Einleitung

Eine niedrigere Position in der betrieblichen Beschäftigung oder eine schlecht bezahlte und prekäre berufliche Tätigkeit sind ein Gesundheitsrisiko. Diesen Schluss legen Statistiken zur Verteilung von Krankheitsrisiken und Todesfällen in der erwerbstätigen Bevölkerung nahe. So ist seit langem bekannt, dass es eine berufsbezogene soziale Ungleichheit bei der Sterblichkeit gibt. Eine der ersten Untersuchungen hierzu ist eine Analyse von Daten der „Whitehall-Studie“, einer epidemiologischen Langzeitstudie mit 17.530 Regierungsbeamten in London. Bei der Auswertung von Sterbefällen über einen Zeitraum von mehr als sieben Jahren zeigte sich, dass Beschäftigte auf niedrigeren Hierarchiestufen ein deutlich größeres Sterblichkeitsrisiko hatten als diejenigen in höheren Positionen [1]. Dieses Ergebnis wurde in zahlreichen Ländern repliziert [27].

Auch für einen Zusammenhang zwischen beruflicher Position und dem Auftreten von Erkrankungen (Morbidität) gibt es empirische Belege [811]. Beispielsweise wurden in benachteiligten beruflichen Positionen höhere Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Erkrankungen und Unfälle ermittelt [12]. Einzelne Auswertungen liegen auch für Deutschland vor, wie z. B. die von Geyer et al. 2006 [13] durchgeführte Analyse von Daten einer gesetzlichen Krankenkasse [13]. Deren Ergebnis zeigte, dass das Risiko an einer Herzkrankheit zu erkranken bei Männern und Frauen in niedrigen beruflichen Positionen signifikant höher ist als bei Personen in besser gestellten Berufen.

Ein weiteres Beispiel betrifft die Arbeitsunfähigkeitszahlen von Beschäftigen in Deutschland. Sie sind mit großer Regelmäßigkeit in einfachen manuellen und schlechter bezahlten Berufen höher [14] – ein Befund, der sich mit den Ergebnissen internationaler Studien deckt [1517]. Von sozialpolitischem Interesse ist zudem, dass bei der krankheitsbedingten Frühberentung eine Ungleichverteilung je nach beruflicher Position registriert wird. Bödeker et al. 2006 [18] zeigten bspw. anhand von Routinedaten der Deutschen Rentenversicherung, dass gering qualifizierte Berufe sowohl im Dienstleistungs- als auch im produktiven Sektor erhöhte krankheitsbedingte Frühberentungsraten mit sich bringen [18]. Auch diese Beobachtung beschränkt sich nicht auf Deutschland [1922].

Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit bei Beschäftigen

Es gibt unterschiedliche Gründe für die erhöhten Unfall-, Erkrankungs- und Sterblichkeitszahlen bei Beschäftigten in niedriger beruflicher Position. Sie werden im Folgenden skizziert. Eine erste Erklärung hierfür liegt im Zusammenhang zwischen beruflicher Position und Bildung sowie Einkommen [12, 23, 24]. So haben Beschäftigte in niedrigen beruflichen Positionen aus naheliegenden Gründen auch niedrige Schul- und Berufsabschlüsse. Zugleich verdienen Beschäftigte in gering qualifizierten Berufen i. d. R. weniger als qualifizierte Berufsgruppen. Dieser Zusammenhang zwischen beruflicher Position, Bildung und Einkommen ist für die Erkrankungsrisiken in den jeweiligen Gruppen bedeutsam, da sowohl eine niedrige Bildung als auch ein niedriges Einkommen unabhängig vom Beruf mit erhöhten Erkrankungs- und Sterblichkeitsrisiken einhergehen [25]. Diese Erhöhung ist die Folge des komplexen Einflusses von Bildung und Einkommen auf zentrale gesundheitsrelevante Lebensbedingungen (z. B. schlechte Wohnbedingungen, Armut) und Verhaltensweisen (z. B. Sporttreiben, Inanspruchnahme medizinischer Versorgung).

