Seit dem 1. Juli 2023 ist die Novellierung des Unterbringungsgesetzes in Kraft. Diese hat einige wesentliche Neuerungen mit sich gebracht, wie die Unterscheidung zwischen entscheidungs- und nicht entscheidungsfähigen Patient:innen im Behandlungsrecht und die explizite Erwähnung im Gesetzestext einer Unterstützung der Betroffenen durch eine sogenannte Vertrauensperson. Diese Reform steht im Zeichen einer Förderung der Selbstbestimmung psychisch kranker Personen und verschärft die Aufklärungs‑, Verständigungs- und Dokumentationspflichten des medizinischen Personals, das sich nachweislich um die Einbindung der Patient:innen und ihrer Vertrauenspersonen in Behandlungsentscheidungen bemühen muss. Anhand mehrerer Fallbeispiele sollen die gesetzlichen Neuerungen kritisch diskutiert, die Umsetzbarkeit ebendieser sowie Vor- und Nachteile veranschaulicht werden.
Hinweise
×
QR-Code scannen & Beitrag online lesen
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Einleitung
Seit Inkrafttreten mit 1. Jänner 1991 regelt das österreichische Unterbringungsgesetz die Behandlung gegen oder ohne den Willen von stationär behandelten Patient:innen an einer psychiatrischen Abteilung bzw. Krankenanstalt. Im Gesetzestext heißt es „Unterbringung ohne Verlangen“. Voraussetzungen für die Unterbringung, die von einem Facharzt/einer Fachärztin für Psychiatrie festgestellt und vom zuständigen Gericht geprüft wird, sind eine psychische Erkrankung, die eine ernstliche und erhebliche Gefährdung für Leben und Gesundheit der Patient:innen selbst oder anderer (Selbst- und/oder Fremdgefährdung) darstellt, sowie die Alternativlosigkeit hinsichtlich einer ausreichenden Betreuung oder Behandlung der Betroffenen. Novellierungen fanden im Jahr 2010 und rezent mit 1. Juli 2023 statt [1].
Anspruch der letzten Novellierung war es, psychisch Kranken mehr Rechtsicherheit zu bieten und deren Selbstbestimmtheit zu fördern, und damit dem Erwachsenenschutzgesetz und den UN-Konventionen über die Rechte von Menschen mit Behinderung gerecht zu werden [2]. Zwei wesentliche Neuerungen, deren Vor- und Nachteile anhand von Fallbeispielen näher erläutert und diskutiert werden, sind:
Anzeige
Vertrauensperson und Unterstützer:innenkreis
Kommt es im Zuge einer Untersuchung zur Unterbringung einer psychisch kranken Person, so hat die Fachärztin/der Facharzt neben einer Reihe von weiteren Verständigungs- und Dokumentationspflichten dafür Sorge zu tragen, dass der Patient/die Patientin frühzeitig und nachweislich über sein/ihr Recht der Namhaftmachung einer sogenannten Vertrauensperson informiert wird (§ 16a). Diese Person hat die Aufgabe, den Patienten/die Patientin in seiner/ihrer Meinungsbildung und damit Entscheidungsfindung zu unterstützen, ohne dass der Vertrauensperson tatsächlich Vertretungsbefugnisse wie der (gewählten, gesetzlichen oder gerichtlichen) Erwachsenenvertretung oder den Erziehungsberechtigten bei Minderjährigen zukommen. Wichtig ist es in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass im Gesetz nicht spezifiziert wird, ob die Vertrauensperson für ihre Rolle bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss bzw. welche diese wären. So könnte die untergebrachte Person zum Beispiel auch eine weitere untergebrachte oder minderjährige Person namhaft machen, was kritisch zu sehen ist.
Der Einbezug des nahen Umfelds von psychisch erkrankten Personen in die medizinische Behandlung ist – wie in anderen medizinischen Disziplinen auch – im Allgemeinen vom Personal erwünscht bzw. notwendig, insbesondere um eine optimale Nachsorge nach dem stationären Aufenthalt zu gewährleisten. Oftmals ist man als Behandler:in sogar auf die sogenannte Fremd- oder Außenanamnese angewiesen, beispielsweise bei eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen, sei dies aufgrund einer produktiven Psychose, eines Mutismus/Stupors oder eines demenziellen Prozesses oder Delirs.
