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Ärzte Woche

Open Access 11.12.2022 | Gesundheitspolitik

„Was wir brauchen, ist ein Sieg“

verfasst von: Mit Sergij Chernichukhat Stefan Schocher gesprochen

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Sergij Chernichuk ist medizinischer Direktor des Kinderspitals Ohmatdyt in Kyiv. Ohmatdyt ist die größte Kinderklinik der Ukraine mit 720 Betten und rund 20.000 bzw. 10.000 OPs jährlich. Die Angriffe auf die Energie-Infrastruktur des Landes sowie budgetäre Engpässe setzen der Einrichtung massiv zu.

Russland greift gezielt die Energie-Infrastruktur der Ukraine an. Wie kann man sich den Krankenhausalltag unter diesen Bedingungen vorstellen?

Sergij Chernichuk: Wir haben in unserer Klinik zum Glück kein großes Problem mit Energiemangel. Schon vor Jahren wurden wir an eine 2. Leitung angeschlossen und bisher hatten wir keine Ausfälle oder längere Perioden ohne Energie. Aber wir sind uns bewusst, dass diese Maßnahme nicht ausreicht, um die Situation unter Kontrolle zu halten, wenn sich die Lage verschlimmert. Und das ist durchaus möglich. Aus diesem Grund haben wir Generatoren. Aber sie decken nur kritische Bereiche ab. Derzeit legen wir strategische Treibstoffreserven an, um unser lokales System für mindestens vier oder fünf Tage zu unterstützen. Aber das gilt nur für das kritische System. Wir versuchen auch, andere Wege zu finden, um unsere Unabhängigkeit zu verbessern. Aber ich bezweifle, dass dies in kurzer Zeit möglich ist. Derzeit arbeiten wir mit einigen Firmen zusammen und suchen nach Zuschüssen, um uns bei der Herstellung und Speicherung von Strom mit Solaranlagen und Batterien zu unterstützen.

Was sind denn die unmittelbaren Folgen von Energieausfällen?

Sergij Chernichuk: Wir haben in jeder Region Stromausfälle, und jeden Tag sind wir drei oder vier Stunden ohne Energie. Vor allem auch in Kyiv. Manchmal planmäßig, manchmal außerplanmäßig, und in einigen Regionen sind die Zeiten sogar noch länger. Da gibt es bis zu 12 Stunden keinen Strom. Aber die meisten unserer Kliniken haben Generatoren. Deshalb haben sie einen gewissen Schutz vor diesen Problemen. Aber wenn der Stromausfall tagelang dauert, wird es sehr schwierig werden. Wir werden vor allem auch ein großes Problem mit dem Treibstoff haben.

Und die medizinischen Folgen?

Sergij Chernichuk: Das ist eine sehr gefährliche Situation. Vor allem in großen Städten. In meinem Haus zum Beispiel: Ich wohne im 15. Stock, wenn der Strom ausfällt, habe ich kein Wasser und keine Heizung. Für ein paar Stunden ist das kein Problem. Aber wenn das 12 Stunden dauert und die Temperaturen auf minus 10 oder minus 20 Grad sinken, dann wird es sehr schwierig zu leben. Natürlich ist das eine Situation, die eine Fülle an Krankheiten zur Folge haben kann. Es wird ein Problem mit Abwasser geben. Hinzu kommen Unterkühlung, Wassermangel. Aber die Folgen können vielfältig sein: Lungenerkrankungen, Infektionen, Menschen mit chronischen Krankheiten werden eine Verschlimmerung ihrer Situation erleben. Es wird Auswirkungen auf vielen Ebenen haben. Besonders in den Städten. Nach zwei oder drei Tagen werden die Menschen die Städte verlassen müssen.

Bemerken sie denn bereits jetzt Veränderungen bei den Fällen?

Sergij Chernichuk: Unser Krankenhaus ist das größte Kinderkrankenhaus der Ukraine. Wir behandeln alles und leisten alles – mit einer Ausnahme: kardiologische Eingriffe. Das typische Profil unserer Patienten ist im Moment normal, wie vor dem Krieg. Nur manchmal haben wir Verletzungen. Aber normalerweise werden diese Patienten erst einmal von anderen Krankenhäusern übernommen und bei uns dann weiterbehandelt. Wir wissen eines sehr genau: dass wir evakuieren werden müssen, wenn sich die Situation verschlechtert.

Wie kann man sich so eine Evakuierung vorstellen?

