Hintergrund

Problemaufriss

Die Besuchsregelungen in Kliniken dienen in der aktuellen Pandemiesituation dem Schutz von Patienten/‑innen, Personal und dem Erhalt der Funktionsfähigkeit des Krankenhauses. Die in der ersten Phase der Pandemie im März 2020 erlassenen Besuchsverbote in deutschen Krankenhäusern wurden im Jahresverlauf auf Landesebene ausgestaltet. Dabei wurde zeitgleich darauf verwiesen, dass die Regelungen nicht zu einer Isolation der Betroffenen führen dürften (Nordrhein-Westfalen, Hessen). Generell finden sich im Herbst 2020 neben einem allgemeinen Verweis auf die sog. AHA-Regeln Zuschreibungen der Verantwortung in Richtung der Einrichtungen wie z. B. [1]: „Die Einrichtung hat ein Schutz- und Hygienekonzept auf der Grundlage eines vom Staatsministerium für Gesundheit und Pflege bekannt gemachten Rahmenkonzepts auszuarbeiten […].“ Andernorts heißt es [2, 3], dass „die Besuchszeit durch das Krankenhaus auf ein angemessenes Maß limitiert“ werden solle; es seien „dabei […] die besonderen Belange von […] schwerstkranken […] Menschen zu berücksichtigen.“ Wie auch in anderen Ländern [4] sind für Deutschland regional unterschiedliche Regelungen zu finden (Tab. 1, exemplarischer Überblick über Unikliniken verschiedener Bundesländer, Zusatzmaterial online).

Bei welchen Patienten/‑innen liegen nun Voraussetzungen vor, um eine Ausnahme vom Besuchsverbot zu gestatten? Wer soll entscheiden und auf welcher Grundlage soll eine Entscheidung zu Ausnahmen getroffenen werden? Dies auszugestalten, liegt zunächst im Verantwortungsbereich der Krankenhausleitungen (Mesoebene). Die konkrete Umsetzung von Einzelfallentscheidungen werden dann aber von den einzelnen Fachabteilungen in ärztlicher Verantwortung getroffen. Dies kann zwischen den Abteilungen zu unterschiedlichen Regelungen führen und in der Folge zu wiederholten Diskussionen über Einzelfälle zwischen den beteiligten Interessensgruppen (Patienten/‑innen/Angehörige/Personal).

Prinzipien der familienzentrierten Versorgung sprechen dafür, Besuche zuzulassen, wenn der Patient emotional Schutz und Sicherheit benötigt oder die Integrität der Familie gestärkt werden muss. Konzepte zur inhaltlichen Ausgestaltung wurden bereits vorgeschlagen. Es finden sich Empfehlungen dazu, Besuche bei pädiatrischen Patienten/‑innen, bei Gebärenden oder nach der Geburt, bei Patienten/‑innen mit schweren neurokognitiven Einschränkungen und bei Sterbenden zuzulassen [5].

Entsprechend der Empfehlungen zu Ethikleitlinien soll das vorliegende Papier dazu beitragen, Entscheidungsprozeduren auf Einrichtungsebene zu definieren, damit Ausnahmen vom Besuchsverbot nachvollziehbar, transparent und bestmöglich begründet werden können. Das Ziel besteht also nicht darin, eine Entscheidung inhaltlich vorwegzunehmen, sondern den Entscheidungsprozess innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens zu strukturieren und zu unterstützen [6, 7]. Bestenfalls können diese Empfehlungen zu einem reflektierten prozeduralen Vorgehen in den Institutionen (Mesoebene) und insbesondere auch auf der Ebene von Arzt/-in, Pflegende/-r, Patient/-in und Besucher/-in (Mikroebene) anregen und dadurch in der Folge Konflikte reduzieren.

Problemanalyse

Die Nutzen-Risiko-Abschätzung der Einschränkung von Besuchen im Krankenhaus auf Mikroebene ist komplex und vielschichtig.

Für die Patienten/‑innen in der stationären Versorgung ist der Schutz vor einem Infektionseintrag als besonders vulnerable Gruppe zu beachten [8].