Die explizite Erwähnung der Vertrauensperson bzw. des Unterstützer:innenkreises (bestehend aus Angehörigen, anderen nahestehenden Personen und Vertrauenspersonen) im Gesetzestext ist daher eine positive Entwicklung und kann Gefühle von Machtlosigkeit und Bevormundung vonseiten der Patient:innen vermindern bzw. Betroffene in ihrer Selbstbestimmtheit fördern (§ 35(3)). Prinzipiell ist davon auszugehen, dass der Einbezug von Vertrauenspersonen bereits vor der UbG-Novellierung 2023 stattfand, wenn sich eine interessierte Vertrauensperson vorstellte.
Das Motiv einer Behandlung ist stets die Benefizienz, also das „Tun von Gutem“
Anzeige
Die Novelle bietet eine Verbesserung, weil Angehörige nun ermuntert und ermutigt werden, sich mit der Behandlung der Betroffenen zu befassen. Es ist im Rahmen einer Unterbringung ohne Verlangen notwendig, eine vertrauensvolle Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehung aufzubauen und den Betroffenen und deren Vertrauenspersonen zu vermitteln, dass das Motiv einer Behandlung stets die Benefizienz, also das „Tun von Gutem“, und die Verhinderung von Schaden ist [3], gegebenenfalls auch gegen den Willen wie beispielsweise bei der zwangsweisen Ernährung von extrem untergewichtigen Patient:innen mit Anorexia nervosa über eine nasogastrale Sonde.
In einer qualitativen Studie, die mittels Fragebogen die Einstellung von Medizinstudent:innen gegenüber Psychiatrie als medizinisches Fach erhebt, konnte erfasst werden, dass die Annahme „psychiatrists frequently abuse their legal power to hospitalize patients against their will“ nach absolvierten Vorlesungen und Praktika im Bereich Psychiatrie signifikant abnahm und nur der Meinung von 10 % der Studierenden entsprach [4].
Die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung nach der Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen im Rahmen einer Unterbringung wird in der Literatur mit Raten zwischen 25 und 47 % beschrieben [5, 6]. Vorbeugend können die Berücksichtigung der Patient:innenwünsche, wiederholte Erklärungen sowie die intensive Pflege und Behandlung eine annehmbare Wahrnehmung von einer beschränkenden Maßnahme unterstützen [5]. Nicht thematisiert wird allerdings die in diesem Zusammenhang weitere Verknappung zeitlicher Ressourcen des Behandlungsteams durch nun zusätzliche Verständigungs‑, Aufklärungs- und Dokumentationspflichten.
Dem Fachpersonal wird Entscheidungsmacht, jedoch nicht Verantwortlichkeit entzogen
Es ist eigentlich kaum machbar, wiederholt Diskussionen über die Einnahme von Medikamenten zu führen und hierbei jeweils eine Vertrauensperson zu kontaktieren und zu bitten, die Betroffenen laufend in ihrer Entscheidungsfähigkeit zu unterstützen, also – im Klartext – zu überzeugen, die indizierte Therapie anzunehmen. Bei gefährdenden Störungen der Kognition, der Wahrnehmungen, Emotionen und des Verhaltens ist die Unterstützung durch enge Vertraute wertvoll, um möglichst behutsam Maßnahmen ohne den Willen der Betroffenen durchzuführen, wie beispielsweise notwendige Pflegemaßnahmen oder die Einnahme von Medikamenten. Jedoch bedürfen diese für die Patient:innen optimierten Bedingungen selbstverständlich auch mehr zeitlicher und personeller Ressourcen.
