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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 1/2018

Open Access 13.08.2018 | Neue Versorgungslandschaften

Kinderschutz in Kinder- und Jugendkliniken

verfasst von: Univ.-Prof. Dr. Peter J. Scheer

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Sonderheft 1/2018

Zusammenfassung

Ärzte nehmen sich misshandelter und missbrauchter Kinder an. Gesellschaftliche Definitionen, was Misshandlung und was Missbrauch sind, haben sich in Europa historisch geändert. In anderen Ländern und Kulturen bestehen andere Auffassungen.
Kinderschutzarbeit, wie sie der Autor mit Michael Höllwarth und gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen 1990 in Graz begonnen hat, hat nur ein Ziel: Beendigung der Noxe, Ende der Misshandlung und des Missbrauchs. Ziele wie Verbesserung der psychosozialen Lage, regelmäßiger Schulbesuch und andere mehr sind nicht Aufgabe der Kinderschutzarbeit. Kinderschutzarbeit ist immer interdisziplinär. Die Zusammenarbeit in den Gruppen soll egalitär sein. Die heutige gesetzliche Lage (Ärztegesetz, Strafgesetz) ermöglicht es den Kinderschutzgruppen in allen österreichischen Spitälern von einer Anzeige abzusehen, wenn es im Interesse des Kindes ist. Dabei muss die Kooperation der Familie vorliegen und die Misshandlung darf nicht lebensbedrohlich sein. Kinderschutzarbeit ist wichtig, herausfordernd, aber rechtlich widersprüchlich. Der Lohn der Arbeit sind Kinder, die man davor bewahrt weiter Gewalt ausgesetzt zu sein.
Hinweise
Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag beim 1. Österreichischen Tag für pädiatrische Psychosomatik, Leoben, Juni 2017.

Einleitung

Seit Menschengedenken ist es Auftrag der Ärzte Menschen zu schützen. Insbesondere Kinder. Die Kinderschutzarbeit wurde von Ärztinnen und Ärzten in Österreich 1990 mit einer gemeinsamen Kinderschutzgruppe der Univ.-Klinik für Kinderchirurgie und der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Graz des Autors dieses Beitrags und Michael Höllwarth, dem damaligen stellvertretenden Leiter der chirurgischen Klinik, begonnen. Leitgedanken der Gruppe wurden:
1.
Interdisziplinarität
 