Andererseits bestehen für Patienten/‑innen und für Angehörige Risiken durch Besuchseinschränkungen. Patienten/‑innen, die aufgrund von Isolationsmaßnahmen länger keinen oder sehr stark eingeschränkten Besuch erhalten, haben ein erhöhtes Risiko für Depression, Angst, posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), Schlafstörungen und Stress [8, 9]. Des Weiteren erhöht ein Besuchsverbot nachweislich die Delirinzidenz [10]. Die Gegenwart von vertrauten Personen lindert und verkürzt nachweislich ein Delir, wobei die Evidenz für die Dauer nicht eindeutig ist [11].

Auch die Angehörigen sind mitbetroffen [12]. Je nach Bedingungen wurde bei Familienangehörigen kritisch kranker Menschen die Prävalenz mit von 2–80 % Angstzuständen, 4–94 % Depressionen und 3–62 % PTBS bei Familienangehörigen kritisch Kranker festgestellt [13]. Ein Besuchsverbot führt zu Stress, erschwertem Informationsaustausch, eingeschränktem Coping und kann das Risiko für psychologische Folgeschäden erhöhen [14]. Internationale Empfehlungen betonen, dass die Ziele der familienzentrierten Versorgung [14] in Zeiten der Pandemie unverändert weiter gelten sollten: Angehörige als Partner des Behandlungsteams in der Versorgung von Patienten/‑innen zu berücksichtigen, Zusammenarbeit zwischen Angehörigen und Behandlungsteam zu stärken und die Integrität der Familie zu schützen [5].

Auf die Notwendigkeit einer Etablierung von psychosozialer Notfallbetreuung von Angehörigen weisen auch die Sektionen Psychologische Versorgungsstrukturen in der Intensivmedizin und Perspektive Resilienz der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hin [15].

Das Personal im Gesundheitswesen ist aktuell durch verschiedene Aspekte sehr stark belastet [16]. Die Reduktion von sozialen Kontakten untereinander und mit Angehörigen dient ihrem Infektionsschutz und der Reduktion des Risikos, sich als Kontaktperson in Quarantäne begeben zu müssen. Infiziertes und in Quarantäne befindliches Personal führt zu einer weiteren Zuspitzung der angespannten Personalsituation. Der in der Pandemie notwendige Wechsel von einer primär patientenzentrierten Praxis hin zu einer stark auch Public-Health-Interessen berücksichtigenden Medizin bedeutet für Ärzte/‑innen, Pflegende und andere an der Patientenversorgung beteiligte Berufsgruppen eine große Herausforderung [17].

Die Unsicherheit darüber, in welchem Fall eine Ausnahme vom Besuchsverbot erteilt werden sollte, oder die Unmöglichkeit, eine Ausnahme zu gewähren, obwohl sie dem behandelnden Personal gerechtfertigt erscheint, verursachen moralischen Stress [15,16,17].

Die fehlende Unterstützung der Patienten/‑innen durch ihre Angehörigen, die erschwerte Kommunikation und fehlende Informationen über den Patienten/-in, auch über Therapieziele und Patientenwillen sind Hürden und Belastung in der Patientenversorgung. Das Fehlen der Unterstützung von Angehörigen durch die Teams sowie von Angehörigen untereinander haben Auswirkungen auf alle Beteiligten.

Exemplarischer Überblick von Besuchsregelungen in der Coronapandemie

Die Tab. 1 (Zusatzmaterial online) stellt die von den genannten Einrichtungen im Dezember 2020 im Internet präsentierten Besuchsregelungen dar und dient als exemplarischer Überblick der Ausgestaltung der Vorgaben auf Makro- und Mesoebene. Die Beispiele machen der föderalistischen Ordnung in Deutschland entsprechend deutlich, dass keine bundesweit einheitlichen Vorgaben gelten. Die Einrichtungen unterscheiden übereinstimmend nicht zwischen Besucherregelungen für COVID- und Non-COVID-Stationen.