Es entsteht der Eindruck, dass dem Fachpersonal Entscheidungsmacht, jedoch nicht Verantwortlichkeit entzogen wird, bei gleichzeitig steigendem bürokratischen Aufwand und unnötiger Behandlungsverzögerung. Es ist die Aufgabe der Ärzt:innen, Patient:innen therapeutische Maßnahmen zu erklären und zu überzeugen; viele Angehörige fühlen sich nicht wohl, wenn das zum Teil an sie delegiert werden sollte.
Fallbeispiel 1
Als Beispiel wird der Fall einer jungen Patientin mit paranoider Schizophrenie geschildert, die sich im Zuge eines Sprungs aus großer Höhe schwergradige Verletzungen an beiden unteren Extremitäten mit offenen Frakturen zuzog. Zusätzlich verschärfend kam eine schwer behandelbare Wundinfektion mit einem seltenen Fadenpilz hinzu, der eine routinemäßige unfallchirurgische Frakturversorgung beider Oberschenkel mittels Marknagel und Verschluss der Wunden verunmöglichte, weshalb die Patientin schlussendlich wochenlang Fixateurs externes benötigte und nur sehr eingeschränkt mobilisiert werden konnte. Aufgrund der psychiatrischen Grunderkrankung, die zu Wahnbildungen, wiederkehrenden Affektdurchbrüchen und fehlender Entscheidungs- und Paktfähigkeit führte, war die Patientin an einer psychiatrischen Station aufgenommen und wurde konsiliarisch von Fachärzt:innen für Unfallchirurgie und Infektiologie betreut.
Laut Einschätzung der Expert:innen wurde früh eine Amputation beider Unterschenkel empfohlen, nachdem davon ausgegangen werden musste, dass der Pilz nicht ausreichend behandelt werden könne und folglich zu einem systematischen Befall, einem monatelangen Krankenhausaufenthalt und schließlich zum Tod führen würde. Die Patientin lehnte die Amputation ab. Dies erschien dem Behandlungsteam natürlich bis zu einem gewissen Grad verständlich, allerdings ließ sich schwer feststellen, inwieweit die Patientin aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung die langfristigen Konsequenzen dieser Entscheidung abschätzen konnte. Die Familie, bestehend aus Eltern und Geschwistern, war täglich vor Ort und wurde laufend vom Behandlungsteam über die Therapien informiert. Die Eltern der Patientin lehnten ebenfalls vehement eine Amputation ab und beriefen sich hierbei auf ihren religiösen Glauben. Es sei Gottes Wille, wenn die Tochter an der fortschreitenden Pilzerkrankung versterbe, eine körperliche Entstellung durch Amputation beider unteren Extremitäten komme nicht infrage.
Anzeige
Die Amputation wurde als Heilbehandlung im Rahmen des UbG gemeldet; aufgrund der Drastik dieser Heilbehandlung verlangte das Gericht zusätzliche Sachverständigengutachten (Infektiologie, Unfallchirurgie und Psychiatrie), was mehrere Wochen in Anspruch nahm. In der täglichen Betreuung der leidenden Patientin, die völlig unrealistische Entlassungswünsche trotz laufender parenteraler Therapie, offener Wunden mit liegenden Drainagen und eines hohen Pflegeaufwands aufgrund von Immobilität äußerte, wartete man teilweise auf den septischen Schock, der schlussendlich die Durchführung der Heilbehandlung bei Gefahr im Verzug ermöglichen würde. Zu der Sepsis kam es jedoch nie und das Outcome der Patientin war wider Expert:innenmeinung relativ gut; eine Amputation wurde tatsächlich nie notwendig, was rückblickend auf die optimale stationäre Betreuung der Patientin zurückzuführen ist. Der an das UbG geknüpfte administrative Aufwand führte zu einer derartigen Verzögerung in der Behandlung, dass die angedachten therapeutischen Schritte schlussendlich obsolet wurden; in diesem Fall zum Vorteil der Patientin, deren Extremitäten erhalten werden konnten.