2.
Schutz des Kindes vor Wiederholung der Misshandlung oder des Missbrauchs
 
3.
Besonnenes, gemeinsames Handeln in Zusammenarbeit mit den Jugendwohlfahrtsträgern
 
Was so einfach klingt, war schwierig. Einerseits gab es damals die gesetzliche Grundlage dieses Vorgehens nicht. Es war verpflichtend, den Verdacht auf Misshandlung und/oder Missbrauch anzuzeigen. Wir wussten schon damals, dass die Exekutive und die Gerichtsbarkeit zwar die Grenzen der gesellschaftlich erlaubten Misshandlung aufzeigten, aber in concreto den Kindern und Jugendlichen wenig helfen können. Es mussten erst die Grundlagen der Kinderschutzarbeit in den beiden Kliniken geschaffen werden. Niemand wollte sich im Grunde mit den betroffenen Kindern und deren Familien beschäftigen. Kollegen hatten Ekel und Abscheu vor Misshandlung. Die Meldung an die Jugendwohlfahrt beziehungsweise eine Verletzungsanzeige an die Polizei schien für viele ein passendes Vorgehen zu sein. Sich selbst damit zu beschäftigen schien mühsam und wenig Erfolg versprechend.
Es war ein weiter Weg bis zur Etablierung von Kinderschutzgruppen als gesetzliche Vorschrift in allen Krankenanstalten (Einfügung des § 8e Abs. 1–3, Krankenanstaltsgesetz. BgBl. 2004/35), in denen Kinder und Jugendliche behandelt wurden. Ebenso war die Änderung der gesetzlichen Grundlage mit einer Ausnahme von der Anzeigepflicht erforderlich (Schlagwort: Anzeigerecht statt Anzeigepflicht), die in einem günstigen Moment in Zusammenarbeit mit Vizekanzler Mag. H. Haupt dadurch möglich wurde, dass seine dem rechten Rand zuzurechnende politische Bewegung Strafverschärfung bei Missbrauch als Politikum wollte. Statt Strafverschärfung konnte ihm Michael Höllwarth eine verbindliche Hilfseinrichtung vorschlagen, die Gesetz (Änderung des § 54 Ärztegesetzes BgBl: 2001, 110, Änderung des § 37 Abs. 2 und 3 des Jugendwohlfahrtsgesetzes, 1998 idgF.) wurde und bis heute (2018) ist.
Kinderschutz verfolgt in Kliniken den Zweck der sekundären Prävention
Festzuhalten ist nochmals, dass Kinderschutz in Kliniken den Zweck der sekundären Prävention verfolgt. Durch die Tätigkeit der Ärzte, Diplomkinderkrankenschwestern, Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen und anderer paramedizinischer Berufsangehöriger bis hin zu Krankenanstaltenlehrerinnen soll die Noxe, die Misshandlung und/oder der Missbrauch verhindert werden. Darüber hinaus gehende Ziele hat die Kinderschutzgruppe nicht. Das zu erlernen war schwer.
Die Frage der Generalprävention kann man sich aus moralischen Überlegungen stellen. Das ist gut und wichtig. Allerdings muss man wissen, dass das nicht die Aufgabe ärztlichen-klinischen Kinderschutzes sein kann. Die Verschiebung gesellschaftlicher Normen von einem „Rachegedanken“ in der Justiz zum „Hilfsangebot“ als Ziel der Strafverfolgung mag ein ebenso gutes Beispiel sein, wie die Frage, ob körperliche Züchtigung eine Rolle in der Kindererziehung spielen soll, oder eben nicht.

Die Anfänge in Österreich

Hans Czermak (1913–1989) hat als „Fachfremder“, nämlich als Neonatologe und späterer Direktor des G. v. Preyerschen Kinderspitals in Wien, mit seiner Initiative gegen die „gesunde Watschen“ (Anm.: „Watschen“ ist in Wienerisch, eigentlich in Österreichisch die Backpfeife) gesellschaftliche Moralvorstellung zugunsten des Kindes verschoben.
Gekrönt wurde sein Lebenswerk mit der von ihm angeregten Gesetzesänderung, mit der das Bundesgesetz vom 15. März 1989 (Kindschaftsrecht-Änderungsgesetz, BGBl.Nr. 162/1989), womit u. a. im § 146a ABGB festgehalten wird: „Das minderjährige Kind hat die Anordnungen der Eltern zu befolgen. Die Eltern haben bei ihren Anordnungen und deren Durchsetzung auf Alter, Entwicklung und Persönlichkeit des Kindes Bedacht zu nehmen“ um den Halbsatz ergänzt wurde: „die Anwendung von Gewalt und die Zufügung körperlichen oder seelischen Leides sind unzulässig“ [1].
Dieser Zusatz ist selbst in Europa selten. In Großbritannien war die körperliche Züchtigung in privaten Schulen noch bis 1996 statthaft und ihre Wiedereinführung war bis 2005 von eben denselben eingeklagt worden. 2012 waren die Hälfte aller Eltern für ihre Wiedereinführung [2].
Von den insgesamt 47 Europaratsländern haben 27 jede Form körperlicher Strafen für Kinder verboten. Vorreiter war 1979 Schweden, zehn Jahre später folgte Österreich, erst im Jahr 2000 dann auch Deutschland [3].
Gesamtgesellschaftliche Normen zeigen sich generell im Umgang mit Gewalt
Das heißt aber, dass es in 20 Ländern, die im Europarat vertreten sind, keine gesellschaftliche Mehrheit für gewaltfreie Erziehung gibt. Das ist ein Befund, der all jenen zu denken geben sollte, die das Recht des Kindes auf eine „glückliche Kindheit“ und eine Erziehung ohne Erniedrigung als erreicht betrachten wollen. Hier mag der Wunsch der Vater des Gedankens sein. Noch 2014 fand eine Initiative der Grünen im französischen Parlament, die eine Abschaffung der „leichten“ Prügelstrafe von Kindern zu Hause zum Ziel hatte, keine Mehrheit.
Gesamtgesellschaftliche Normen zeigen sich generell im Umgang mit Gewalt. So wie die Todesstrafe keine Generalprävention gegen Gewaltverbrechen ist, oder sogar einen negativen Effekt auf das Auftreten von Gewalt gegen Leib und Leben haben kann, so ist die Prügelstrafe für Kinder weltweit mehr als umstritten. Es bestehen ernst zu nehmende Auffassungen, dass die Rate an Gewaltverbrechen in den USA nicht nur mit dem leichten Zugang zu Waffen zu erklären ist. Denn wäre es so, dann hätte die Schweiz, in der die allgemeine Volksbewaffnung Tradition ist, mindestens ebenso viele Morde. Hat sie aber nicht. Der gesellschaftliche Konsens im Umgang mit Waffen ist ein anderer.
Ebenso hat das Verbot von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als gesetzliche Norm großen Einfluss auf die Möglichkeiten des Kinderschutzes.

