Subjektivität des Leidens
Was aus den wenigen im Kontext der PST auffindbaren Definitionen des „unerträglichen Leidens“ hervorgeht, ist der subjektive Charakter des Leidens [
12]. Ob und inwieweit ein Symptom oder eine Situation als leidvoll bzw. als unerträglich leidvoll empfunden und erlebt wird, hängt, so die Annahme, primär von der individuellen Empfindsamkeit und von subjektiven Bewertungsmaßstäben des/der Leidenden ab [
8]. Daraus folgt im Kontext der Indikationsstellung für eine PST, dass die Deutungshoheit über das Leiden primär beim/bei der Betroffenen, dem Patienten/der Patientin, liegt. Das subjektive Leiden entzieht sich einer direkten und objektiven Beurteilung durch andere – z. B. durch Pflegende, Ärzte, Angehörige usw. Diese Tatsache ist nicht unproblematisch, bedenkt man, dass ein Arzt/eine Ärztin das Vorliegen eines „unerträglichen Leidens“ möglichst sicher feststellen muss, um, lege artis, eine Indikation für eine PST stellen zu können.
Man kann sich zwar Symptome und Situationen vorstellen, welche die meisten Menschen als leidvoll und sogar als unerträglich bewerten würden. Aber gleichzeitig gibt es eine große Grauzone, in der eine solche intersubjektive Evidenz fehlt. Ebenso ist es sicherlich möglich, sich bis zu einem gewissen Grad durch Mitgefühl und Empathie in die Lage einer anderen Person zu versetzen und deren Leiden zumindest indirekt nachvollziehen zu können. Eine sichere Grundlage ist dies allerdings nicht, da schließlich bei einer solchen Beurteilung auch eigene Vorstellungen dessen, was man selbst als leidvoll oder unerträglich beurteilen würde, eine Rolle spielen [
13].
Inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffes
Eine weitere Schwierigkeit im Umgang mit dem Begriff des unerträglichen Leidens besteht in dessen inhaltlicher Unbestimmtheit. Es ist unklar und umstritten, ob der Begriff lediglich auf körperliche Symptome – wie Schmerzen, Dyspnoe, Agitiertheit – oder auch auf sogenannte existentielle Leiderlebnisse – ein Gefühl von Sinnlosigkeit, die Angst, anderen zur Last zu fallen, Abhängigkeit, Angst vor dem Tod, den Wunsch, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen, Kontrollverlust, Einsamkeit sowie ein Gefühl von Isolation – bezogen werden sollte [
14,
15].
In der klinischen Praxis führt diese inhaltliche Unterbestimmtheit zu erheblichen Handlungsunsicherheiten bei Ärztinnen und Ärzten [
16]. Während zur Messung von Symptomen wie Schmerzen, Fatigue oder Dyspnoe Instrumente und Skalen vorliegen, bleibt offen, wie die intersubjektive Erfassung in Bezug auf psycho-existentielles oder soziales Leiden ermöglicht werden kann. Es handelt sich hierbei um seelische und existentielle Empfindungen, zu denen Außenstehende nur sehr bedingt Zugang haben können. Empirische Studien haben bereits gezeigt, dass Ärzte/Ärztinnen und Pflegende bei der Diagnose von existentiellem Leiden oftmals unsicher sind [
17,
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Normativität des Leidens
Der Leidensbegriff ist kein wertneutraler Begriff. Wenn alltagssprachlich von Leiden die Rede ist, so werden damit unerwünschte und negative Widerfahrnisse bezeichnet und wenn jemand den Satz ausspricht, „Ich leide“, dann ist damit immer auch eine Forderung an den anderen/die andere gerichtet, etwas zu unternehmen, um das Leiden zu lindern.
Eine Gefahr, die mit dem starken normativen Charakter des unerträglichen Leidens einhergehen kann, ist, dass das Leiden als moralisches Druckmittel zur Instrumentalisierung des medizinischen Personals eingesetzt werden kann. Wenn von „unerträglichem Leiden“ gesprochen wird, so wird damit die Dringlichkeit einer Intervention, einer Linderung betont. Der Patient/Die Patientin bringt damit zum Ausdruck, dass er/sie seinen/ihren Zustand nicht mehr länger ertragen, erdulden kann. Wenn ein/e Patient/in auf Grund unerträglichen Leidens eine Sedierung einfordert, darf dann ein Arzt/eine Ärztin oder eine Pflegekraft überhaupt die subjektiv empfundene Unerträglichkeit des Leidens seines/ihre Patienten/seiner/ihrer Patientin in Frage stellen? Besteht bei unerträglichem Leiden noch die Möglichkeit für Nachfragen und Vergewisserung, für eine weitere Konsultation mit dem Seelsorger/der Seelsorgerin, dem Psychologen/der Psychologin oder dem Psychiater/der Psychiaterin, den Angehörigen?
