Gesundheitspolitik, die Krankenkassen und ihre Vertragspartner und nicht zuletzt Versicherte und Patienten stehen vor der Herausforderung, unser Gesundheitssystem an sich verändernde strukturelle und finanzielle Rahmenbedingungen anzupassen. Die tektonische Kraft der demografischen Entwicklung, insbesondere die damit einhergehende Binnenmigration mit der Entvölkerung ländlicher Räume wird spürbare Veränderungen in der Versorgung nach sich ziehen. Dies wird nicht ohne erhebliche Spannung vor sich gehen. Einerseits erhält das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung zunehmend eine räumliche Dimension. Andererseits werden sich die Versorgungssysteme in ländlichen Räumen und in Ballungsräumen zunehmend auseinander entwickeln. In ländlichen Räumen steht die Versorgung einer definierten Population mit ausgedünnten Versorgungsstrukturen im Vordergrund. Insbesondere ländliche Regionen sehen sich untereinander im Wettbewerb um rückläufige Arztzahlen. Schon heute erweisen sich die ländlichen Regionen aus diesem Grund als Entwicklungslabore für experimentelle kostenträger- und teils sektorenübergreifende Struktur- und Prozessinnovationen. In den Ballungsräumen hingegen besteht potenziell ausreichend Redundanz für einen zunehmenden Wettbewerb um Versicherte und Patienten innerhalb der Region.

Der kleinräumigen Versorgungsforschung wird in diesem Zusammenhang insbesondere die Aufgabe zuwachsen, Politik, Vertragspartner und Öffentlichkeit darüber zu informieren, ob und ggf. wie eine größtmögliche Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der medizinischen Versorgung gewahrt bzw. wiederhergestellt werden kann. Die kleinräumige Versorgungsforschung beschäftigt sich mit der Beobachtung und mit Erklärungsansätzen für die Determinanten der regionalen Heterogenität. In ihrem Fokus steht die sog. „letzte Meile“ des Versorgungsgeschehens, nämlich das, was an Leistungen oder Versorgungsqualität beim Patienten ankommt. Hierbei nimmt sie – im Unterschied zum Blickwinkel der Qualitätssicherung – weniger die einzelnen Leistungserbringer in den Blick, sondern konzentriert sich auf räumlich abgegrenzte Patientenpopulationen.

Methodisch geht es um die Frage, ob und inwieweit aus dem für viele überraschenden Tatbestand überall anzutreffender kleinräumiger Versorgungsheterogenität Handlungsbedarf sowie Erkenntnisse zur Verbesserung der Versorgungsqualität insgesamt abgeleitet werden können. Die kleinräumige Versorgungsforschung steht somit prototypisch für die Aufgabe, Erkenntnisse aus der Forschung in konkrete Handlungsempfehlungen und Maßnahmen für die gesundheitspolitisch Handelnden umzusetzen. Sie könnte damit der Raum sein, wo sich Wissenschaft und Praxis treffen. Dies setzt jedoch in der Gesundheitspolitik sowie bei Vertragspartnern, Ärzten und Patienten die Fähigkeit zu einer konstruktiven „Fehlerkultur“ und die Bereitschaft voraus, an Best-Practice-Beispielen zu lernen.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, denn zumindest in den USA hat die kleinräumige Versorgungsforschung eine nunmehr 40-jährige Tradition. Seit dem bahnbrechenden Artikel von Wennberg und Gittelson über die Auswirkungen unterschiedlicher Behandlungsstile in den Krankenhäusern Vermonts vor rund 40 Jahren haben sich die Forschungsfragen, Methoden und Ergebnisse sowie daraus abgeleitete Implikationen für die Gesundheitspolitik kontinuierlich entwickelt. Wennbergs Forschergruppe am Dartmouth College hat gezeigt, dass die medizinische Versorgung ein populationsbezogenes Feedbacksystem benötigt, um in Selbstreflexion des eigenen Handelns die Kriterien für eine angemessene Versorgung zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Stets strebte Wennberg danach, die Grundlagen für verantwortungsvolle Entscheidungen zu verbessern, um zufallsbedingte Entwicklungen korrigieren zu können. Damit führte Wennbergs Forschung zu einer Reihe maßgeblicher Innovationen, wie z. B. patientenbezogene Entscheidungshilfen zur Indikationsstellung insbesondere bei invasiven Therapieoptionen, der Dartmouth Atlas of Health Care als bundesweites Monitoring-Instrument bis hin zu den theoretischen Grundlagen für die in Obamas Gesundheitsreform zentralen „Accountable Care Organisations“.