Kinderschutzarbeit konkret

Hans Olbing (1930–2003) gründete die erste Kinderschutzgruppe an einer Klinik in Deutschland. Zur vorbeugenden Bekämpfung von Kindesmisshandlungen gründete er gemeinsam mit dem Kinderschutzbund die erste Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Kindesmisshandlungen in Essen, was Signalwirkung für das Land Nordrhein-Westfalen und die Bundesrepublik hatte [4]. Er war Kindernephrologe, jedoch war ihm die Sozialpädiatrie immer wichtig gewesen. Seine Art der ärztlichen Kinderschutzgruppe in einem Spital hatte Signalwirkung für Österreich und die Schweiz. Er beehrte die Grazer Kinderschutzgruppe in ihren Anfängen mit seinem Besuch.
Wie von ihm gelehrt gibt es für klinikbasierte Kinderschutzarbeit einige Grundsätze zu beachten:

Kinderschutzarbeit in Kliniken ist immer freiwillig und unbezahlt

Das bedeutet, dass die Teilnehmenden das gerne machen müssen und sich von der Mitgliedschaft keinen Vorteil versprechen können. Das ist nicht leicht. In unserer Gruppe gab es immer wieder Austritte. Sei es, dass andere Aufgaben für die Betreffenden wichtiger wurden, sei es, dass ihnen die Arbeit psychisch zu schwer fiel. Sie war nur in ihren Zielen erfreulich. In ihrer täglichen Praxis war und ist sie das nicht. Es ist nicht leicht mit Eltern, von denen man annimmt, dass sie ihr Kind misshandeln, Gespräche zu führen und sie zu einer Änderung ihres Verhaltens zu bewegen. Es ist nicht ersprießlich mit Eltern Gespräche zu führen, in denen der Verdacht auf sexuellen Missbrauch besprochen wird. In vielen Supervisionsstunden wurden Ekel, Zorn, ja sogar der Hass und das Unverständnis, dass kein Familienmitglied dem Betroffenen zur Seite gestanden hat, bearbeitet.
Fallbeispiel.
Lange vor der Idee der Kinderschutzgruppen in Kinderspitälern wurde an der neu gegründeten Psychosomatik des Karolinen-Kinderspitals in Wien ein achtjähriger Knabe vorgestellt. Er litt nach Analatresie, mehrjährigem Colostoma, Rückoperation und Herstellung eines Anus mittels Muskeltransplantation an Enkopresis. Die psychoanalytisch orientierte Spieltherapie brachte trotz genauester Einhaltung aller Regeln der Kunst keinen Fortschritt. Unvergessen, dass dieser Knabe fast ein Jahr an der Einrichtung verbrachte. Die Kombination aus muskulärer Insuffizienz und mangelndem Training des Anus bei gleichzeitiger rezidivierender Verengung mit Bougierung in Allgemeinnarkose und einem körperlich strafenden Elternhaus waren ursächlich für die Unfähigkeit des Kindes Sauberkeit zu erlernen. Was hätte man damals, 1976, daraus lernen müssen? Psychotherapie war nicht indiziert, da es sich nicht um einen inneren Konflikt des Kindes handelte. Das Kind wurde wie bei einem Münchhausensyndrom „bestraft“, indem die Klinik es aufnahm, betreute, aber die Ursachen der Störung nicht bekämpfte.