Eine weitere Gefahr, die mit dem normativen Charakter des Leidens einhergeht, besteht darin, dass andere Sorgfaltskriterien in der Praxis an Bedeutung verlieren können. Wenn das Leiden als zentrales Kriterium angesehen wird, weshalb sollte dann eine Maßnahme, die auf dessen Linderung abzielt, überhaupt noch an andere Sorgfaltskriterien – z. B. an den Eintritt in die Sterbephase – gebunden sein, wie es in den meisten Leitlinien zur PST vorgesehen ist? Warum sollte z. B. einem Patienten/einer Patientin in einem frühen Stadium einer terminalen Erkrankung beim Vorliegen eines Zustands, der zwar nicht krankheitsbedingt ist, aber dennoch als unerträglich leidvoll bewertet wird, eine Sedierung verwehrt werden?
Die aufgezeigten Probleme im Umgang mit dem Begriff des „unerträglichen Leidens“ im Kontext der Indikationsstellung für eine PST verweisen letztlich auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Klärung und Reflexion des Begriffes des unerträglichen Leidens, ebenso wie des Verständnisses der Reichweite des Leidenslinderungsauftrags der Medizin.
Es ist deskriptiv zwar richtig, dass Leiden ein subjektives Erlebnis ist, und es ist in vielen Fällen auch richtig, dass ein Mensch immer als ganze Person leidet. Es ist daher prinzipiell zu begrüßen, dass sich gerade die Palliativmedizin einem holistischen Menschenbild verschrieben hat und die Berücksichtigung auch der existentiellen, sozialen, spirituellen Nöte der Patient/innen einfordert. Dennoch kann diese Zielsetzung nicht bedeuten, dass die Medizin deshalb gleichermaßen für alle Dimensionen des Leidens zuständig sein kann. Dies zumindest dann nicht, wenn mit Zuständigkeit gemeint ist, dass sie die ganze Person behandeln und das gesamte Leiden lindern muss. Das wäre zum einen eine Überforderung der medizinischen Möglichkeiten und nicht zuletzt des medizinischen Personals. Zum anderen kann sich dabei leicht das Risiko ergeben, dass die Person des Patienten/der Patientin und sein/ihr Leiden doch nur auf jene Aspekte reduziert werden würde, für die es medizinisch-technische Behandlungsmethoden gibt – mit der Konsequenz, dass vor allem existentielle, spirituelle oder psycho-soziale Aspekte des Leidens einfach pathologisiert oder medikalisiert würden. Natürlich können Leiderfahrungen wie Verzweiflung, Angst oder Einsamkeit durch eine komplette Eindämmung des Bewusstseins behoben werden. Ob dies ohne weiteres als eine angemessene Behandlung dieser Leiderlebnisse angesehen werden kann, ist jedoch fraglich. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Leiderlebnissen bzw. verschiedenen Dimensionen des Leidens sollten nicht vorschnell nivelliert werden. Vielmehr bedarf es weiterer Überlegungen darüber, welche Kriterien zur Differenzierung einzelner Leiderlebnisse untereinander und einzelner Dimensionen des Leidens entwickelt werden könnten, um auf dieser Basis ein ebenso differenziertes Angebot – vielleicht auch an nicht-medizinischen Leidenslinderungsmitteln – zur Verfügung zu stellen. Dies kann vermutlich am besten durch eine gute und ernst gemeinte interdisziplinäre bzw. multiprofessionelle Behandlung geschehen.
Die normative und kraftvoll-appellative Wirkung, die der Begriff des Leidens und erst recht der Begriff des „unerträglichen Leidens“ entfalten, dürfen zudem nicht verdecken, dass das Leiden auch ein wesentlicher Bestandteil des Lebens ist. Wenn der Leidenslinderungsauftrag der Medizin als ein Auftrag zur umfänglichen Leidensvermeidung oder Leidensabschaffung verstanden wird, dann muss man sich klarmachen, dass dieser Auftrag in letzter Konsequenz nur durch die „Abschaffung“ der leidenden Person selbst eingelöst werden kann. Damit ist zwar keineswegs gemeint, dass deshalb jegliche Form von Leiden einfach hinzunehmen und zu erdulden wäre. Genauso wenig aber darf die Normativität des Leidensbegriffs einen Automatismus in Gang setzen, durch den die Linderung von Leiderlebnissen undifferenziert eingefordert oder in Aussicht gestellt wird.
Den Patienten/Die Patientin als Person und dessen/deren Leiden ernst zu nehmen, kann auch bedeuten, offen anzuerkennen, dass das Leiden eine Herausforderung ist, die alle gleichermaßen, ob Arzt/Ärztin, Pflegende, Seelsorger/in oder Patient/in, letztlich auf Fragen stößt, für die es keine einfachen und auch keine allgemeingültigen, wissenschaftlich fundierten Antworten oder Lösungen gibt. Die Grenzen medizinischer Leidenslinderungsmöglichkeiten zu benennen, bedeutet dabei nicht, dass man den Patienten/die Patientin mit seinem/ihrem existentiellen Leiden allein lassen sollte. Vielmehr sollte der Leidenslinderungsauftrag der Medizin in dem Sinne als ein absoluter verstanden werden, dass er die Pflicht begründet, Leidenden beizustehen und sie zu begleiten, selbst und gerade dann, wenn man nicht in der Lage ist, sie gänzlich von ihrem Leiden zu befreien [
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