In 40 Jahren hat sich der Ansatz kleinräumiger Versorgungsforschung zu einem international anerkannten Forschungsansatz entwickelt und führt in vielen Ländern zu konkreten Interventionen in der Gesundheitspolitik. Dies zeigt die zunehmende Zahl von Gesundheitsatlanten, die insbesondere in staatlichen Gesundheitssystemen auch zur indirekten Steuerung der Versorgung genutzt werden. Am weitestgehenden dürfte hierbei die Initiative „Right Care“ des NHS in England sein. Auch in Deutschland entwickelt sich dieser Forschungsansatz. Dieses Schwerpunktheft nimmt deshalb die aktuelle Diskussion um Wege zu einer bedarfsgerechten, wohnortnahen, qualitativen und finanzierbaren Gesundheitsversorgung zum Anlass für einen Überblick über Methoden, Datenquellen, Erkenntnisse und Implikationen der kleinräumigen Versorgungsforschung.

Robra skizziert einleitend die wegweisenden Erkenntnisse von Jack Wennberg und Kollegen nicht nur für das amerikanische Gesundheitssystem. Wennbergs zentraler Beitrag bestand darin, die scheinbare Objektivität des ärztlichen Handelns zu hinterfragen. Die Ursachen der flächendeckend anzutreffenden kleinräumigen Variabilität der Versorgung werden auf Unterschiede in Versorgungsangeboten, ärztlichen Handlungsmustern („physician practice styles“) und Patientenpräferenzen zurückgeführt. Für Deutschland leitet Robra daraus die Forderung nach einer systematischen Versorgungswissenschaft und einer stärkeren Nutzerorientierung ab.

Zorn liefert in Fortsetzung dieses inhaltlichen Einstiegs in das Thema einen Überblick über die Förderinitiative Versorgungsforschung der Bundesärztekammer und ordnet die darin umgesetzten Einzelprojekte in die gesundheitspolitische Diskussion um eine bedarfsorientierte Versorgungsplanung ein. Der Beitrag stellt einen Zusammenhang zwischen der Diskussion um Über-, Unter- und Fehlversorgung und der kleinräumigen Versorgungsforschung her. Wie schon Robra verdeutlicht auch Zorn den Zusammenhang zwischen der datengestützten Mikroebene der patientenbezogenen Versorgungsforschung und der Makroebene der gesundheitspolitischen Grundlagenentscheidungen auf Bundes- und Landesebene.

Die 2 folgenden Beiträge thematisieren methodische Aspekte der kleinräumigen Versorgungsforschung. Sundmacher et al. stellen statistische Methoden vor, die eine Einschätzung erlauben, ob eine grafische Verteilung von Kennwerten der Morbidität oder Inanspruchnahme lediglich ein zufälliges Muster darstellt oder auf eine räumliche Autokorrelation benachbarter regionaler Einheiten hindeutet. Die Methoden erlauben weiter eine multivariate Modellierung der räumlich dargestellten Kennwerte. Im Beispiel wird die Abhängigkeit der Häufigkeit ambulant sensitiver Krankenhaushäufigkeit (ASK) von der Leistungsintensität im ambulanten Sektor untersucht. Die Autorinnen stellen dar, wie die stationäre ASK-Fallhäufigkeit mit dem Leistungsgeschehen im vertragsärztlichen Sektor zusammenhängt. Es lassen sich somit Determinanten des Leistungsgeschehens und räumliche Muster identifizieren. Im Rahmen der sektorenübergreifenden Versorgungsplanung könnten diese Erkenntnisse für Leistungsplanung und -steuerung genutzt werden.