Die Meinung des Unterstützer:innenkreises der Patientin deckte sich zwar mit der Entscheidung der Patientin, die angeführten Motive konnten jedoch nicht konstruktiv zur Entscheidungsfindung beitragen, auch ist fraglich, inwieweit sie die Patientin in ihrer Selbstbestimmtheit unterstützen konnten. Auf einer Unfallchirurgie hätte die Patientin wegen ihrer Verweigerung kaum überlebt, das spricht für die Möglichkeit einer Unterbringung an der Psychiatrie. Mittlerweile ist die Patientin nach 20 Wochen mit Fixateurs externes mit einem enormen Pflegeaufwand zu Hause, aber mit einer Amputation könnte sie sicher schon prothetisch versorgt mit Krücken gehen.
Entscheidungsfähigkeit
Eine weitere Neuerung im Behandlungsrecht untergebrachter Patient:innen ist, dass das Unterbringungsgesetz nun zwischen entscheidungsfähigen und nicht entscheidungsfähigen Patient:innen unterscheidet. Laut ABGB, Abs. 2, § 24, ist entscheidungsfähig, „wer die Bedeutung und die Folgen seines Handelns im jeweiligen Zusammenhang verstehen, seinen Willen danach bestimmen und sich entsprechend verhalten kann. Dies wird im Zweifel bei Volljährigen vermutet.“ Ärzt:innen haben sich nachweislich zu bemühen (das heißt auch entsprechend zu dokumentieren), Personen, die als nicht entscheidungsfähig erachtet werden, zunächst unter Zuhilfenahme des weiter oben genauer ausgeführten Unterstützerkreises darin zu fördern, die Entscheidungsfähigkeit zu erlangen (§ 35(3)).
Unter diesem Unterstützerkreis werden wie bereits zuvor erwähnt Angehörige und andere nahestehende Personen, Vertrauenspersonen und im Umgang mit Menschen in solchen schwierigen Lebenslagen geübte Fachleute verstanden. Auf Wunsch der Betroffenen kann der Einbezug des Unterstützerkreises unterlassen werden. Erst wenn die Herstellung der Entscheidungsfähigkeit trotz Unterstützung nicht gelingt, darf eine Behandlung ohne Einwilligung oder Zustimmung durchgeführt werden. Sofern vorhanden, hat die Vertretung (gewählt oder gesetzlich) Entscheidungsbefugnis. Die vertretende Person kann, muss aber nicht Teil des Unterstützerkreises sein. Die Patient:innenanwaltschaft ist unverzüglich von der Behandlung zu verständigen. Sogenannte „Besondere Heilbehandlungen“ wie die Durchführung einer Elektrokonvulsionstherapie oder die Lumbalpunktion zur Liquorentnahme bedürfen einer schriftlichen Zustimmung der Vertretung (sofern vorhanden) oder einer Vorabentscheidung des Gerichts (§ 36a(1)). Anhand eines Entscheidungsbaums sollen die gesetzlichen Bestimmungen zur Behandlungsentscheidung und der im jeweiligen Fall zuständigen Akteure veranschaulicht werden (Abb. 1).
×
Anzeige
Der Facharzt/die Fachärztin für Psychiatrie ist also dazu angehalten, die Entscheidungsfähigkeit von Patient:innen festzustellen. Das Verständnis der Bedeutung und Folgen des eigenen Handelns kann allerdings bei bestimmten Krankheitsbildern in gewissen Bereichen beeinträchtigt und gleichzeitig in anderen unbehelligt sein. So könnte eine anorektische Patientin den Grund der Durchführung einer Densitometrie verstehen und dies sogar trotz Strahlenbelastung wünschen (die Patientin wird dementsprechend als entscheidungsfähig erachtet und kann der Untersuchung selbst zustimmen), die Bedrohlichkeit einer Hypokaliämie und eine notwendige intravenöse Kaliumsubstitution jedoch ablehnen aus Angst, von der Infusion an Gewicht zuzunehmen (die Patientin wird als nicht entscheidungsfähig erachtet und die Infusion wird aufgrund ihrer medizinischen Notwendigkeit als „einfache Heilbehandlung“ gegen den Willen der Patientin verabreicht, die Patient:innenanwaltschaft wird informiert).
