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Ärzte Woche

27.02.2022 | Innere Medizin

Long COVID: undurchsichtige Rekordhalterin

verfasst von: Martin Krenek-Burger

Die Spätfolge einer SARS-CoV-2-Infektion verursacht bis zu 200 Symptome im ganzen Körper. Über die Anzahl der Betroffenen herrscht noch keine Einigkeit. Was nicht zu wundern braucht, gibt es doch nicht einmal eine klare Definition für diese Erkrankung.

Am 27. Februar 2020 wurde der erste Coronavirus-Patient in Wien identifiziert, der damals bereits zehn Tage mit grippeähnlichen Symptomen im Krankenhaus Rudolfstiftung (Klinik Landstraße) lag. Seitdem hält die Krankheit COVID-19 die Welt in Atem. Vielen Patienten raubt sie noch lange nach der Akutphase die Kraft und macht ihnen den Alltag schwer. Dass eine SARS-CoV-2-Infektion Langzeitfolgen haben kann, wurde relativ früh bemerkt. Atemnot, Erschöpfung, Geschmacksverlust, Konzentrations- und Schlafstörung oder depressive Verstimmung – das sind nur einige Beschwerden, von denen Genesene auch noch Monate nach COVID-19 berichten. „Seit einem Jahr sehen wir, dass immer mehr Long-COVID-Patienten mit kardiologischen, pulmologischen oder anderen Beschwerden zu uns in die Ambulanz kommen.“ Das sagt Prof. Dr. Mariann Gyöngyösi auf der Publikumsveranstaltung „Am Puls“ in Wien. Seit 2010 leitet sie das Labor für experimentelle invasive Kardiologie und Molekularbiologie an der MedUni Wien. „Wir wollten eine strukturierte und evidenzbasierte Diagnostik und Therapie aufstellen, damit wir diese Patienten richtig diagnostizieren und behandeln können.“

Der Neurologe Priv.-Doz. Dr. Raimund Helbok fand heraus, dass die Geruchsstörung ein relevantes Symptom der Akut-Erkrankung, vor allem der Alpha- und Delta-Variante, gewesen ist. Helbok ist an der Neurologischen Intensivstation der Medizinischen Universität Innsbruck tätig. „Wir haben beobachtet, dass es Patienten gibt, die hospitalisiert sind und sehr schnell und plötzlich intensivpflichtig werden und lange künstlich beatmet werden müssen. Wir kennen andere neurologische Erkrankungen, bei denen auch zentrale Mechanismen im Stammhirn sehr schnell eine Beatmungspflichtigkeit herbeiführen. Mit dieser pathophysiologischen Idee im Hinterkopf, dass nämlich der Eintritt über den Riechnerv erfolgt und dann über den Hirnstamm eine zentrale Atemstörung hervorgerufen wird, bin ich als Neurologe und Intensivmediziner auf das Thema Long COVID gestoßen.“ Helbok ist Teil eines interdisziplinären Teams aus Tiroler und Südtiroler Ärzten. Mittels einer Online-Befragung von an COVID-19 erkrankten, aber nicht hospitalisierten Patienten hat diese Gruppe die komplexen, lang anhaltenden Symptome der Erkrankung ermittelt und analysiert. Ziel ihrer Studie „Gesundheit nach COVID-19“ war es, das neue Krankheitsbild zu charakterisieren ( https://tinyurl.com/bdesadby ).