Swart et al. diskutieren den Zugewinn, der sich aus der Zusammenführung von Primär- und Sekundärdaten für die kleinräumige Versorgungsforschung ergibt. Die Autoren beschreiben die sich wechselseitig ergänzenden Informationen zum Versorgungsbedarf und Leistungsgeschehen sowie deren Determinanten, die in direkten Erhebungsdaten und vor allem in Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung stecken. Besonders Erfolg versprechend ist ein individuelles Datenlinkage von Primär- und Sekundärdaten, das aber methodisch, datentechnisch und rechtlich hohe Anforderungen stellt, auf die explizit eingegangen wird. Mögliche Synergieeffekte eines individuellen Datenlinkage werden anhand einiger Beiträge aus diesem Schwerpunktheft beispielhaft erläutert.

Stock et al. schlagen eine Brücke von der Methodik zur Versorgungspraxis und zur Gesundheitspolitik. Sie thematisieren die Rolle der Präferenzen der maßgeblichen Akteure im Versorgungsalltag, nämlich der behandelnden Ärzte und der Patienten als Konsumenten von Versorgungsleistungen. Auf den Analysen von Wennberg aufbauend, argumentieren die Autoren, dass die Kenntnis von Versorgungspräferenzen für die Gestaltung und kontinuierliche Weiterentwicklung regionaler und bedarfsgerechter Versorgungsstrukturen maßgeblich ist. Diese Präferenzstrukturen erweisen sich als wichtigste Determinante der jenseits von Morbiditätsunterschieden liegenden „unerwünschten“ regionalen Variationen in der Versorgung. Da aber Präferenzen nicht regelhaft in Routinedaten verfügbar sind, bedarf es zu deren Erhebung spezifischer qualitativer und quantitativer Verfahren und deren Verzahnung in einem Methodenmix. Nach Auffassung der Autoren kann es so gelingen, Fehlallokationen sowie Über-, Unter- und Fehlversorgung zu differenzieren und ggf. gegenzusteuern

Eine neue Betrachtungs- und methodische Herangehensweise bei der regionalen Analyse des Versorgungsgeschehens diskutieren von Stillfried und Czihal. Ihre Arbeit zielt darauf, die Bedeutung regional verteilter Einflussvariablen und individueller Handlungsweisen besser unterscheiden zu können. Dahinter steht die Zielsetzung, dass unerwünschte regionale Versorgungsunterschiede nur dann wirksam modifiziert werden können, wenn die hierfür ursächlich Handelnden informiert werden können. Sie schlagen deshalb vor, ergänzend zu einer räumlich-administrativen Abgrenzung von Populationen eine funktionale Abgrenzung vorzunehmen, sodass die jeweils von einer bestimmten Anzahl medizinischer Einrichtungen behandelten Patienten eine Population bilden. Die versorgenden Einrichtungen bilden so ihrerseits Gemeinschaften (sog. Versorgungsgemeinschaften), deren Handeln durch Indikatoren des Versorgungsgeschehens abgebildet werden kann. Der Beitrag erläutert das Grundprinzip des neuen Verfahrens und unterbreitet Vorschläge für eine methodische Prüfung seiner Eignung. Die Autoren versprechen sich von diesem Ansatz nicht nur eine bessere Differenzierung zwischen (fixen) exogenen und (veränderbaren) endogenen Determinanten der Versorgungsvariabilität, sie sehen darin auch eine Möglichkeit, Maßnahmen zur Reduktion unerwünschter Variationen gezielter vorzunehmen.