Empfehlungsgrundlage

Die hier aufgeführten Empfehlungen zum strukturierten Umgang mit diesem organisationsethischen Problem sind aus einem gemeinsamen interprofessionellen Prozess entstanden. Grundlage der Erarbeitung waren dabei vorrangig:

  • Erwägungen auf der Grundlage der angehörigenzentrierten Versorgung [5, 14, 18];

  • Kriterien einer fairen Prioritätensetzung anhand der Empfehlungen der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer (ZEKO, [19]);

  • Empfehlungen zur Priorisierung, die sich aus der akuten Pandemiesituation ergeben [20, 21].

Empfehlungen zur prozeduralen Gestaltung von Besuchsregelungen

Für jegliche Regelungen von Besuchen in Krankenhäusern sollte wie für alle aktuellen Pandemiemaßnahmen entsprechend der Empfehlung des Deutschen Ethikrates im April 2020 gelten, dass „ergriffene Maßnahmen in einem dynamischen Prozess regelmäßig reevaluiert werden, um Belastungen und Folgeschäden so gering wie möglich zu halten“ [22].

Auf Mesoebene sollen je nach Pandemielage, gesetzlicher Regelung und bestehenden Ressourcen Möglichkeiten geprüft werden, um ein allgemeines Besuchsverbot zu vermeiden, ohne die Gefahr eines Infektionseintrags unverhältnismäßig zu steigern (z. B. durch FFP2-Masken, geeignete Schutzkleidung, Antigentestung, Trennwände). Die Ausgestaltung dieser Maßnahmen sollte gemeinsam von Klinikern/‑innen und der Krankenhaushygiene dem aktuellen wissenschaftlichen Standard entsprechend und dem regionalen Infektionsgeschehen angepasst ausgestaltet werden. Dabei sollten die speziellen Risiken und Bedarfe verschiedener Abteilungen (z. B. COVID-Stationen) besondere Berücksichtigung finden.

Solange eine Besuchsbeschränkung aus Gründen des Infektionsschutzes in Krankenhäusern für notwendig erachtet wird, sollten folgende allgemeine Aspekte berücksichtigt werden (vgl. auch Abb. 1):

  • Die Entscheidung über eine Ausnahme vom Besuchsverbot aufgrund von Geschlecht, Alter, sozialem Status, Religionszugehörigkeit, Herkunft oder Versichertenstatus ist unzulässig. Dies ergibt sich aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot. Aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot ergeben sich für die konkrete Umsetzung auf Organisationsebene beispielsweise auch Verpflichtungen wie barrierefreie Informationen zum Zugang zu Ausnahmeregelung in einfacher Sprache oder Fremdsprachen.

  • Auf Mikroebene ist eine Entscheidungsfindung im interdisziplinären und -professionellen Team anzustreben, z. B. indem die Frage, welche/r Patient/-in als prioritär für eine Ausnahmeregelung erachtet wird, im Rahmen der Visite thematisiert wird.

  • Die Priorisierung sollte nach gemeinsam zuvor festgelegten Kriterien erfolgen, die auf den ZEKO-Maßgaben der Evidenz (Schaden-Nutzen-Analyse) und der Konsistenz („gleiche Fälle gleich behandeln“) beruhen. Diese Kriterien müssen regelmäßig kritisch reevaluiert werden und dem Infektionsgeschehen angepasst werden.

  • Es sollte Transparenz über die Entscheidungsfindung für alle Beteiligten also nach innen und außen angestrebt werden.

  • Es sollte eine Einigung über das Entscheidungsintervall getroffen werden (z. B. 2‑mal/Woche).

  • Solange kein Besuch möglich ist, soll eine telefonische/digitale Kontaktaufnahme unterstützt werden.

  • Angehörigen, denen keine Besuchsmöglichkeit gewährt werden kann, sollten seitens der Klinik proaktiv begleitet werden, um einen durch den/die Patienten/-in legitimierten Informationsfluss zu ermöglichen.

  • Legitimität: Die Grundlagen für die Entscheidungen sollten auf Leitungsebene legitimiert werden.