Es geht um die Hilfe für das Kind

Strafe, Kriminalistik, Ekel und negative Gefühle darf es geben und sie dürfen intern besprochen werden. Im Vordergrund muss die Hilfe für das Kind stehen. Das Kind soll ein „sicheres“ Heim haben. Es soll von der Kinderschutzgruppe geschützt werden. Sie ist sein Anwalt. Fragen, wie die Ausforschung des Täters, der Täterin (die bei den bei Misshandlung am meisten gefährdeten Früh- und Neugeborenen häufig infrage kommen), ist nicht Aufgabe der Kinderschutzgruppe. Bei dem Verdacht, dass es sich um eine falsche Anschuldigung handeln könnte, wie es in den letzten Jahrzehnten im Zuge von Ehescheidungen bisweilen der Fall war, ist die Anzeige bei der Exekutive obligatorisch. Hier muss nicht das Kind geschützt werden, sondern ein „Missbrauch“ der Klinik verhindert werden.
Fallbeispiel.
Eine junge Frau, 14 Jahre alt, kam kurz nach der Einführung des MRT wiederholt mit nicht-epileptischen Anfällen an die Klinik. Jedes Mal wurde ein MRT angeordnet und meist auch noch in der Nacht durchgeführt. Der erste und der zwölfte Befund waren ident: keine strukturellen Auffälligkeiten des Gehirns, ebenso alle anderen Strukturen wie Nasennebenhöhlen unauffällig. So wurde sie an die Psychosomatik überstellt. Wir erlebten eine lebensfrohe, aufgeweckte junge Frau, bei der sich keine Ursache für ihre Anfälle fand. Nach etwa einem Jahr des Nachhausegehens und Wiederkommens vertraute sie sich an. Sie stand in einer sexuellen Beziehung zu ihrem Stiefvater, die sie nicht beenden konnte. Wir versuchten den familienerhaltenden Ansatz und verzichteten vorerst auf eine Anzeige. Vergebens. Leugnung und Empörung war die Reaktion der Eltern. Also Anzeige. Der Autor dieses Beitrags durfte als Vertrauensperson bei der kontradiktorischen Vernehmung anwesend sein. Mit Fragen zum Raum, in dem der vermeintliche Täter sich mit meiner Patientin zurückgezogen hatte (Welche Pflanze war im Raum? Wie hat die ausgeschaut? Weißt du den Namen der Pflanze? Wann genau war es: Tag und Stunde?), und anderen Nebensächlichkeiten wurde die Glaubwürdigkeit der Zeugin in Zweifel gezogen. Obwohl mir und dem Team der Täter bekannt war und dieser im Nebenraum saß – nichts half. Die junge Frau wurde zur Lügnerin gestempelt, die ihre Familie zerstörte.
Das kann und darf nicht generalisiert werden. Vorsicht und Respekt gegenüber der Strafverfolgung aus der Sicht des Kindes sind aber angezeigt. Noch im letzten Jahrhundert gingen missbrauchte Frauen in den selbstgewählten Tod, im zwanzigsten Jahrhundert galten sie als die Verführerinnen und sie sind bis heute Unterstellungen ausgesetzt. Die Rolle der Kinderschutzgruppe sollte es sein, an der Seite des Opfers zu bleiben, unabhängig von den Erkenntnissen und Vollzügen der Exekutive.

