Skip to main content
Ärzte Woche

10.09.2019 | Innere Medizin

Innere Medizin

Frei von der Leber Weh

verfasst von: Arnt V. Kristen

print
DRUCKEN
insite
SUCHEN

Der 48-jährige Patient bemerkt innert eines Jahres einen ungewollten Gewichtsverlust von 15 kg. Er fühlte sich abgeschlagen und kraftlos. Seinen Beruf als Maler und Lackierer konnte er nicht mehr ausüben. Er stellt sich einer gastroenterologischen Abklärung.

Das Körpergewicht des Patienten betrug bei einer Körpergröße von 175 cm nur noch 55 kg (Body-Mass-Index 18 kg/m²). Bei der gastroenterologischen Untersuchung berichtete er auch über Schmerzen an beiden Beinen, die ihn nachts störten. Zusätzlich bestanden Parästhesien an beiden Beinen, die sich von distal bis zum Abdomen ausbreiteten. Seit vier Monaten hatte er auch das Gefühl, dass die Fingerspitzen und der Handrücken auf Eis liegen. Treppen konnte er wegen muskulärer Schwäche in den Beinen nur noch maximal zwei Etagen steigen. Ebenso kam es zu orthostatischem Schwindel. Palpitationen oder eine Synkope waren bisher nicht aufgetreten. Dyspnoe oder Angina pectoris hatte er nicht. Wiederkehrendes Fieber lag nicht vor.

Diagnostik

Eine Sonografie erbrachte einen unauffälligen Befund im Oberbauch. In der Ösophagogastroduodenoskopie zeigte sich lediglich eine leichte Antrumgastritis. Aufgrund pathologisch erhöhter Werte im H 2-Atemtest wurde die Diagnose einer Laktoseintoleranz gestellt. Da sonografisch von subkostal als Zufallsbefund eine ausgeprägte Verdickung der Herzwände auffiel, wurde der Patient zu einem kardiologischen Facharzt überwiesen. Unter laktosefreier Ernährung stabilisierte sich zwischenzeitlich das Körpergewicht auf 59 kg.

Das beim Kardiologen erstellte Elektrokardiogramm (EKG) in Ruhe wies einen normofrequenten Sinusrhythmus mit einer Herzfrequenz von 92/min auf. Es lagen ein überdrehter Linkstyp mit linksanteriorem Hemiblock und inkomplettem Rechtsschenkelblock sowie auch eine periphere Niedervoltage vor. Signifikante Erregungsrückbildungsstörungen waren nicht zu erkennen. Echokardiografisch bestand eine ausgeprägte biventrikuläre Hypertrophie (Septum 20 mm, Hinterwanddicke 19 mm) mit deutlich eingeschränkter systolischer (Ejektionsfraktion 35 %) und schwerer diastolischer Funktionsstörung (Compliancestörung). Eine linksventrikuläre Ausflusstraktobstruktion wurde nicht diagnostiziert. Allerdings bestand ein kleiner, hämodynamisch nicht relevanter Perikarderguss.

Unter dem Verdacht auf eine hypertrophe nichtobstruktive Kardiomyopathie wurde der Patient zur weiteren Diagnostik und Risikostratifizierung in die kardiologische Abteilung des lokalen Krankenhauses eingewiesen. Bei Aufnahme präsentierte sich der Patient in reduziertem Allgemeinzustand und kachektischem Ernährungszustand. Der Blutdruck betrug 110/70 mm Hg, die Sauerstoffsättigung 95 Prozent. Die Auskultation von Herz und Lunge ergab keinen pathologischen Befund. Periphere Ödeme lagen nicht vor. Die erhobene Familienanamnese bezüglich ähnlicher Symptome bei der Mutter war unauffällig. Bei Vater, Cousin und Großmutter ist eine „Herzvergrößerung“ bekannt.

In der Ergometrie wurden ein Blutdruckabfall und eine ventrikuläre Arrhythmie unter Belastung ausgeschlossen. Im Langzeit-EKG bestand ein Frequenzspektrum von 66 bis 118 / min mit einer mittleren Herzfrequenz von 85 / min. Höhergradige ventrikuläre Rhythmusstörungen wurden nicht detektiert. Eine koronare Herzerkrankung und intraventrikuläre Obstruktion wurden invasiv ebenfalls ausgeschlossen. Somit wurde auch eine hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie ausgeschlossen.