„Unvernünftige“ Patient:innenentscheidung ist nicht Entscheidungsunfähigkeit gleichzusetzen
Fachärzt:innen stehen bei der Beurteilung der Entscheidungsfähigkeit in Versuchung, den Betroffenen im Falle einer Zustimmung zu einer Heilbehandlung diese zuzugestehen, im Falle einer Ablehnung jedoch von einem Fehlen der Entscheidungsfähigkeit auszugehen. Eine aus medizinischer Sicht „unvernünftige“ Patient:innenentscheidung ist nicht Entscheidungsunfähigkeit gleichzusetzen [7]. Selbst „einfache Heilbehandlungen“ wie Blutabnahmen oder die Durchführung eines Elektrokardiogramms müssen dem UbG entsprechend an die Patient:innenanwaltschaft gemeldet werden, wenn eine Person diesen Untersuchungen nicht sicher oder durchgehend zustimmen kann (z. B. im Rahmen einer Bewusstseinstrübung), jedoch ohne verbale oder physische Gegenwehr „über sich ergehen lässt“ (§ 36(3)).
Fallbeispiel 2
Eine chronisch wahnhafte und denkgestörte schizophrene Patientin mittleren Alters mit schlechter Medikamentencompliance in der Vergangenheit wurde bei ungenügendem Ansprechen auf atypische Antipsychotika auf Cisordinol per os eingestellt. Die Einnahme der Medikation ließ sie zu, obwohl sie diesbezüglich nicht zufriedenstellend aufgeklärt werden konnte und sie nicht einsichtsfähig war. Sie gab zwischendurch an, die Medikation nach einer Entlassung prompt wieder absetzen zu wollen, da sie nicht krank sei und keine Medikamente benötige. Die verordnete Medikation wurde der Patient:innenanwaltschaft gemeldet. Die Mutter der Patientin als Vertrauensperson und die Erwachsenenvertretung (nicht in medizinischen Belangen) waren informiert.
Anzeige
In Hinblick auf eine etwaige Entlassung wurde bei der ansprechend behandelten Patientin eine Depotmedikation mit Cisordinol Depot angedacht. Diese lehnte die Patientin trotz wiederholter, ihrem Auffassungsvermögen angemessenen Aufklärungsversuche und Darlegung der Vorteile ab. Schlussendlich stimmte die Patientin Cisordinol Depot zu und gab zu verstehen, dass sie sich durch die Zustimmung erhoffte, früher entlassen zu werden. Sie war bereit, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben. Die Depotmedikation wurde dennoch gerichtlich verhandelt und bewilligt, nachdem nicht davon auszugehen war, dass die Patientin diese Entscheidung frei von Druck des ärztlichen Personals getroffen hätte. Die Verabreichung erfolgte komplikationslos. Doch stellt sich hier die Frage, ob eine Fachärztin/ein Facharzt ein Depotmedikament, dessen Gabe gerichtlich bewilligt wurde, einer/m Betroffenen mit Gegenwehr und Beschränkungen verabreichen sollte, obwohl keine unmittelbare Gefährdung besteht. Die Verhältnismäßigkeit und Nachhaltigkeit stünden infrage.
Fallbeispiel 3
Eine junge Erwachsene mit einer extremen Anorexia nervosa vom restriktiven Typus und einem Body-Mass-Index von 10 kg/m2 wurde aufgrund einer akuten Selbstgefährdung bei Verweigerung der Nahrungsaufnahme ohne Verlangen untergebracht. Die Patientin war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, sich selbst im Krankenbett zu lagern, aufzustehen oder zu gehen. Die Ernährung dieser schwer kranken Patient:innen ist mit dem Risiko eines lebensbedrohlichen Refeeding-Syndroms mit Elektrolyt- und Flüssigkeitsverschiebungen bis hin zu Herzinsuffizienz und Lungenödem vergesellschaftet, weshalb die Kalorienzufuhr initial nur in sehr reduziertem Maße erfolgen darf (ca. 5–10 kcal/kgKG, was bei einem Körpergewicht von 30 kg maximal 300 kcal/Tag entspricht).