Sergij Chernichuk: Einige Patienten könnten wir wohl entlassen. Manchmal kann man eine Operation auch verschieben. Und manchmal können Eltern ihre Kinder mit nach Hause nehmen. Aber wenn es um Patienten geht, deren Behandlung wir nicht abbrechen können, haben wir Erfahrung mit Evakuierungen. Im März haben wir bereits mehr als 100 Patienten nach Lviv und dann auch weiter in westeuropäische Länder evakuiert.

Wie wichtig ist in einer solchen Situation denn Hilfe aus dem Ausland?

Sergij Chernichuk: Wir waren auf diese Situation vorbereitet. Wir hatten zu Kriegsbeginn Medikamente eingelagert, um etwa zwei Monate lang arbeiten zu können. Jetzt haben wir Hilfe von Freiwilligen erhalten. Wir verstehen, dass die übliche zivile Logistik zerstört wurde. Heute haben wir genug für etwa einen Monat eingelagert. Aber Engpässe können sehr schnell auftreten. Diese Hilfe war und ist sehr wichtig für uns, damit wir die Arbeit nicht einstellen mussten. Derzeit haben wir eine stabilere Versorgung. Im Februar und März war das größte Problem, dass Kyiv von der russischen Armee umzingelt war und die Wege für den Transport von Medikamenten und Lebensmitteln unsicher waren. Die Eisenbahn funktionierte zwar, aber nicht regelmäßig - aber alle staatlichen Stellen halfen uns in dieser Situation.

Wo orten sie denn den größten Bedarf in den kommenden Monaten?

Sergij Chernichuk: Ich denke, wenn wir keine Verschlechterung bei der Situation mit der Energie haben, wird alles gut gehen. Aber: Unsere Regierung hat derzeit kein Geld für irgendetwas, außer für unsere Armee. Wir haben kein Geld, um gute Ausrüstung zu kaufen, um auf einem guten Behandlungsniveau zu sein. Zum Beispiel: Wir können keine Renovierung vornehmen. Der Zustand unserer Räume ist nicht gut. Wir haben viele Pläne, um zu renovieren und zu entwickeln, aber im Moment ist das nicht möglich. Es gibt keine Finanzierung dafür. Wir haben zwar Mittel für die wichtigsten Bereiche und Lieferungen, aber ich weiß nicht, ob das Budget im nächsten Jahr ausreichen wird– wegen der Inflation sind die Preise massiv gestiegen. Aber wir sitzen nicht auf unseren Stühlen. Wir sind ständig auf der Suche nach Spenden oder Hilfe, und wir wissen, dass unsere Regierung viele Probleme hat.

Wie wichtig ist in dieser Lage die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft?

Sergij Chernichuk: Wir sind eine sehr bekannte Klinik in der Ukraine, und deshalb erhalten wir Hilfe. Jetzt ist zum Beispiel der Treibstoff ein Thema: Der wurde von unseren Kraftstoffunternehmen gespendet. Wir spüren diese Unterstützung aus der Gesellschaft sehr stark. Aber natürlich ist es jetzt sehr schwierig, zusätzliche Unterstützung zu finden. Die Leute geben Geld. Aber was wir wirklich brauchen, ist einen Sieg.

Und die Kooperation mit ausländischen Geldgebern?

Sergij Chernichuk: Wir haben eine gute Zusammenarbeit mit unseren internationalen Partnern, wir erhalten viel Hilfe von internationalen Partnern, und das ist wirklich wichtig für uns und hilft uns bei unserer Arbeit. Wir verstehen, dass die staatlichen Mittel nicht ausreichen werden. Manche stellen sich vielleicht die Frage: Warum sollen wir der Ukraine helfen, wir haben doch selbst Probleme? Ich antworte darauf: Wenn wir aufgeben, werdet ihr diese Probleme auch in euren Ländern haben. Ich wünsche euch, dass ihr nie erfahren werdet, wie sich Luftalarm anhört.

Gibt es in dieser Lage denn medizinische Bereiche, die vernachlässigt werden?

Sergij Chernichuk: Der Bereich der Rehabilitation ist ganz sicher ein solches Thema. Also vor allem für Menschen nach Amputationen, nach Operationen oder anderen komplizierten Eingriffen. Viele Patienten benötigen eine lange Rehabilitation und unsere Kapazitäten reichen, was das angeht, nicht aus. Wir versuchen jetzt, ein System zu etablieren, aber es ist schwierig.

Außerdem: Unsere Ärzte müssen geschult werden, um eine angemessene Rehabilitation durchführen zu können.

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Metadaten
Titel
„Was wir brauchen, ist ein Sieg“
Schlagwort
Gesundheitspolitik
Publikationsdatum
11.12.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 50-52/2022

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