von anvertraubaren professionellen Tätigkeiten auf, die zum Teil in Modellstudiengängen, z. B. der Berliner Charité, bereits umgesetzt werden oder auch in der Schweiz Grundlage der PROFILES bilden [28, 29].

Um die zunehmende Ambulantisierung der Medizin auch in der Prüfung abzubilden, soll jeder Prüfling sowohl an einem stationären als auch an einem ambulanten Patienten geprüft werden. Die Prüfung ist jeweils in sieben Schritte unterteilt.

Die Studierenden werden zu Examensbeginn einen ihnen unbekannten Patienten unter Aufsicht von zwei Prüfern aufnehmen. Eine strukturierte und umfassende Anamnese und eine komplette körperliche Untersuchung stellen die ersten beiden Schritte dar. Hierfür haben die Studierenden insgesamt 45–60 min Zeit. Damit wird dokumentiert, dass die Studierenden in der Lage sind, eine differenzierte Anamnese durchzuführen, die auch die psychosoziale Situation und die Perspektive des Patienten sowie seine Funktionsfähigkeit und den Lebensstil beinhaltet. Die Durchführung einer kompletten körperlichen Untersuchung stärkt das Vertrauen der Studierenden in die eigenen Fähigkeiten und zeigt dem Patienten die Sorgfalt der ärztlichen Untersuchung. Eine umfassende und sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung sind unerlässliche Voraussetzung für die korrekte weitere Diagnostik und Therapie. Sie stellen einen unschätzbaren Wert für den Aufbau einer tragfähigen Arzt-Patient-Beziehung und die Adhärenz des Patienten dar [30].

Die Ergebnisse von Anamnese und körperlicher Untersuchung werden im dritten Schritt mittels eines SOAP-Schemas („subjective information, objective information, assessment, plan“) an die beiden Prüfer übergeben. Hier soll die Fähigkeit zu einer strukturierten Übergabe an einen ärztlichen Kollegen überprüft werden.

Im vierten Schritt außerhalb des Patientenbereichs erhalten die Studierenden ggf. zusätzliche Befunde und Untersuchungsergebnisse, die wichtig zur Planung des weiteren Prozederes und des therapeutischen Vorgehens sind. Weiterhin wird der Zugriff auf Wissensdatenbanken (PubMed, Leitlinien, UpToDate etc.) ermöglicht. Mittels eines Open-Book-Examens wird die digitale Wissenschaftskompetenz der Studierenden erfasst. Am Ende von ca. 45 min sollen die Studierenden die Ergebnisse der Patientenanamnese und -untersuchung sowie die Resultate ihrer Recherche zusammenfassen und eine Patientenkurve erstellen. Sie stellen das weitere diagnostische und therapeutische Prozedere dann erneut den beiden Prüfern vor und diskutieren sowie begründen ihre Vorschläge. Die Prüfer stellen vertiefende Fragen zu den Vorschlägen. Gegebenenfalls ist hier auch eine Korrektur von Misskonzeptionen des Prüflings möglich, wobei Hilfestellungen durch die Prüfer bei der Bewertung berücksichtigt werden. Die Bewertung dieses Bausteins fokussiert auf das klinische Denken und Begründen der Studierenden.

Im fünften Schritt übergeben die Studierenden die Untersuchungsergebnisse an eine standardisierte Pflegekraft. Damit demonstrieren die Studierenden die interprofessionelle Kompetenz, eine zielgruppenorientierte Information in geeigneter Fachsprache strukturiert weiterzugeben.

Im sechsten Schritt erstellen die Studierenden einen strukturierten, evidenzbasierten Patientenbericht. Hier wird geprüft, inwieweit der Studierende in der Lage ist, die erhobenen anamnestischen Angaben und die Befunde so darzustellen, dass den weiteren Behandlern eine Beurteilung des Patienten ermöglicht wird. In einem weiteren Berichtsteil sollten Empfehlungen für die poststationäre und interprofessionelle Behandlung des Patienten verfasst werden. Schwerpunkt der Bewertung bilden die kritische Würdigung aller Patientenbefunde und die Berücksichtigung aktueller Leitlinien in der klinischen Entscheidungsfindung.

Im letzten und siebten Schritt sollen die Studierenden diesen Bericht in eine für den Patienten verständliche Sprache übersetzen. Nach Kontrolle durch die Prüfer kann dieser Bericht auch dem Patienten zur Verfügung gestellt werden. Damit wird die Patientenperspektive wie auch durch die ausführliche Anamnese und Untersuchung gestärkt.