Zur weiteren differenzialdiagnostischen Abklärung erfolgte unter der Verdachtsdiagnose einer Speichererkrankung, beispielsweise einer Amyloidose, eine Biopsie am Bauchfettgewebe. Diese zeigte jedoch nach Kongorotfärbung im polarisierten Licht keinen Nachweis von apfelgrünen extrazellulären Strukturen als Charakteristikum von Amyloid. Unter dem weiterhin bestehenden dringenden Verdacht auf eine Amyloidose aufgrund des für eine Amyloidose charakteristischen klinischen Erscheinungsbilds mit progredienten Beschwerden erfolgte eine Rektumbiopsie. Jedoch konnte auch in dieser kein Amyloid nachgewiesen werden.

Trotz zweier unauffälliger Biopsien wurde die Verdachtsdiagnose einer kardialen Amyloidose nicht aufgegeben und der Entschluss zur Entnahme von Biopsaten aus dem Herzen gefasst. In der histologischen und immunhistologischen Aufarbeitung der Myokardbiopsie ergab sich kein Hinweis auf eine primäre hypertrophe Kardiomyopathie, Hämochromatose oder eine Glykogenose. Vielmehr zeigte sich nach Kongorotfärbung eine ausgeprägte kardiale Amyloidose. Die immunhistochemische Aufarbeitung der Biopsie in einem Referenzinstitut bestätigte die Amyloidose und charakterisierte die Ablagerungen als Transthyretinamyloid.

Molekulargenetik

Neurologische Untersuchung

Aus diesem Grund wurde eine molekulargenetische Diagnostik des Transthyretingens beim Patienten veranlasst. In dieser wurde eine heterozygote Mutation im Transthyretingen festgestellt (c.220 G > C), die an der Position 74 des Transthyretingens zu einem Aminosäureaustausch von Glutaminsäure zu Glutamin führt (p.Glu74Gln-Variante). Dieser spezielle Aminosäureaustausch wurde zwar bisher nicht im Zusammenhang mit einer Transthyretinamyloidose beschrieben, ein Austausch mit drei anderen Aminosäuren steht aber krankheitsverursachend im Zusammenhang mit dem Krankheitsbild. Zur Therapieplanung erfolgte eine neurologische Untersuchung inklusive elektrophysiologischer Testung. In dieser zeigte sich eine sensible Polyneuropathie der Bein- und Armnerven mit Ausfall des Summenaktionspotenzials des N. suralis rechts sowie verlangsamter sensibler Nervenleitgeschwindigkeit des N. ulnaris rechts, Summenaktionspotenzialausfall des N. medianus rechts bei Teilläsion des N. medianus und vegetativer Mitbeteiligung („sympathetic skin response“ [SSR] links plantar nicht erhältlich). Weiterhin zeigte sich eine sensomotorische Teilläsion des N. medianus rechts im Karpaltunnel bei unauffälliger distaler Latenz des N. ulnaris mit Überleitung zum Thenar.

Diagnose und Therapie

Durch einen Zufallsbefund im Rahmen der Oberbauchsonografie und die sich anschließende konsequente diagnostische Aufarbeitung wurde bei diesem Patienten trotz unauffälliger Familienanamnese eine hereditäre Transthyretinamyloidose mit sensorischer und autonomer Neuropathie sowie kardialer Beteiligung festgestellt. Aufgrund der leichten Polyneuropathie in Stadium 1 (Gehen ohne Hilfsmittel möglich) wurde eine Therapie mit 20 mg Tafamidis täglich initiiert.

Im Jahr 1854 bezeichnete der Pathologe Rudolf Virchow atypische Ablagerungen in der Leber von Verstorbenen erstmals als „Amyloid“, da diese sich nach Jodzugabe wie Stärke blau anfärbten. Einige Jahre später erkannten dann August Kekulé und Nicolaus Friedreich, dass es sich bei den Ablagerungen nicht um Stärke, sondern um Proteinstrukturen handelt, in denen kleine Zuckermoleküle eingelagert sind. Die physiologisch löslichen Proteine im Blutserum bilden unlösliche Komplexe aus β-Faltblatt-Strukturen mit einen Durchmesser von 7 bis 10 nm. Diese Fibrillen weisen eine Affinität zum Farbstoff Kongorot mit charakteristischer apfelgrüner Doppelbrechung in polarisiertem Licht auf.