Long-COVID-Erkrankung nach milder SARS-CoV-2-Infektion


Was versteht man überhaupt unter Long COVID? Helbok dazu: „Long COVID ist eine rein zeitliche Definition von Symptomen, die entweder lang anhaltend sind oder wiederkommen über einen Zeitraum von über vier Wochen. Die Symptome sind nicht genau definiert, in manchen Studien sind bis zu 200 Symptome bei Long COVID beschrieben. Wir kennen keine andere Erkrankung, die so viele Symptome aufweist. Deshalb hat die WHO auch festgelegt, dass es eine korrektere Definition braucht. Die WHO versucht vom Begriff Long COVID wegzukommen und spricht von Post-COVID, wo die Symptome noch drei Monate später auftreten, die zumindest zwei Monate davor bestanden haben und nicht auf andere Ursachen zurückzuführen sind.“ Doch auch diese Definition macht Schwierigkeiten, denn Post-COVID umfasst immer noch einen großen Komplex aus Symptomen, den es zu überblicken gilt.

Wie kommt man auf so viele Symptome? Gyöngyösi dazu: „Praktisch jedes Organ ist betroffen. Die häufigsten Symptome sind neurologisch, neuropsychiatrisch oder neuropsychologisch. Der zweithäufigste Bereich sind pulmologische Symptome, die dritthäufigsten Symptome sind kardiovaskulärer Natur. Dazu kommen gastroenterologische, rheumatologische, dermatologische und Nieren-bedingte Symptome – eigentlich fast alles, was möglich ist. Über 90 Prozent der Patienten klagen über chronische Müdigkeit. Von pulmologischer Seite ist belastungsabhängige Atemnot und Erschöpfung bedeutend. Auf kardiologischer Seite gibt es eine breite Palette von Symptomen: verschiedene Herz-Rhythmus-Störungen, Kreislaufschwäche bis zu Anzeichen für Herzinsuffizienz. Man braucht sich also nicht wundern, dass bis zu 200 Symptome beschrieben werden.“ Long COVID ist dem Grunde nach ein Patienten-geprägter Begriff, definiert als das Vorhandensein von mindestens einem mit COVID-19 assoziierten Symptom 28 Tage oder länger nach der akuten Infektphase. Dieser neue Begriff sagt aber nichts über das klinische Erscheinungsbild aus, das sehr heterogen ist. „Um Langzeitfolgen zu charakterisieren und einordnen zu können, bedarf es epidemiologisch valider Daten.“ Das sagt Prof. Dr. Judith Löffler-Ragg von der Universitätsklinik für Innere Medizin II an der MedUni Innsbruck. Sie leitet das Forschungsvorhaben.

An der vom Land Tirol geförderten Online-Befragung haben sich bisher insgesamt 2.065 Tiroler und 1.075 Südtiroler beteiligt. In die aktuelle Auswertung der ersten, zwischen September 2020 und Juli 2021 durchgeführten Online-Umfrage wurden ausschließlich die Angaben jener Befragten einbezogen, die nicht im Krankenhaus behandelt werden mussten und 28 Tage oder länger nach dem Infekt noch Symptome hatten. „Nahezu die Hälfte der Teilnehmer (Tirol: 47,6 %, Südtirol: 49,3 %) gab an, dass die Symptome über 28 Tage hinaus fortbestanden“, sagt Löffler-Ragg. Aussagekräftiger sei die vorliegende Arbeit jedoch hinsichtlich Symptommuster und Phänotypen. Schon beim Verlauf der akuten COVID-19-Infektion konnten die Autoren in beiden Studien-Kohorten einen Unterschied zwischen der Gruppe mit vorwiegend „Grippe-ähnlichen“ Symptomen und jener mit zahlreichen neurologischen, kardiopulmonalen (Herz/Lunge) und abdominellen (die Bauchorgane betreffend) Beschwerden feststellen. Für letztere Gruppe prägten die Forscher den Begriff „Multiorgan Phänotyp“ (MOP).