Als weitere Erklärungsansätze kommen Mobilitäts- und Selektionseffekte im Lebenslauf in Betracht. So ist der Bildungserfolg in vielen Ländern von der sozialen und ökonomischen Situation der Herkunftsfamilie abhängig [26]. Dies kann dazu führen, dass junge Erwachsene mit niedrigen Bildungsabschlüssen schon beim Eintritt in das Berufsleben vorbelastet sind, da sie bereits während ihrer Kindheit und Jugend mit negativen gesundheitlichen Folgen von Armut und Benachteiligung konfrontiert waren [23]. Gesundheitliche Selektionseffekte können zudem im gesamten Verlauf der beruflichen Biografie auftreten. Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen sind bspw. auf dem Arbeitsmarkt und bei innerbetrieblichen Aufstiegsprozessen benachteiligt. Als Resultat kann die Zahl der erkrankten Beschäftigten in den unteren beruflichen Positionen steigen, da Erkrankte aufgrund blockierter Aufstiegsmöglichkeiten in diesen Positionen verharren oder wegen ihrer Erkrankung von höheren Positionen in niedrigere absteigen. Eine Selektion kann zudem auch Ungleichheiten kaschieren, wenn Beschäftigte aus unteren Positionen in größerer Zahl krankheitsbedingt aus dem Beruf ausscheiden.

Ein weiterer wichtiger Baustein zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten bei Beschäftigten liegt in der Arbeit selbst. Entscheidend sind hier die Arbeitsbelastungen, d. h. die Arbeitsbedingungen und -tätigkeiten, die die Gesundheit schädigen können. Zahlreiche Unfälle, Erkrankungen und Todesfälle bei Erwerbstätigen gehen ganz oder teilweise auf solche Belastungen zurück [27]. Demnach können hohe Erkrankungsraten in den benachteiligten Berufsgruppen ihre Ursache in einer erhöhten Arbeitsbelastung haben. Dieser Hypothese wurde in einer Reihe von Studien nachgegangen. Es wurde zunächst geprüft, ob tatsächlich eine Häufung von Arbeitsbelastungen in Gruppen mit niedriger beruflicher Position zu beobachten ist. Diesbezüglich überzeugende Hinweise gibt es für Unfallrisiken, physikalisch-chemische sowie ergonomische Risikofaktoren. Die Risiken waren insbesondere in manuellen Berufen hoch [2834]. Für den Bereich der psychosozialen Arbeitsbelastungen ist das Ergebnis vergleichbar. Es wurden in niedrigen beruflichen Positionen wiederholt Ungleichheiten für einzelne psychosoziale Belastungen (geringer Handlungsspielraum, berufliche Gratifikationskrisen, Arbeitsplatzunsicherheit, hohe psychischen Anforderungen) nachgewiesen [28, 33, 3537]. Bezüglich der hohen psychischen Anforderungen ist jedoch anzumerken, dass es auch abweichende Studienergebnisse mit höheren Belastungen in mittleren und oberen beruflichen Positionen gibt [30, 35, 36, 38].

Weitere Hinweise auf eine vermittelnde Rolle von Arbeitsbelastungen bei der Ausprägung berufsbezogener gesundheitlicher Ungleichheiten geben Studien, in denen untersucht wurde, ob Arbeitsbelastungen einen Einfluss auf den Zusammenhang zwischen beruflicher Position und Erkrankungen haben. Hier kommen meist multivariable Regressionsmodelle zum Einsatz, mit denen geprüft wird, ob sich die statistischen Zusammenhänge zwischen der beruflichen Position und einem Gesundheitsindikator verringern, wenn Arbeitsbelastungen als Drittvariablen in die Modelle aufgenommen wurden (Teilmediation). Die konkreten Ergebnisse hängen von der Art der betrachteten Arbeitsbelastungen ab. Jedoch wurden in der Mehrzahl der Studien klare Hinweise auf eine Reduktion der gesundheitlichen Ungleichheit nach statistischer Kontrolle für Arbeitsbelastungen gefunden, was für eine vermittelnde Rolle von Arbeitsbelastungen spricht [11, 30, 31, 33, 36, 3941].

In der Literatur wird zudem diskutiert, ob Menschen in niedrigen beruflichen Positionen auch anfälliger für die negativen gesundheitlichen Wirkungen von Belastungen sind (sog. Effekt-Modifikation) [38, 42]. Eine erhöhte Anfälligkeit könnte sich bspw. aus der Einkommens- und Bildungsbenachteiligung und den damit einhergehenden gesundheitlichen Vorbelastungen ergeben. Die Hypothese einer Effektmoderation wurde bislang jedoch nur selten geprüft und die Resultate der wenigen diesbezüglichen Studien sind widersprüchlich [38].