Um Zusammenarbeit muss gerungen werden

Die Zusammenarbeit mit der Jugendwohlfahrt, mit der Exekutive und anderen Organisationen und Stellen ist ein Ringen um Gemeinsamkeit. Kinderschutzarbeit aus Kliniken und Spitälern war neu. Es gab schon vielerlei. Spezielle Organe der Polizei, Staatsanwälte, Gerichte, Jugendwohlfahrt, freie Träger, Hilfsgruppen in religiösem Kontext und anderes mehr, je nach regionaler Situation. Diese gewachsenen Strukturen haben andere gesellschaftliche Rollen und Positionen, andere ideologische Überzeugungen und oftmals auch komplexere Ziele. Hier kann die eindeutige Rolle der ärztlich dominierten und mit anderen paramedizinischen Berufen kooperierenden Kinderschutzgruppe hilfreich sein. Den Verführungen an den Aufgaben der andren Träger teilzunehmen, kann der Einzelne außerhalb der Kinderschutzgruppe gerne erliegen. Als Teil dieser Gruppe ist nur die sekundäre Prävention das Ziel. Zusätzlich muss der menschliche Faktor berücksichtigt werden. Bisweilen ist die Zusammenarbeit unter großzügiger Auslegung des Datenschutzes möglich, wie im Bereich der Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde im Krankenhaus Obersteiermark, Leoben. Dort trifft sich die Kinderschutzgruppe mit den anderen Stakeholdern monatlich, um einzelne Kinder und Langzeitstrategien zu besprechen. In Graz war es – jedenfalls bis zu meinem Ausscheiden als Leiter der Kinderschutzgruppe (2014) der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde – unter Verweis auf den Datenschutz – nicht möglich vom Jugendamt Rückmeldungen zu bekommen. Die Pflege der Zusammenarbeit zum Wohle des Kindes (und nicht aus Neugier!) ist eine wichtige Aufgabe.

Pflege der Gruppe

Im Management nennt man einen Teil dieser Aufgabe oft Retention Management. Damit ist gemeint, dass man die Menschen, die sich auskennen und etwas beitragen können und wollen, so behandelt, dass sie gerne ihre Aufgaben durchführen und dabeibleiben. Klingt einfach, ist es aber nicht. Wie in jeder Gruppe bildeten sich Rivalitäten, Animositäten und die durch die Tätigkeit selbst hervorgerufenen Reibungen heraus. In dieser Situation versuchten wir durch Supervision wieder besser zusammenarbeiten zu können. Allerdings fand der Autor dieses Beitrags, dass viel mehr als Beratung und Besprechung der emotionalen Probleme in der Gruppe, die Konzentration auf das Ziel, Prävention und das Weglassen des Wunsches, die belasteten Lebensumstände unserer Klienten zu verbessern, Heilmittel der Gruppe war.