Risikofaktor Multiorgan Phänotyp


„Es war überraschend, dass vor allem Menschen im arbeitsfähigen Alter von 35 bis 55 Jahren einen akuten Infekt mit durchschnittlich 13 Symptomen zu Hause durchmachten, der häufig dieser Multiorgan-Symptomatik zuzuordnen war. Die Anzahl der akuten Symptome sowie die Anzahl spezieller MOP-Symptome kristallisierten sich schließlich als Risikofaktoren für eine verzögerte Genesung heraus, wobei Männer ein um 35 bis 55 Prozent vermindertes Risiko für Long COVID hatten“, sagt Löffler-Ragg. Auch andere internationale Studien belegen, dass von Long COVID mehrheitlich Frauen betroffen sind, wenngleich sie ein geringeres Risiko für einen schweren akuten Verlauf und eine niedrigere Hospitalisierungsrate haben.

Mittels sogenannter „Machine-Learning“ Mustererkennungstools aus den umfangreich erhobenen klinischen Symptomen gelang es schließlich auch bei Long COVID weitere klinische Erscheinungsbilder zu differenzieren, die jeweils in der Tiroler wie auch in der Südtiroler Kohorte konsistent waren: „Neben milderen, vorwiegend mit Riech- und/oder Geschmacksstörung assoziierten Phänotypen zeigte die Hauptgruppe der Betroffenen mit Long COVID (Tirol: 49,3 %, Südtirol: 55,6 %) zwar keine anhaltende Hyposmie (verminderter Geruchssinn) oder Hypogeusie (Geschmacksstörung), aber eine hohe Anzahl von postakuten Multiorgan-Symptomen wie Erschöpfung, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Kurzatmigkeit, Herzrasen, Engegefühl im Brustkorb, Verdauungsprobleme und Hauterscheinungen sowie eine schlechte, selbst berichtete körperliche Erholung“, sagt Neurologe Helbok. „Die akute COVID-19 ist als Multi-Organ-Infektion anerkannt, die Spezifität der lang anhaltenden Beschwerdelast wird nun in weiteren Studien untersucht“.

Probleme im Gesundheitssystem


„Anhaltende, postinfektiöse Beschwerden kennen wir auch bei anderen Erregern, aber die Fallzahl der Pandemie wird uns hier herausfordern“, sagt der Innsbrucker Klinikdirektor Prof. Dr. Günter Weiss, Department für Innere Medizin. Mit den Ergebnissen dieser Zwei-Kohorten-Studie, die in Tirol fortgesetzt wird, soll es gelingen, Versorgungskonzepte zu entwerfen, die der langwierigen Erholung nach COVID-19 entsprechen. „Ein Wissenstransfer zu den Hausärzten für die individuelle Behandlung und Betreuung von Long-COVID-Patienten, bei der Koordination fachärztlicher Abklärungen und rehabilitativer Maßnahmen spielt hierbei eine zentrale Rolle“, sagt Pflegewissenschafter Dr. Dietmar Ausserhofer. Ein integriertes und wissenschaftlich begleitetes Versorgungsmodell wird in Tirol vorbereitet.

Keine Therapie, bloß Empfehlungen


Das Stichwort „Hausärzte“ ist gefallen. Diese stellen die Langzeitfolgen der Erkrankung vor erhebliche Probleme. Die Patienten stellen sich mit Müdigkeit und Erschöpfung, Atembeschwerden, Kopfschmerzen sowie Riech- und Schmeckstörungen vor. Weitere häufige Symptome in der Hausarztpraxis reichen von allgemeinen Schmerzen und Husten über posttraumatische Belastungsstörungen, Ängste und Zwänge bis hin zu kognitiven Einschränkungen und Haarausfall. Eine wirksame Therapie gibt es nicht. „Es gibt lediglich Empfehlungen der S1-Leitlinie zur Linderung der Beschwerden und Vermeidung der Chronifizierung.“ Das sagt Prof. Dr. Ildikó Gágyor, Hausärztin und Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin am Uniklinikum Würzburg. Vermutet wird, dass Gewebeschäden und chronische Entzündungsprozesse die Symptome hervorrufen. Eine Viruspersistenz im Körper sowie Fehlregulationen von Zell- und Gewebsfunktionen werden ebenfalls als Ursachen diskutiert, beispielsweise eine Funktionsstörung des Endothels.