Forschungsbedarf und Forschungsfrage

Trotz der hier zusammengefassten Ergebnisse und theoretischen Erklärungen ist der Forschungsstand weiter ausbaufähig. Ein von verschiedenen Autoren angeführtes Manko ist vor allem, dass die Informationen über die Verteilung von Arbeitsbelastungen unvollständig sind, da in vielen Studien nur eine begrenzte Zahl von Arbeitsbelastungen untersucht werden konnte [12, 38]. Da das Belastungsgeschehen in der Realität aber sehr vielfältig ist und sowohl physische als auch psychosoziale Belastungen umfasst, ist es von Interesse, diese Vielfalt auch abzubilden. Insbesondere sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, neuere Formen von sozialen Belastungen in der Arbeitswelt nur ungenügend untersucht [40]. Hier sind etwa die prekären Beschäftigungsformen, wie Kurzzeitverträge oder Arbeitsplatzunsicherheit, zu nennen, die im Zusammenhang mit gesundheitlicher Benachteiligung von nicht geringer Bedeutung sind [43].

An dieser Stelle setzt der empirische Teil dieses Beitrages an. In einem ersten Schritt wird untersucht, ob Unterschiede in der Verteilung eines größeren Spektrums an physischen und psychosozialen Arbeitsbelastungen nach beruflicher Klasse nachweisbar sind. Im zweiten Schritt wird explorativ analysiert, ob der Zusammenhang zwischen beruflicher Position und Gesundheit auf die ungleiche Verteilung von Arbeitsbelastungen zurückgeführt werden kann. Genutzt werden Daten eines europaweiten Surveys, sodass es möglich wird, die Ergebnisse aus Deutschland mit europäischen Ergebnissen zu vergleichen.

Material und Methoden

Um die Verteilung eines größeren Spektrums von Belastungen zu untersuchen, wurden Daten der im Jahr 2010 durchgeführten fünften Welle des European Working Conditions Survey (EWCS) ausgewertet. Der EWCS ist eine Repräsentativbefragung der erwerbstätigen Bevölkerung im europäischen Raum, die seit 1990 als Trendstudie in Fünf-Jahres-Abständen wiederholt wird. Koordiniert wird der Survey durch Eurofound, einer Agentur der Europäischen Union, die den Zweck verfolgt, die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsgesundheit in Europa zu überwachen. Details zur Erhebungsmethode, den eingesetzten Fragebögen und zu weiteren methodischen Merkmalen des EWCS können einem ausführlichen Methodenreport entnommen werden [44].

Population

Die Stichprobe des 2010er-Surveys basiert auf einer länderspezifischen Zufallsauswahl. Im Mittel wurde eine Teilnahmequote von 44 % erreicht, die zwischen 31 % in Spanien und 74 % in Lettland schwankt (Deutschland = 56 %). Um eine gewisse Vergleichbarkeit der rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen in den zu untersuchenden Länder zu erreichen, wurden für diese Analyse nur die Daten von Beschäftigen aus den EU-27-Mitgliedsländern verwendet. Aus diesen Ländern wurden Befragte im Alter von 18 Jahren und älter mit vollständigen Angaben zur beruflichen Position aufgenommen. Die sich daraus ergebende effektive Stichprobengröße umfasste 34.529 Personen (Frauen: 17.540; Männer: 16.989) für alle Länder und 2096 (Frauen: 1000; Männer: 1096) für die deutsche Teilstichprobe.

Messung der beruflichen Position

Zur Messung der beruflichen Lage wurde das Klassenschema nach Erikson, Goldthorpe und Portocarero (EGP-Schema) verwendet [45]. Grundlage ist zunächst die Dreiteilung zwischen Arbeitgebern, Selbstständigen und Angestellten. Eine weitere Untergliederung erfolgt anhand von zwei weiteren Aspekten: zum einen am Ausmaß, in dem die Beschäftigung einer Kontrolle oder Regulierung unterliegen kann (z. B. Führungsposition vs. einfache Angestellte), zum anderen danach, ob eine hohe Qualifikation bzw. spezielle Fertigkeiten erforderlich sind (z. B. manuell vs. nicht-manuelle Tätigkeit). Das Schema basiert somit auf einer klassischen Einteilung der Berufe entlang der Aspekte Arbeitgeber, Selbstständiger und abhängig Beschäftigter, und erlaubt zudem die Ausdifferenzierung anhand bestimmter Beschäftigungsverhältnisse. Üblicherweise führt dies zu einer kategorialen Einteilung in sieben Klassen, wobei im Folgenden eine Einteilung in fünf gewählt wurde. Hier unterscheiden wir zwischen der „Dienstklasse“ (EGP I & II, z. B. leitende Angestellte, hohe Beamte oder akademische Berufe), „einfachen Angestellten“ (EGP III, z. B. nichtmanuelle Büro- oder Verwaltungsaufgaben), „Selbstständigen“ (EGP IVab), „qualifiziert manuell Beschäftigten“ (EGP IVc & V, z. B. „Landwirte und Facharbeiter“) und „gering qualifizierten manuell Beschäftigten“ (EGP VI & VII).