Sei standhaft, geduldig und verschwiegen

In vielen Foren und in Telefonberatungen, aber auch in Beratungen, die man im Netz finden kann, werden „Ratschläge“ gegeben. Der Autor dieses Beitrags hält davon wenig für das angesprochene Klientel. Menschen, die einen Rat brauchen und auch umsetzen können, gehören zum geringsten Teil zum Klientel einer Kinderschutzgruppe in einem Krankenhaus. Es mag sein, dass dieser Typus in externen Beratungsstellen vorkommt, sicher in Praxen niedergelassener Psychotherapeuten. Im Spital ist die Konstellation eine andere.
Fallbeispiel.
Ein Kind wird um 22 Uhr in einem Dienst vorgestellt. Es sei von einer Schaukel gestürzt und hätte seitdem Bauchschmerzen. Durch interne Probleme gelingt es dem Autor nicht das Kind an die Beobachtungs- und Intensivstation zu verlegen, obwohl das Kalium auffällig hoch ist. Der diensthabende Oberarzt wünscht die Verlegung nicht. Tage später kommt es bei dem sich immer mehr verschlechternden Kind, bei dem bereits mehrmals mittels Ultraschall der Bauch untersucht worden war, zur Verlegung. Der aufnehmende Intensivmediziner setzt bei dem soporösen Kind routinemäßig einen Blasenverweilkatheter, aus dem sich mehrere Liter einer trüben, übelriechenden Flüssigkeit ergießen. Auflösung des Rätsels: Der Lebensgefährte der Mutter hatte dem Kind Tritte in den Bauch versetzt, als die Blase weitgehend gefüllt war. Blasenruptur mit interner Rückresorption von Elektrolyten durch das Peritoneum. Wegen schwerer Verletzung und einer Mutter, die weiter leugnet, kommt es zur Anzeige an die Exekutive.
Das ist das Szenario, mit dem sich Kinderschutzgruppen in Krankenanstalten beschäftigen müssen. Hier nützt Beratung wenig. Hier geht es um Fragen, wie: Ist das Zuhause des Kindes eine sichere Heimstätte? Kann und wird sich die Mutter vom Täter trennen? Wie kann das Kind so überwacht werden, dass wir seine Sicherheit garantieren können? Wie oft muss es von den Ärzten und anderen Mitarbeiterinnen der Klinik gesehen werden? Können andere Stellen die Weiterbetreuung übernehmen?
Während diese Fragen besprochen und bisweilen geklärt werden, gilt es ruhig, besonnen und verschwiegen zu sein. Jeder Brief, jede Mitteilung kann dem Kind schaden. Zorn auf die Mutter, die ihr Kind letzten Endes gebracht hat, wäre auch nicht hilfreich gewesen.

Die Rolle der Zuweisung (Art und Weise sowie Weiterbetreuung)

In der Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Kollegen ergibt sich oft die Frage, wie man bei Verdacht auf Misshandlung oder Missbrauch das Kind zuweisen soll. In verständlicher Angst vor einem „Konfrontationsgespräch“ mit den Eltern, wenn der Verdacht besteht, wird das Kind unter Vorspiegelung „Falscher Tatsachen“ (Anm.: An sich ist das Vorspiegeln falscher Tatsachen im österr. Strafgesetzbuch § 263 strafbar. Hier dient es jedoch nicht einem betrügerischen Zweck oder der Bereicherung. Bedenken muss man allerdings, dass der Behandlungsvertrag unter falschen Prämissen zustande kommt. Der Autor kennt keinen Fall, in dem das eingeklagt wurde. Das ändert nichts an der Vermutung, dass es einklagbar wäre.) überwiesen. Dieses Vorgehen hat manch Gutes: Der niedergelassene Kollege bringt sich und die Eltern nicht in Verruf. Das Kind kommt tatsächlich in die Klinik. In einer pädiatrisch-psychosomatischen Anamnese und Untersuchung und in einer klinisch-psychologischen Befundung kann man den Verdacht entweder entkräften oder erhärten. Auf dieser Grundlage und mit dem Hintergrund einer Organisation wie einer Klinik ist ein Gespräch mit den Eltern oft aussichtsreicher. Dort können dann Einsicht, Kooperationsbereitschaft und langfristige Konsequenzen für das Kind besprochen werden.
Andererseits ist so eine Art der Zuweisung für die Kollegen in der Klinik nicht einfach. Sie müssen das ihnen übertragene „Geheimnis“ bei der Aufnahme wahren. Nicht jeder ist ein guter „Lügner“. Es empfiehlt sich das Kind keinesfalls auf eine Spezialabteilung, wie einer Psychosomatik, aufzunehmen. Da Kinderschutz das Anliegen aller Subdisziplinen der Pädiatrie ist und sein muss, sind weder Kinder- und Jugendpsychiater noch psychodynamisch ausgerichtete Pädiater bessere Ansprechpartner als jede andere Kinderärztin.
Fallbeispiel.
In lebhaftester Erinnerung sind dem Autor die Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen anderer Stationen, die ein betroffenes Kind verlegen wollten. „Wir haben keinen Platz für dieses Kind. Wir müssen uns um wirklich Kranke kümmern!“ Darauf konnte nur erwidert werden: „Wenn das Kind nach Hause entlassen werden kann, dann bitte das zu machen. Wenn allerdings solche Entlassung nicht möglich ist, ist zu bedenken: Die Spezialstation soll keine Misthalde sein in der ‚unecht‘ Kranke gelagert werden.“
Denn so wie Kinder drogenkranker Mütter an der neonatologischen Bettenstation entwöhnt und gepflegt werden, oder krebskranke Kinder mit Spätfolgen der Erkrankung oder der Therapie an der Onkologie, so soll Kinderschutz Anliegen und Auftrag des Kinderspitals sein. Die Übernahme dieses Kindes würde den möglichen Lerneffekt für die „somatisch“ orientierten Kollegen reduzieren und die Ausrichtung der Krankenanstalt auf das Prinzip Kinderschutz keinen guten Dienst erweisen.