Eine Flüssigkeitsrestriktion und Bilanzierung (mittels Harnkatheter oder Leibstuhl) sowie regelmäßige Laborkontrollen sind bei diesem Krankheitsbild essenziell; am nachvollziehbarsten ist zur strikten Überwachung der Einfuhr eine (kontinuierliche) enterale Ernährung via nasogastraler Sonde. Dieser stimmte die betroffene Patientin allerdings nicht zu. Im Rahmen der Unterbringung wurde die Anlage der Magensonde durch das zuständige Gericht bewilligt, jedoch empfand die Patientin diese als derartigen Eingriff in ihre Integrität und reagierte mit körperlicher Gegenwehr und einer ausgeprägten Agitation und Affektinkontinenz, die schlussendlich eine medikamentöse Sedierung notwendig machten. Das Sichern der nasogastralen Sonde gestaltete sich frustrierend, nachdem die Patientin bei anhaltender Anspannung eins zu eins betreut werden musste und dauerhaft hätte sediert beziehungsweise körpernahe beschränkt werden hätte müssen, was bei kachektischen Patient:innen bedenklich ist.
Die Eins-zu-eins-Betreuung wiederum führte zu zwischenmenschlichen Konflikten, sobald die Kranke ihren Willen gegenüber der beisitzenden Person nicht durchsetzen konnte. Schlussendlich musste die perorale Ernährung der Patientin, also Essen und Trinken in Selbstbestimmung, welcher sie bis zu einer kalorienarmen Schwelle zustimmte, akzeptiert und die damit einhergehenden Risiken und die potenziell längere Aufenthaltsdauer (Anorexie immanente, gewünschte Minimalkalorieneinfuhr) in Kauf genommen werden. Die Patientin wurde so in ihrer Selbstbestimmtheit bestärkt, die man jedoch aus psychiatrisch-fachärztlicher Sicht auch kritisch als Bestimmtheit durch die Essstörung interpretieren könnte. Die Entscheidung der Patientin wurde resignierend akzeptiert. Als wahrlich entscheidungsfähig wurde sie allerdings nicht erachtet, sonst hätte die Patientin eigentlich entlassen werden müssen.
Als entscheidungsfähig beurteilte, untergebrachte Patient:innen entscheiden selbst über die Durchführung einer medizinischen Behandlung. Zu gerichtlichen Vorabentscheidungen (also vor Durchführung einer Behandlung) kommt es (neben besonderen Heilbehandlungen, siehe oben) auch, wenn der (auch nicht entscheidungsfähige) Patient/die Patientin die gerichtliche Überprüfung einer geplanten Heilbehandlung wünscht, wenn die entscheidungsbefugte Vertretung nicht dem Willen der Patient:innen entspricht oder der Abteilungsleiter bzw. der/die stellvertretende Facharzt/Fachärztin dies verlangt.
Letzteres kommt beispielsweise zum Tragen, wenn der/die Patient:in der Behandlung zwar zustimmt, aber Zweifel an seiner/ihrer Entscheidungsfähigkeit bestehen oder wenn Zweifel bestehen, ob der/die Patient:in seinen/ihren Willen konstant und frei von Druck anderer Personen bilden/äußern kann. Unverändert sind die Aufklärung, Unterstützung und Einwilligung des/der Patient:in, die Verständigung und Zustimmung durch die Vertretung sowie die gerichtliche (Vorab‑)Entscheidung nicht erforderlich, wenn mit der damit einhergehenden Verzögerung der medizinischen Behandlung für den/die Patient:in eine Gefährdung des Lebens, die Gefahr einer schweren Schädigung der Gesundheit oder starke Schmerzen verbunden wären. Dies entspricht einer Heilbehandlung bei Gefahr im Verzug (§ 37) (siehe Abb. 1).