Messung von Arbeitsbelastungen

Der Fragebogen des EWCS umfasst eine große Zahl von Fragen zu Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, was eine umfangreiche Darstellung des Belastungsgeschehens erlaubt. Es wurden einzelne Indikatoren zu den folgenden Bereichen ausgewählt: a) ergonomische bzw. physikalische Belastungen, b) Umgebungsbelastungen, c) arbeitszeitbezogene Belastungen, d) hohe psychische Anforderungen, e) niedrige Kontrollmöglichkeiten, f) problematische Sozialbeziehungen, g) führungsbezogene Belastungen und h) prekäre Arbeit. Die entsprechenden Indikatoren repräsentieren Belastungen, für die eine solide Evidenz für eine gesundheitliche Wirkung vorliegt. Eine Übersicht der Variablen findet sich in Tab. 1. Einige bedürfen jedoch einer näheren Erläuterung. Die psychosozialen Belastungen „psychische Anforderung“, „fehlende Entwicklungsmöglichkeiten“ und „Handlungsspielraum“ basieren auf dem Anforderungs-Kontroll-Modell von Karasek. Für die einzelnen Belastungen wurden Summenscores gebildet, die bei psychischen Anforderungen auf 5, bei fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten auf 3 und bei Handlungsspielraum auf 4 Items beruhen [46]. In der vorliegenden Studie wurden die Komponenten einzeln betrachtet und jeweils das obere Terzil der länderspezifischen Verteilung als belastet eingestuft, um analog zu den restlichen Expositionsvariablen Prävalenzen darstellen zu können. Eine schlechte Work-Life-Balance wurde durch eine Frage zur zeitlichen Vereinbarkeit von Beruf und privaten Verpflichtungen gemessen. Zusätzlich zu den Einzelbelastungen ist ein Wert für die Gesamtbelastung gebildet worden, indem alle 16 möglichen Belastungen aufsummiert wurden. Für die Verwendung als Kontrollvariable in den Regressionsmodellen wurde der Summenwert ebenfalls anhand des Terzils dichotomisiert (< 5; > 5 Belastungen).

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung, Mittelwert (M) und Standardabweichung (SD) des Alters der untersuchten Personen sowie Anzahl (n) und Anteil (%) in der jeweiligen Kategorie, EWCS 2010

Messung von selbst berichteter Gesundheit

Zur Einschätzung des Gesundheitszustandes wurde eine Frage zur selbstberichteten Gesundheit herangezogen. Dieses einfache Maß wird in epidemiologischen Studien häufig als generischer Gesundheitsindikator verwendet und korreliert mit objektiven Indikatoren wie der Mortalität [47]. Die fünfstufige Antwortskala wurde dichotomisiert, um in logistischen Regressionsmodellen Personen mit gutem oder sehr gutem Gesundheitszustand (Referenz) mit Personen mit mittelmäßigem, schlechtem und sehr schlechtem Gesundheitszustand (gesundheitlich belastete Gruppe) zu vergleichen.

Statistische Methoden

Zur Analyse der Verteilung von Arbeitsbelastungen wurden Prävalenzen und 95 %-Konfidenzintervalle getrennt nach den fünf EGP-Berufsklassen berechnet. Die Prävalenzen werden einmal nur für die deutsche Stichprobe und einmal für alle EU-27-Länder (einschließlich Deutschland) jeweils nach Männern und Frauen getrennt dargestellt. Um die Repräsentativität der Daten zu gewährleisten, wurden entsprechende Gewichtungen vorgenommen [44]. Unterschiede in der Ausprägung der Arbeitsbelastungen zwischen den EGP-Berufsklassen sind mit χ2-Tests auf statistische Signifikanz geprüft worden.