Versorgungsanalysen benötigen konkrete Daten und Berichtsysteme und zu deren Vervielfältigung geeignete Publikationsplattformen. Dies ist Gegenstand von 2 weiteren Beiträgen. Kopetsch und John stellen zunächst das elektronische Gesundheitsinformationssystem (eGIS) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vor. Der Aufbau dieser Datenbank wurde motiviert durch Überlegungen zur Verbesserung der Niederlassungsberatung für Vertragsärzte sowie durch die Notwendigkeit, Einflussfaktoren auf die Entwicklung des vertragsärztlichen Versorgungsbedarf für die Zwecke einer reformierten Bedarfsplanung zur räumlichen Steuerung der vertragsärztlichen Kapazitäten zu identifizieren. Die im eGIS zusammengeführten Daten entstammen u. a. der amtlichen Statistik, Arzt- und Krankenhausverzeichnissen sowie ambulanten Abrechnungs- und Verordnungsdaten. Im Einzelnen werden die Darstellungs- und Analysemöglichkeiten von eGIS vorgestellt und an Beispielen erläutert.

Dass kleinräumige Unterschiede bei Versorgungsbedarf, Morbidität und Inanspruchnahme per se nicht gut oder schlecht sind, sondern zunächst eine wichtige Informationsquelle darstellen, verdeutlicht Mangiapane anhand des Versorgungsatlasses des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung. Der Versorgungsatlas steht unter dem Motto Informieren – Diskutieren – Handeln und wird als offene Forschungs- und Diskussionsplattform verstanden, die der Forschung ebenso wie den Entscheidungsträgern in der Gesundheitspolitik Daten und Analysen zu aktuellen Versorgungsproblemen für einen öffentlichen Diskurs bereitstellen will. Im Beitrag werden die Themenpalette sowie deren einheitliche Elemente (Einleitung, Tabelle, Karte, Diagramm, Bericht, Kommentar) an Beispielen erläutert.

Das Sonderheft schließt mit der Erörterung der Bedeutung kleinräumiger Variationen für Prävalenz und Behandlung depressiver Erkrankungen. Der Beitrag von Melchior et al. greift dabei vielfältige Aspekte der kleinräumigen Versorgungsforschung aus den anderen Beiträgen auf und stellt diese in den konkreten Kontext von diagnosebezogenen Überlegungen zur Verbesserung und Homogenisierung der Behandlungsstrukturen und -prozesse. Konkret werden Betrachtungsebenen regionaler Variationen und daraus abgeleitete Implikationen für die Versorgungsforschung erörtert, ebenso wie potenzielle Datenquellen (Primärerhebungen, GKV-Sekundärdaten) und methodische Herausforderungen bei der empirischen Beschreibung und analytischen Erklärung von Versorgungsheterogenität. Es wird deutlich, dass es bei der regionalen Versorgungsforschung darum geht, unabweisbare Variation (z. B. aufgrund objektiver Bedarfsunterschiede) von unerwünschter und vermeidbarer Variation (etwa aufgrund von Unterschieden in Diagnosestellung und Therapie) zu trennen und daraus Handlungskonsequenzen für Versorgungsplanung und -steuerung abzuleiten.

Dieses Schwerpunktheft soll Ihnen die spezifischen Fragestellungen, Methoden und Verbindungen zwischen Wissenschaft und Praxis bei kleinräumigen Analysen des Versorgungsgeschehens nahebringen. Die Bedeutung dieser Betrachtungsweise wird durch die notwendige Diskussion um die bedarfsgerechte Ausgestaltung unseres Gesundheitssystems weiter steigen. Vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Ressourcen und den Herausforderungen des demografischen Wandels wird eine Stärkung dieser Forschungsrichtung in den nächsten Jahren erforderlich sein, wenn wir sehen und gestalten wollen, wie unser Versorgungssystem „auf der letzten Meile“ wirklich wirkt.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß und Anregung bei der Lektüre.

Ihre

Dr. Enno Swart

Dr. Dominik Graf von Stillfried

Prof. U. Koch-Gromus