Helfen Cortison und B-Vitamine gegen das Post-COVID-Syndrom?


In der Regel verordnen Hausärzte entzündungshemmende Medikamente und bestimmte B-Vitaminen, um das Nervensystem zu unterstützen. Die Wirksamkeit dieser Therapie mit Cortison und Vitamin B 1, B 6 und B 12 werden nun in der Studie „PreVitaCOV“ untersucht. Die vierarmige randomisierte kontrollierte Pilotstudie ist eine der ersten Therapiestudien zu Post-COVID. Koordiniert wird das Projekt von Ildikó Gágyor (nähere Informationen hier: www.medizin.uni-tuebingen.de ). Konkret werden ab Sommer 2022 100 Patienten über 28 Tage entweder mit einem Kortikosteroid behandelt, mit einem Vitamin-B Komplex oder mit einem Placebo. In der Pilotstudie werden nicht nur erste Daten zur Wirksamkeit des Behandlungskonzeptes gesammelt, sondern auch Erkenntnisse zur Machbarkeit dieser klinischen Studie unter Integration von ambulanten und klinischen Versorgungsstrukturen gewonnen. „Das Post-COVID-Syndrom geht mit einer hohen psychosozialen Belastung einher und hat eine enorme ökonomische Relevanz. Sofern es Hinweise für eine Wirksamkeit gibt, und wenn die Pilotstudie machbar ist, können wir sie fortsetzen, was ungemein wichtig ist für ambulante Forschung“, sagt Gágyor.

Wie viele Menschen sindvon Long COVID betroffen?


Kardiologin Gyöngyösi: „Man geht davon aus, dass zehn Prozent der COVID-19-Genesenen Long COVID entwickeln. Es gibt derzeit 400 Millionen Fälle, davon sind 350 Millionen genesen. D. h., es gibt weltweit ungefähr 35 Millionen Long-COVID-Patienten. Auf Österreich .“ Es gibt allerdings auch Studien die von bis zu 37 Prozent ausgehen, das hieße, wenn es zutrifft, dass in Österreich bis zu 700.000 Menschen Long COVID-Symptome hätten. „Das ist fast so viel wie die Inzidenz von Diabetes mellitus in Österreich“, sagt Gyöngyösi. Selbst wenn man die 10 Prozent zugrunde legt, werden bei den derzeitigen Infektionszahlen jeden Tag 2.000 neue Long-COVID-Patienten gewissermaßen generiert, meint Kardiologin Dr. Mariann Gyöngyösi. Und weiter: „Das ist eine extreme Zahl, aber eine genaue Statistik für Österreich fehlt.“

Neurologe und Intensivmediziner Dr. Raimund Helbok vermisst in dieser Frage „gute epidemiologische, populationsbasierte Daten“. Die genannten Zahlen, von denen die WHO ausgeht, hält er für „viel zu hoch gegriffen“. Die besten Daten kämen aus England, aus den nationalen monatlichen Umfragen. „Dort konnte man herausfiltern, wer positiv getestet wurde und wer nur glaubt, Long COVID zu haben. Wenn man die Leute gefragt hat, ob sie glauben, dass sie Long COVID haben, war die Antwort bei 12 Prozent positiv. Wenn das rückgerechnet worden ist auf die Leute, die wirklich einen serologisch positiven Test gehabt haben, sind wir bei 3 Prozent.“ Ein Unsicherheitsfaktor ist die Auswirkung der Omikron-Variante auf die Zahl der Long-COVID-Fälle.

Fortsetzung folgt. Eher früher als später.

Weitere Informationen:

https://tinyurl.com/bdesadby

www.medizin.uni-tuebingen.de



Metadaten
Titel
Long COVID: undurchsichtige Rekordhalterin
Publikationsdatum
27.02.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 9/2022

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