Weiterhin wurde untersucht, ob Arbeitsbelastungen mit gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen den EGP-Gruppen im Zusammenhang stehen. Hierzu wurden logistische Regressionsmodelle mit schlechter selbstberichteter Gesundheit als binäre abhängige Variable und den EGP-Klassen (Referenz: Dienstklasse) als unabhängige Variable berechnet. In einem ersten Schritt wurde das Modell für das Alter kontrolliert und im Folgemodell dann der Gesamtbelastungswert aller Arbeitsbelastungen aufgenommen. Sollten sich die Zusammenhangsmaße für die Assoziation zwischen EGP-Klasse und Gesundheit nach Aufnahme der Arbeitsbelastungen in das Modell reduzieren, spräche dies dafür, dass Arbeitsbelastungen eine Rolle bei der ungleichen Verteilung der Gesundheit spielen. Um die Veränderung der Schätzer vor und nach Adjustierung zu betrachten, wurden durchschnittliche marginale Effekte (DME) kalkuliert, da sie im Gegensatz zu den üblichen Effekteschätzern (Odds-Ratio) besser zwischen verschiedenen Modellen verglichen werden können [48]. Die DME geben die geschätzten Anteile an, um die sich die Wahrscheinlichkeit des beobachteten Ereignisses verändert, wenn sich die unabhängige Variable um eine Einheit erhöht. Ein marginaler Effekt von 0,20 für Frauen (mit Männern als Referenzkategorie) würde bspw. bedeuten, dass die mittlere Differenz der Prävalenz zwischen Frauen und Männern 20 % beträgt. In der entsprechenden Tab. 4 werden Odds-Ratios, deren 95 %-Konfidenzintervalle und die DME dargestellt. Alle Auswertungen erfolgten mit STATA.

Ergebnisse

Die Verteilung der Befragten auf die EGP-Berufsklassen und die Prävalenzen der Arbeitsbelastungen sind in Tab. 1 dargestellt. Männer und Frauen unterscheiden sich in beiden Stichproben hinsichtlich ihrer beruflichen Positionen. Während bei den Männern qualifizierte und gering qualifizierte manuelle Berufe häufig sind, ist die am stärksten besetzte Berufsklasse bei Frauen die Gruppe der einfachen Angestellten. Zwei Abweichungen sind beim Vergleich der deutschen und der europäischen Stichprobe erkennbar: In der EU-27 ist der Anteil Selbstständiger sowie der Anteil von Frauen in oberen beruflichen Positionen im Vergleich zu Deutschland höher.

Die Häufigkeiten der einzelnen Arbeitsbelastungen unterscheiden sich deutlich voneinander. Relativ häufig ist bspw. das Tragen schwerer Lasten oder mangelnde Unterstützung durch Vorgesetzte, während Belastungen wie Mobbing oder überlange Arbeitszeiten seltener berichtet werden. Der Vergleich der Prävalenzen für einzelne Belastungen zwischen Männern und Frauen zeigt sowohl Unterschiede als auch Übereinstimmungen. Von ergonomischen Belastungen und Umgebungsbelastungen sowie einzelnen psychosozialen Belastungen (z. B. hohe psychische Anforderungen) sind Männer häufiger betroffen als Frauen. Bei den Indikatoren prekärer Arbeit sind die Prävalenzen hingegen bei Frauen höher. Der Vergleich der deutschen mit der europäischen Stichprobe zeigt eine hohe Übereinstimmung, obwohl auch einzelne Abweichungen erkennbar sind, z. B. eine höhere Arbeitsplatzunsicherheit in Europa bzw. eine geringere Unterstützung durch Vorgesetzte in Deutschland.

Die Verteilung der Arbeitsbelastungen über die 5 EGP-Berufsklassen ist in Tab. 2 und 3 für Männer und Frauen getrennt dargestellt. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die betrachteten Arbeitsbelastungen über die Berufsklassen ungleich verteilt sind. Ein wiederkehrendes Muster ist, dass Erwerbstätige in der Dienstklasse die geringsten Belastungen aufweisen und die Belastungsprävalenzen von einfachen Angestellten in nicht-manuellen Berufen hin zu qualifizierten und gering qualifizierten manuell Beschäftigten ansteigen.