Prävention

Ziel der Kinderschutzarbeit in einem Spital ist die sekundäre Prävention. Generalprävention kann und soll die Aufgabe engagierter Kinderärzte in ihren Fachgesellschaften und zum Beispiel in der kinderärztlichen Vereinigung sein. Vor allem geht es um die Veränderung gesellschaftlicher Einstellungen zur körperlichen Züchtigung, zur Kinderprostitution und zur Kinderehe. Hier sind große Fortschritte erzielt worden. Die Inanspruchnahme von Kinderprostituierten beider Geschlechter in außereuropäischen Ländern ist zu einem verfolgbaren Delikt in den Heimatländern der Täterinnen und Täter geworden (Anm.: Unter Maßnahmen gegen Kindersextourismus werden diese in Art. 1 der Kinderrechtskonvention geregelt. Diese wurde von vielen Staaten ratifiziert und ist in manchen einklagbares Recht geworden.). Kinderehen sind in vielen Ländern Mitteleuropas verboten, egal wo sie geschlossen wurden (etwa in Deutschland seit 2017, [5]). Die Verbringung jugendlicher Frauen in Herkunftsländer von Migranten zum Zwecke der vermittelten Eheschließung ohne Zustimmung der Braut oder Erreichung der Zustimmung unter Androhung körperlicher, sexueller oder seelischer Gewalt ist strafbar. Große Fortschritte für die Betroffenen und Kulturleistungen für uns alle. Die Umsetzung stößt naturgemäß auf Hindernisse und Schwierigkeiten. Das Bekenntnis aber, dass die Ausbeutung von Frauen und Kindern unerwünscht ist, sollte als gesellschaftliche Fortentwicklung Anerkennung finden.

Fazit für die Praxis

  • Kinderschutzarbeit in ärztlicher Praxis hat zum Ziel das Wiederauftreten zu verhindern.
  • Kinderschutzarbeit in Spitälern soll interdisziplinär gemacht werden.
  • Kinderschutzarbeit ist keine Sozialarbeit. Sie kümmert sich daher nicht um psychosoziale Probleme.
  • Kinderschutzarbeit ist freiwillig und ehrenamtlich.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

P.J. Scheer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine vom Autor durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Pernhaupt G, Czermak H (1980) Die gesunde Ohrfeige macht krank. Orac, Wien Pernhaupt G, Czermak H (1980) Die gesunde Ohrfeige macht krank. Orac, Wien
Metadaten
Titel
Kinderschutz in Kinder- und Jugendkliniken
verfasst von
Univ.-Prof. Dr. Peter J. Scheer
Publikationsdatum
13.08.2018
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe Sonderheft 1/2018
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-018-0488-9

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