Für alle Schritte werden entsprechend dem Masterplan Medizinstudium 2020 zentrale Vorgaben mit standardisierten Bewertungsmaterialien und Musterlösungen mit Ankerkriterien erstellt, die mittels eines globalen Expertenratings beurteilt werden.

OSCE (2. Prüfungstag)

Am zweiten Prüfungstag sollen spezifische klinische Situationen mittels OSCE durch den Einsatz von standardisierten Patienten (z. B. Aufklärungsgespräche) und ggf. standardisierten Angehörigen bzw. Vertretern unterschiedlicher Gesundheitsberufe (z. B. telefonische Übergabe in einer Notfallsituation, Entlassmanagement) geprüft werden. Der OSCE soll an zehn Stationen (Dauer pro Station ca. 8 min) durchgeführt werden: Eine sorgfältige Konstruktion der Stationen ermöglicht es auch, komplexe Aufgaben in 8 min abzuprüfen, dies wird z. B. dadurch ermöglicht, dass der Fokus auf kritische Entscheidungsknoten oder spezifische Informationsweitergabe in der Prüfungsaufgabe gelegt wird. Die jeweiligen Themen der Prüfung sollen entsprechend einem zentral festgelegten Blueprint definiert und die Prüfungsaufgaben zentral für alle Fakultäten entwickelt werden. Dabei sollen schwerpunktmäßig die für den klinischen Alltag und die Patientensicherheit wichtigen Themen abgebildet werden, wie z. B. klinische Entscheidungsfindung und klinisches Denken, Risikokommunikation, Patientenaufklärung und Fehlermanagement.

Um einen möglichst objektiven Prüfungsablauf an allen Fakultäten garantieren zu können, werden die Prüfungsregularien zentral erarbeitet. Die Erstellung der Prüfungsaufgaben, inkl. Konzeption von Musterlösungen, Checklisten, Drehbüchern für Simulationspatienten etc., erfolgt im IMPP, damit bundesweit eine standardisierte Durchführung der OSCE-Prüfungen gewährleistet werden kann.

Ausblick

Die kompetenzorientierte Neugestaltung der Staatsexamina greift den internationalen Stand zum neuen Stellenwert von Prüfungen auf. Die zahlreichen positiven Reformen der medizinischen Ausbildung mit der Formulierung von kompetenzorientierten Lernzielen und der Stärkung der Handlungskompetenz der Studierenden durch interaktive und praxisorientierte Unterrichtsformate werden im Staatsexamen aufgegriffen („constructive alignment“). Bewährte Elemente der deutschen Examina wie die Prüfung am realen Patienten, die gemeinschaftliche fakultätsübergreifende Fragenerstellung und die Qualitätssicherung der Fragen werden beibehalten und auf die mündlich-praktische Aufgabenerstellung übertragen. Durch die interprofessionelle Ausrichtung des IMPP besteht die Möglichkeit, positive Entwicklungen z. B. zur Überprüfung kommunikativer Kompetenz mittelfristig auch in die Fachbereiche Pharmazie und Psychotherapie einfließen zu lassen.

Das gesundheitspolitische Bekenntnis zur Stärkung von Patientenperspektive, Patientenkompetenz und Patientensicherheit wird zentral im Staatsexamen mit der zweimaligen Prüfung am Patienten im stationären und ambulanten Kontext aufgegriffen. Die biopsychosoziale Betrachtungsweise des Menschen, die Berücksichtigung der Patientenperspektive und der respektvolle und partnerschaftliche Umgang mit den Patienten wird Bestandteil der Leistungsbewertung.

Die Ausrichtung der Ausbildung hin zu einer patientenorientierten Medizin bietet ein Gegengewicht zu der Ökonomisierung des klinischen Alltags. Zukünftig können Patienten, die diesen respektvollen Umgang innerhalb einer Staatsexamensprüfung erfahren, selbst erleben, wie wichtig dem Staat die Achtung der Patientenperspektive und -würde ist und wie sorgfältig zukünftige Ärzte von erfahrenen Kollegen auf ihre Kompetenz geprüft werden. Diese Patienten können glaubwürdige Botschafter für unseren gemeinsamen Willen zu einer patientenorientierten und vertrauenswürdigen Medizin sein.