Tab. 2 Verteilung von Arbeitsbelastungen nach EGP-Berufsklassen für Männer in Deutschland (D) und den EU-27-Ländern (EU), Punktprävalenz (OR) in % und 95 %-Konfidenzintervalle (KI); dargestellte p-Werte basieren auf χ2-Tests; EWCS 2010
Tab. 3 Verteilung von Arbeitsbelastungen nach EGP-Berufsklassen für Frauen in Deutschland (D) und den EU-27-Ländern (EU), Punktprävalenz (OR) in % und 95 %-Konfidenzintervalle (KI); dargestellte p-Werte basieren auf χ2-Tests; EWCS 2010

Besonders ausgeprägt ist dieses Muster für physische Arbeitsbelastungen bei Männern und in etwas schwächerer Form bei Frauen. Aber auch für zahlreiche psychosoziale Risikofaktoren sind höhere Prävalenzen bei Angestellten und in den manuellen Berufsklassen zu erkennen. Dies trifft insbesondere bei einem niedrigen Handlungsspielraum und geringen Entwicklungsmöglichkeiten sowie bei führungsbezogenen Belastungen (keine Unterstützung durch Vorgesetzte, keine Partizipation) zu. Auffällig ist auch, dass die beiden Indikatoren einer prekären Beschäftigung ein deutliches Gefälle zwischen den Berufsgruppen aufweisen. Die Gruppe mit dem größten Anteil an befristet Beschäftigten sind etwa Frauen in gering qualifizierten manuellen Berufen.

Jedoch sind einzelne abweichende Verteilungsmuster zu erkennen. Bei den arbeitszeitbezogenen Belastungen wurde insbesondere die überlange Arbeitszeit von Selbstständigen überproportional häufig genannt. Dies spiegelt sich bei selbstständigen Männern auch in einer subjektiv schlechteren Bewertung der Work-Life-Balance wieder. Mobbing hingegen ist als einzige Belastung in Deutschland über alle Berufsklassen hinweg gleich verteilt.

Wie die Größe der Konfidenzintervalle andeutet, ist die Präzision der Prävalenzschätzung aufgrund unterschiedlicher Fallzahlen nicht in allen Berufsklassen gleich hoch. Daher sollten die Werte mit denen der weitaus größeren europäischen Stichprobe abgeglichen werden. Zusammenfassend zeigt dieser Vergleich eine hohe Übereinstimmung mit den oben beschriebenen Trends.

Die mittlere Höhe des Gesamtbelastungswertes zeigt Abb. 1. Sie verdeutlicht, dass die Belastung in der Dienstklasse für beide Geschlechter gering ausfällt. Dann folgen die einfachen Angestellte und die qualifizierten und gering qualifizierten manuellen Berufe. Selbstständige Frauen haben im Mittel niedrigere Belastungswerte als alle übrigen Berufsklassen, bei Männern liegen diesbezüglich Selbstständige und Dienstklasse etwa gleichauf. Die Ergebnisse der Regressionsanalysen zur Mediation gesundheitlicher Unterschiede durch Arbeitsbelastungen sind in komprimierter Form in Abb. 2 zusammengefasst und ausführlicher in Tab. 4 präsentiert. In Abb. 2 sind die durchschnittlichen marginalen Effekte einmal ohne und einmal mit statistischer Kontrolle für den Gesamtbelastungswert abgebildet. An den Schätzern des alterskontrollierten Modells für Männer ist zu erkennen, dass im Vergleich zur Dienstklasse alle anderen Berufsklassen eine schlechtere selbstberichtete Gesundheit aufweisen. Bei Frauen ist ein ähnlicher Trend zu beobachten. Dabei ist in der deutschen Stichprobe eine bessere Gesundheit bei Selbstständigen und qualifizierten manuell Beschäftigten zu erkennen. Im Vergleich zur europäischen Stichprobe scheinen die gesundheitlichen Unterschiede zwischen den Berufsklassen in Deutschland stärker ausgeprägt zu sein (Tab. 4). Eine Kontrolle für den Gesamtbelastungswert führt insbesondere bei manuell Beschäftigten zu einer merklichen Reduktion der gesundheitlichen Unterschiede zwischen den Berufsklassen, ohne dass diese jedoch vollständig verschwinden. Dies kann als Hinweis auf eine Teilmediation der gesundheitlichen Ungleichheit durch Arbeitsbelastungen gewertet werden.