  • Patienten/‑innen und Angehörigen, denen ein Besuch verwehrt wird, sollte entsprechend der ZEKO-Empfehlung (wirksamer Rechtsschutz) auf Institutionsebene eine Widerspruchsinstanz zur Verfügung stehen (z. B. Ombudsstelle, Lob- und Beschwerdemanagement).

  • Die Entscheidungsspielräume auf Makro‑, Meso- und Mikroebene sollten in der internen und externen Unternehmenskommunikation aufgegriffen werden.

Abb. 1
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Empfehlungen zur Strukturierung von Besucherregelungen auf Mikroebene

Diskussion

Als Vorteil eines wie hier vorgestellten prozeduralen Vorgehens ist zunächst zu nennen, dass die Entscheidungsfindung von einer intuitiven auf eine heuristisch-rationale Ebene gebracht werden kann. Die strukturierte Gestaltung dieser Fragestellung innerhalb der Organisationseinheiten soll eine individuelle Abwägung sowie transparente Entscheidungen im moralischen Dilemma ermöglichen und dabei gleichzeitig übergeordnete organisationsethische Aspekte berücksichtigen.

Ein strukturiertes Vorgehen kann somit moralischen Stress adressieren [23, 24]. Es geht um einen nachvollziehbaren Kompromiss mit Ausbalancieren individueller und solidarischer Aspekte.

Analog zu anderen klinikinternen Abläufen ist anzunehmen, dass zu dem Konzept die Zeitpunkte der Abwägung (z. B. frühzeitig bei Aufnahme und/oder zu Visiten), die Dokumentation und die Kommunikationswege bekannt sein sollen. Dies soll wiederholte unsystematische Diskussionen zwischen den einzelnen Akteuren/‑innen verringern, Zeitressourcen sparen und Missverständnissen vorbeugen. Zudem können für neue Situationen eines bestimmten Problemtyps die erarbeiteten grundsätzlich relevanten Aspekte übernommen werden [6].

Nicht zuletzt zielt ein derartiges transparentes Vorgehen darauf ab, durch nachvollziehbare Entscheidungen auch Konflikte mit Patienten/‑innen und Angehörigen zu reduzieren und damit das therapeutische Verhältnis zu entlasten.

Durch die gemeinsame Festlegung der jeweils relevanten und praktikablen Kriterien wird weiterhin Raum für individuelle Entscheidungen gelassen.

Innerhalb von Einrichtungen, die zwar in Organisationseinheiten (Stationen) getrennt, aber nicht hermetisch gegeneinander abgeriegelt sind, wird auch das Risiko eines Infektionseintrags in die Einrichtung geteilt.

Die Einführung eines strukturierten Abwägungsprozesses kann die Balance zwischen individuellen Interessen und Erfordernissen einerseits und der solidarischen Verantwortung für das Gesamtunternehmen andererseits verdeutlichen.

Nicht zuletzt ist zu hoffen, dass in der Demonstration der unterschiedlichen Verantwortungsebenen (Makro‑, Meso- und Mikroebene) auch deutlich wird, dass der Handlungsspielraum der Krankenhäuser durch die Politik vorgezeichnet ist und negative Emotionen und Konflikte auch an die unterschiedlichen Stellen adressiert werden sollten. In der Folge könnte dies Konflikte zwischen Krankenhausleitung und Arbeitnehmern reduzieren, die in der Pandemie und darüber hinaus gegenseitig auf eine funktionierende Zusammenarbeit angewiesen sind.

Die tabellarische Aufstellung spiegelt anhand der unterschiedlichen Regelungen das föderalistische System wider, wohingegen die hier gegebenen Empfehlungen ihren Geltungsanspruch über die Ländergrenzen hinweg entfalten.

Ziel der vorliegenden Empfehlungen ist es, mit Struktur und Transparenz nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen, um dadurch Konflikte mit Patienten/‑innen und Angehörigen zu reduzieren und das therapeutische Verhältnis zu stabilisieren.