Die Amyloidosen stellen eine heterogene Gruppe verschiedener systemischer Erkrankungen dar, die pathogenetisch durch eine extrazelluläre Ablagerung von fibrillären, fehlgefalteten Proteinen (Amyloidfibrillen) charakterisiert sind. Sie können erworben oder erblich bedingt sein. Die Amyloidfibrillen werden durch Konformationsänderung von physiologisch vorkommenden Proteinen gebildet. Bisher sind mehr als 30 derartige Proteine bekannt. Die Bezeichnungen der Amyloidosen setzen sich aus dem Anfangsbuchstaben „A“ für Amyloid und einem Suffix für das jeweils abgelagerte Vorläuferprotein zusammen. So führt beispielsweise die Umwandlung von Leichtketten in Amyloid zur Leichtkettenamyloidose (AL-Amyloidose), die Umwandlung von Transthyretin zur ATTR-Amyloidose.

Neuropathie

Als amyloidogenes Protein wurde das hauptsächlich in der Leber produzierte Präalbumin identifiziert, das später als Transthyretin bezeichnet wurde. Transthyretin ist das Transportprotein für Thyroxin und Vitamin A im Blut.

Der Erkrankung liegen Mutationen im Transthyretingen am Genort 18q12.1 zugrunde. Punktmutationen im Gen verringern durch die resultierenden Konformationsänderungen die Stabilität des Tetramers. Eine Dissoziation in Di- und Monomere als geschwindigkeitsbestimmender Schritt der Amyloidbildung wird hierdurch begünstigt.

Da ein Monomer einen hohen Anteil an β-Faltblatt-Strukturen aufweist, besteht eine verstärkte Neigung zur Umwandlung in Amyloidfibrillen. Bisher sind über 120 Mutationen in diesem Gen mit Zusammenhang zur ATTR-Amyloidose bekannt. Der Erbgang ist autosomal-dominant. Ein Großteil der Mutationen verringert die Stabilität des Tetramers. Jedoch sind auch wenige Mutationen beschrieben, die eine Zunahme der Stabilität bewirken und vor Amyloidablagerungen schützen.

Krankheitsbild

Das charakteristische Bild der Nervenbeteiligung ist die symmetrische Small-Fiber-Polyneuropathie, die zu einer reduzierten Wahrnehmung von Schmerz und Temperatur führt. Die Patienten klagen über schmerzhafte Missempfindungen an den Füßen. Im weiteren Verlauf sind auch die übrigen sensiblen Qualitäten betroffen. Zusätzlich können autonome Symptome auftreten, wie etwa orthostatische Hypotonie, erektile Dysfunktion, gastrointestinale Symptome mit Wechsel von Obstipation und Diarrhö oder Gastroparese mit postprandialem Erbrechen oder Diarrhö. Dadurch kommt es zum Gewichtsverlust und zur Kachexie. Die Symptome sind chronisch progredient und steigen von distal nach proximal auf. Mit zunehmender Krankheitsdauer werden auch die motorischen Funktionen gestört, wobei durch Lähmung und Atrophie die Gehfähigkeit weiter eingeschränkt wird. Blasenentleerungsstörung und Inkontinenz treten im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf auf. Das charakteristische Bild der kardialen Beteiligung ist die biventrikuläre Hypertrophie mit diastolischer Dysfunktion bis hin zur restriktiven Kardiomyopathie. Die Patienten klagen über Belastungsdyspnoe, Leistungsminderung, Rhythmusstörungen und/oder Angina pectoris. Zusätzlich können autonome Symptome wie orthostatische Hypotonie bis hin zur Synkope vorliegen. Es kommt zur Flüssigkeitsretention mit peripheren Ödemen, Pleuraerguss und/oder Aszites. Die Symptome sind ebenfalls chronisch progredient.

Ein Karpaltunnelsyndrom findet sich bei etwa 40 Prozent der Patienten mit ATTR-Amyloidose in der Anamnese und kann als Frühmanifestation der Erkrankung gewertet werden.

Prognose

Ohne Therapie ist die Lebenserwartung durch die Organschädigungen vermindert. Sie beträgt für die p.Val50Met-Mutation in Endemiegebieten wie Portugal im Median ungefähr 10 Jahre nach Symptombeginn.