Abb. 1
figure 1

Mittlere Anzahl an Belastungen (summativer Gesamtbelastungswert) nach EGP-Berufsklasse in Deutschland und den EU-27-Ländern; EWCS 2010

Abb. 2
figure 2

Zusammenhang zwischen beruflicher Klasse und schlechter selbst berichteter Gesundheit. Durchschnittliche Marginale Effekte (DME) vor und nach statistischer Kontrolle für Arbeitsbelastungen in der deutschen Teilstichprobe des EWCS (1089 Männer; 992 Frauen)

Tab. 4 Zusammenhang zwischen beruflicher Klasse und schlechter selbstberichteter Gesundheit für Deutschland und EU-27-Länder: Odds Ratios (OR) mit 95 %-Konfidenzintervallen (KI) und durchschnittliche Marginale Effekte (DME)

Diskussion

Die Weltgesundheitsorganisation definiert gesundheitliche Ungleichheiten als vermeidbare Unterschiede in den Gesundheitschancen von Bevölkerungsgruppen [49]. In der Arbeitswelt sind viele Risiken vermeidbar. Das zeigt die lange Erfolgsgeschichte des Unfall- und Arbeitsschutzes in den Industrieländern. Insofern könnte hier ein Ansatzpunkt zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten liegen. Um zielgerichtet vorgehen zu können, ist es aber erforderlich, die Arbeitsbelastungen zu kennen, die bei Beschäftigten in unteren beruflichen Positionen häufiger auftreten und die somit zu gesundheitlichen Ungleichheiten beitragen können. Im vorliegenden Beitrag wurden daher deskriptive Analysen eines breiten Spektrums an physischen und psychischen Arbeitsbelastungen durchgeführt, um Informationen über die Belastungen einzelner Berufsklassen in Deutschland zu gewinnen.

Hierbei zeigte sich für die Mehrzahl der untersuchten Belastungen, dass sie mit sinkender beruflicher Position anstiegen. Entsprechend hoch war auch die als mittlere Anzahl der erfahrenen Einzelbelastungen gemessene Gesamtbelastung in den unteren Berufsklassen. Dieser Befund korrespondiert mit den Ergebnissen aus anderen, zumeist internationalen Studien, in denen jedoch häufig nur einzelne Arbeitsbelastungen untersucht wurden [2834]. Hier konnte hingegen ein größeres Spektrum an unterschiedlichen Belastungen simultan betrachtet werden. Damit wurde gezeigt, dass die Ungleichverteilung sowohl die meisten klassischen physischen Arbeitsbelastungen (z. B. Heben schwerer Lasten) als auch zahlreiche psychosoziale Belastungen (z. B. führungsbezogene Belastungen, niedriger Handlungsspielraum, prekäre Beschäftigung) betrifft. Diese Doppelbelastung gilt in ausgeprägter Form für manuelle Berufe und in etwas schwächerer Ausprägung auch für die Berufsklasse der einfachen Angestellten. Letzteres kann damit erklärt werden, dass in dieser Klasse Berufe etwa im Gesundheitswesen oder im Einzelhandel enthalten sind, in denen physische Arbeitsbelastungen nicht untypisch sind. Die Kumulation von Risiken ist nicht nur wegen der höheren Gesamtbelastung problematisch. Vielmehr kann es auch zu negativen Wechselwirkungen kommen, etwa dann, wenn Beschäftigte mit hohen physischen Belastungen zugleich prekär beschäftigt sind und im Fall gesundheitlicher Beschwerden aus Angst vor einem Arbeitsplatzverlust eine medizinische Behandlung hinauszögern. Solche Wechselwirkungen konnten hier jedoch nicht untersucht werden.

Gleiches gilt für die Hintergründe der ungleichen Verteilung einzelner Belastungen. Hier können aufgrund der gefundenen Verteilungen lediglich Vermutungen angestellt werden. Die starke Koinzidenz zwischen der beruflichen Position und Arbeitsbelastungen deutet aber auf eine strukturelle und wechselseitige Beziehung beider Größen hin. So lassen die Ergebnisse etwa zu führungsbezogener Qualität und zu psychischen Belastungen erkennen, dass die organisatorischen Rahmenbedingungen der Arbeit für Beschäftigte in den unteren Berufsklassen tendenziell schlechter gestaltet sind. Die Gründe sind komplex und reichen von berufshistorischen und technischen Einflüssen bis hin zu Arbeitsmarktprozessen oder den betrieblichen Machtverhältnissen [12]. Zudem spielen neben strukturellen Faktoren auch die individuellen Voraussetzungen, wie die persönliche Qualifikation, eine Rolle, da sie Einfluss darauf haben, wie mit Arbeitsbedingungen umgegangen wird und welche Ausweichmöglichkeiten die Person angesichts von Belastungen hat.