Conclusio
Die Novellierung des Unterbringungsgesetzes im Juli 2023 hat zu lebhaften Diskussionen innerhalb der psychiatrischen Gemeinschaft geführt, insbesondere da sie für die beteiligten Akteur:innen einen erheblichen zusätzlichen Aufwand bedeutet. Hauptanliegen der Reform ist die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Patient:innen in psychiatrischen Einrichtungen. Ein wichtiger Aspekt der Gesetzesnovelle ist daher die differenzierte Behandlung der Patient:innen in Abhängigkeit von ihrer Entscheidungsfähigkeit. Dies ermöglicht eine individuellere und angemessenere Betreuung, da unterschiedliche Maßnahmen je nach Zustand und Fähigkeiten der Patient:innen ergriffen werden können.
Eine weitere zentrale Neuerung ist die Aufforderung zur Benennung einer Vertrauensperson, welche die Patient:innen unterstützt und in Entscheidungsprozesse einbezogen wird. Dies soll dazu beitragen, die Autonomie und die individuellen Wünsche der Patient:innen besser zu berücksichtigen. Die Herausforderungen für Ärzt:innen und das medizinische Personal, die nun zusätzlichen Verständigungs- und Dokumentationspflichten nachkommen müssen, umfassen detaillierte Aufzeichnungen über den Entscheidungsprozess und über die Kommunikation mit den Patient:innen sowie ihren Vertrauenspersonen. Dieser Mehraufwand ist notwendig, um die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen zu gewährleisten und das Vertrauen der Patient:innen in das System zu stärken.
Insgesamt wird die Novellierung des Unterbringungsgesetzes als ein Schritt in die richtige Richtung gesehen, um die Rechte und die Würde von psychisch kranken Menschen zu schützen und zu fördern. Problematisch ist die Anwendung, falls bei einem limitierten Personalstand der gestiegene Aufwand für Kommunikation und Dokumentation gegenüber Dritten an jener Zeit nagt, die sich die Patient:innen zum Zwecke eine geduldigen und engagierten Anteilnahme vom medizinischen Personal erwarten. Die vorliegende Arbeit geht auf Probleme mit Vertrauenspersonen und mit der Einschätzung der Entscheidungsfähigkeit ein (inkl. Fallbeispiele). Andere wichtige Aspekte der Novelle, wie die vorgeschriebene Interaktion mit der Polizei (§ 39) sind nicht beinhaltet.
Fazit in der Praxis
Die UbG-Novelle 07/2023 unterscheidet zwischen entscheidungsfähigen und nicht entscheidungsfähigen Patient:innen
Entscheidungsfähige Patient:innen dürfen nur mit ihrer Einwilligung behandelt werden
Nicht entscheidungsfähige Patient:innen müssen nachweislich unter Beiziehung des Unterstützerkreises (inkl. namhaftgemachter Vertrauensperson) in der Erlangung ihrer Entscheidungsfähigkeit unterstützt werden
Bleibt der/die Patient:in nicht entscheidungsfähig, darf er/sie nur mit Zustimmung des Vertreters (Erwachsenenvertretung in medizinischen Belangen oder gewählte Vertretung, sofern vorhanden) behandelt werden. Bei fehlender Vertretung entscheidet über „einfache Heilbehandlungen“ der/die Fachärzt:in.
Das Gericht entscheidet vorab im Falle einer „Besonderen Heilbehandlung“, wenn der Vertreter der Heilbehandlung nicht zustimmt oder nicht dem Willen des/der Patient:in entspricht. Das Ansuchen wird von behandelnden Fachärzt:innen an das Gericht gestellt. Das Verlangen kann von behandelnden Fachärzt:innen, vom Patienten/von der Patientin oder von der Vertretung ausgehen.
Bei Gefahr im Verzug entscheiden die Fachärzt:innen sofort. Die Aufklärung, Unterstützung und Einwilligung der/des Betroffenen, Verständigung und Zustimmung der Vertretung sowie des Gerichts sind nicht erforderlich. Die Meldung der sofort durchgeführten „Besonderen Heilbehandlung“ muss aber erfolgen und wird nachverhandelt.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
P. Baldinger-Melich und R. Frey geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.