Therapie

Die symptomatische Therapie zur Linderung der individuellen Organbeschwerden steht während der gesamten Zeit im Vordergrund, beeinflusst den Krankheitsverlauf jedoch nicht. Deshalb bildet eine kausale Therapie zur Verhinderung der weiteren Amyloidbildung oder Förderung des Amyloidabbaus eine zweite entscheidende Säule im Management von Patienten mit ATTR-Amyloidose.

- Lebertransplantation: Unter diesem Aspekt wurde erstmals 1990 eine orthotope Lebertransplantation bei einem Patienten mit ATTR-Amyloidose durchgeführt. Durch die neue Leber wird die Produktion des Vorläuferproteins gestoppt. Es wurde erwartet, dass es zu keinem Fortschreiten der Erkrankung mehr kommen kann. Mit mehr als 25 Jahren Erfahrung wurde jedoch erkannt, dass bei 10 bis 30 Prozent der Patienten dennoch progrediente Beschwerden auftreten. Dies lässt sich wahrscheinlich durch eine Umwandlung von Wildtyptransthyretin in Amyloid an bereits bestehendem Amyloid erklären. Durch die Erfahrungen haben sich unter den Patienten mit ATTR-Amyloidose Subgruppen gezeigt, die von der orthotopen Lebertransplantation mehr profitieren. Der geeignete Kandidat ist der junge Patient mit p.Val50Met -ATTR-Amyloidose und isolierter Polyneuropathie im Stadium 1 nach Coutinho, kurzer Krankheitsdauer, gutem Ernährungszustand mit modifiziertem BMI > 700 mg/dl × kg/m² (Serumalbumin × BMI) und milder Beschwerdesymptomatik.

- Tafamidis: Im Jahr 2011 wurde in Deutschland Tafamidis zur medikamentösen Therapie von Patienten mit hereditärer Transthyretinamyloidose und Symptomen einer leichten Polyneuropathie (Stadium 1, Gehen ohne Hilfsmittel möglich) zugelassen. Die Zulassung stellte den ersten wesentlichen Fortschritt in der medikamentösen Therapie der Erkrankung dar. Tafamidis ist ein hochselektiver Stabilisator des Transthyretintetramers. Hierdurch wird die Dissoziation in Di- und Monomere verhindert. Durch Behandlung mit Tafamidis kann so die Progression der Polyneuropathiesymptome aufgehalten werden.

- Patisiran und Inotersen: Ein weiterer therapeutischer Ansatz, der sich in klinischen Studien als wirksam herausgestellt hat, ist die medikamentöse Ausschaltung der Transthyretin-mRNA-Expression des Transthyretingens in der Leber.

Der Originalbericht „Was am Herzen nagt und auf die Nerven geht“ ist erschienen in „Der Internist“ 11/2018, https://doi.org/10.1007/s00108-018-0470-x , © Springer Verlag

Weitere Informationen:

https://doi.org/10.1007/s00108-018-0470-x



Metadaten
Titel
Innere Medizin
Frei von der Leber Weh
Publikationsdatum
10.09.2019
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 38/2019

Weitere Artikel der Ausgabe 38/2019

www.gesundheitswirtschaft.at (Link öffnet in neuem Fenster)

Mit den beiden Medien ÖKZ und QUALITAS unterstützt Gesundheitswirtschaft.at das Gesundheitssystem durch kritische Analysen und Information, schafft Interesse für notwendige Veränderungen und fördert Initiative. Die ÖKZ ist seit 1960 das bekannteste Printmedium für Führungskräfte und Entscheidungsträger im österreichischen Gesundheitssystem. Die QUALITAS verbindet seit 2002 die deutschsprachigen Experten und Praktiker im Thema Qualität in Gesundheitseinrichtungen.

zur Seite

www.pains.at (Link öffnet in neuem Fenster)

P.A.I.N.S. bietet vielfältige und aktuelle Inhalte in den Bereichen Palliativmedizin, Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerzmedizin. Die Informationsplattform legt einen besonderen Schwerpunkt auf hochwertige Fortbildung und bietet Updates und ausgewählte Highlight-Beiträge aus Schmerznachrichten und Anästhesie Nachrichten.

zur Seite