Praktische Schlussfolgerungen stehen aus diesen Gründen unter Vorbehalt. Jedoch unterstreichen die Ergebnisse die Notwendigkeit einer Ausrichtung der betrieblichen Prävention auf die Hochrisikogruppe der Beschäftigten in niedrigen beruflichen Positionen. Zudem ließe sich diese Forderung erweitern, indem nicht nur Einzelmaßnahmen initiiert werden, sondern auch betriebliche Gesundheitsförderung und klassischer Arbeitsschutz koordiniert zusammen wirken sollten, um psychische und physische Belastungen gleichzeitig zu bekämpfen.

Die Schlussfolgerungen müssen vor dem Hintergrund methodischer Stärken und Schwächen der vorliegenden Untersuchung betrachtet werden. Ein erster Punkt betrifft hier die Operationalisierung der beruflichen Position. Anforderung an eine Operationalisierung ist, dass die Berufsklassifikation soziale Unterschiede hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsbedingungen zwischen den Berufsgruppen möglichst gut abbildet. Aufgrund der Vielzahl der Berufe und der unterschiedlichen theoretischen Ansätze nach denen sie unterschieden werden (z. B. Tätigkeit, Qualifikation, Stellung in der Hierarchie, Prestige), ist dieses jedoch schwerer zu erreichen als bei anderen Indikatoren der sozialen Position (z. B. Bildung oder Einkommen). In vielen Studien wurden daher stark vereinfachte Berufsklassifikationen verwendet. Die häufigste Form ist der dichotome Vergleich von manuellen mit nicht-manuellen Berufen. Dabei werden manuelle Berufe als sozial niedriger positioniert. Diese grobe Einteilung ist problematisch, da es innerhalb solcher Großgruppen eine ausgeprägte Heterogenität der Arbeitsbedingungen gibt. Differenziertere Ansätze, wie das in dieser Auswertung verwendete Erikson-Goldthorpe-Schema, können Abhilfe schaffen. Jedoch war es nicht möglich die volle Breite der Differenzierung beruflicher Positionen abzubilden, da die Fallzahlen in einzelnen Berufsklassen zu gering waren und daher Klassen zusammengefasst werden mussten.

Ein weiterer methodischer Nachteil betrifft die Datenstruktur. Es standen nur Querschnittsdaten zu Verfügung. Daher konnte nicht direkt geprüft werden, ob Arbeitsbelastungen als Mediatoren für gesundheitliche Ungleichheiten in Frage kommen. Aus diesem Grund wurde lediglich die Veränderung von Effektschätzern in logistischen Regressionsmodellen nach statistischer Kontrolle für Arbeitsbelastungen betrachtet. Diese Vorgehensweise, obschon in der Forschung üblich, ist konzeptionell nur bedingt geeignet, um Mediation zu testen [50]. Zudem muss beachtet werden, dass das verwendete Maß für den Gesundheitszustand (selbst eingeschätzte Gesundheit) unspezifisch ist. Da die einzelnen Arbeitsbelastungen unterschiedliche gesundheitliche Beanspruchungen verursachen, ist ein solches Globalmaß problematisch und erlaubt nicht zu prüfen, welche Aspekte der Gesundheit besonders betroffen sind. Daher wurde auf eine Betrachtung einzelner Arbeitsbelastungen verzichtet und lediglich der Gesamtbelastungswert betrachtet. Zudem bleibt unklar, inwieweit die selbst eingeschätzte Gesundheit mit dem Vorliegen von diagnostizierten Erkrankungen gleichzusetzen ist.

Die gewählte Datenbasis hat auch verschiedene Vorteile. Zu nennen ist hier insbesondere die große Zahl an gemessen Belastungen. So war es möglich, etablierte arbeitsbezogene Risikofaktoren zusammen mit neueren Belastungsformen – wie prekärer Arbeit oder Work-Life-Imbalance – zu betrachten. Ein originärer Vorteil des EWCS ist zudem die Möglichkeit des europäischen Vergleichs. Dieser erlaubt es, die Ergebnisse für Deutschland in einen größeren Kontext zu setzen. Hervorzuheben ist die hohe Übereinstimmung der Ergebnisse zwischen Deutschland und den gesamten EU-27-Ländern. Sie deutet darauf hin, dass die beobachteten Ungleichheiten bei den Arbeitsbelastungen nicht nur für Deutschland gelten, sondern ein verallgemeinerbares Problem darstellen.