Nur einer von sechs Österreichern geht pro Jahr zur kostenlosen Gesundenuntersuchung. Ein Drittel verweigert die Impfung gegen COVID-19. Und für die Schutzimpfung gegen Grippe bestellt das Gesundheitsministerium aus bitterer Erfahrung bloß 1,2 Millionen Impfdosen. Appelle verhallen ohne Reaktion. Eine Untersuchung der sozialen Milieus gibt Aufschluss über die Gründe und zeigt auf, wie man auch Unwillige erreicht.
Bad Hofgastein, in den Tagen vor dem Nationalfeiertag. Während überall Fahnen hervorgeholt und glattgebügelt werden, während Wanderschuhe in Schuss gebracht werden (und man sich im Stillen ärgert, dass der Feiertag diesmal auf einen arbeitsfreien Samstag fällt …) – versammelt sich im Gasteinertal alles, was in Österreichs Gesundheitspolitik Rang und Namen hat. Beim Austrian Health Forum (24.-25. Oktober 2024) geht es um die Frage, warum in diesem Land so viele Menschen so wenig für ihre Gesundheit tun. An warnenden Worten und kostenlosem Angebot mangelt es nicht, allein, es fehlt offenbar der Glaube.
Antworten auf diese Frage erhofften sich die 200 Teilnehmer des Forums aus dem berufenen Munde von Dr. Bertram Barth. Der ist Chef der Markt- und Meinungsforschungsgesellschaft INTEGRAL in Wien. Er verwendet für Sozialforschung das Modell der „Sinus-Milieus“. Dafür wird die Bevölkerung in Gruppen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage aufgeteilt – zu „Gruppen Gleichgesinnter“. Das alles entlang einer Matrix, deren vertikale Achse die soziale Lage einer Person festhält:
- Oberschicht/obere Mittelschicht
- mittlere Mittelschicht
- untere Mittelschicht/Unterschicht.
Horizontal wird die weltanschauliche Grundorientierung aufgetragen:
- Tradition (Pflichterfüllung, Ordnung)
- Modernisierung (Individualisierung, Selbstverwirklichung, Genuss)
- Neuorientierung (viele mögliche Optionen, Pragmatismus, neue Gedanken über Sinn und Zweck des Lebens)
In einem Satz: „Die Sinus-Milieus verdeutlichen, was die verschiedenen Lebenswelten in unserer Gesellschaft bewegt.“ Welchen Werten sie verpflichtet sind, welchen Lebenszielen, welchem Lifestyle.
Zehn solcher Milieus macht Bertram Barth hierzulande aus.
In der oberen Mitte gibt es die Schicht der „Konservativ-Etablierten“, die es im Leben zu Wohlstand und Ansehen gebracht hat. Sie endet unten mit „Traditionellen“, denen Pflichterfüllung und Ordnung wichtig sind.
Barth hat im August 2024 in einer groß angelegten Meinungsumfrage Statements zu Gesundheit eingeholt. Und dabei erkannt, wie unterschiedlich je nach Milieu die Antworten ausfallen:
- „Fühle mich gesund“: Das gehobene Manager-Milieu der Performer 82 %, Traditionelle 47 %.
- „Achte auf gesunden Lebensstil“: Performer 82 %, die um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht der Konsumorientierten Basis nur 51 %.
- „Sorge mich um ärztliche Versorgung“: Das systemkritische Milieu der Nostalgisch-Bürgerlichen 58 %, Performer nur 15 %.
- „Achte auf Impfungen“: Das jüngere politisch interessierte Milieu der Progressiven Realisten 83 %, die Konsumorientierte Basis nur 40 %.
Im Milieu der „Konsumorientierten Basis“ herrscht ein passiv-resignierter Zugang zu Gesundheit, analysiert Barth. In diesem Milieu geht es um die Bewältigung des Alltags mit geringen Ressourcen. Gesundheit gilt als Luxus, gesundes Leben müsse man sich leisten können. Das Geld reicht nicht fürs Fitnesscenter, Lebensmittel werden nach Sonderangeboten gekauft. Nicht hinterfragt wird der eigene Lebensstil: eher ungesundes Essen, Convenience-Food, wenig Bewegung, oft auch Rauchen. Genussmittel und Essen gelten als Seelentröster. Dazu kommt laut Barth ein geringes Körperbewusstsein: Krankheitssymptome würden oft nicht erkannt – oder falsch interpretiert. Gesundheitsprobleme würden überspielt. Ärzte gelten als Autorität, von Medikamenten erwartet man Wunder. Aber man ist sehr empfindlich gegenüber Bevormundung. Und das heißt: Appelle, die in der gesundheitsbewussten Oberschicht gut ankommen, fallen hier auf trockenen Boden. Barth analysiert: „Die gehobenen Milieus, die verantwortlich für die Konzeption von Gesundheitskommunikation sind, sind weit weg vom Alltags- und Problemverständnis der gesundheitlich belasteten Milieus.“
Was zu tun wäre
Auf die Gesundheitspolitiker und auf die Chefs der Krankenkassen komme eine große Aufgabe zu. Sie müssten vier Fragen beantworten:
- Was ist für die eher aufklärungsresistenten Milieus relevant? Was gilt dort als „normal“ und „logisch“?
- Was haben diese Milieus davon, wenn sie uns zuhören?
- Wie vermitteln wir Botschaften attraktiv – in Text, Bild, gesprochener Sprache?
- Wo erreichen wir diese Milieus?
Voraussetzung dafür sei, das milieu-spezifische Selbstbild anzuerkennen. Angebote so zu stellen, dass sie Bedürfnissen und Bedürftigkeit dieser Milieus entsprechen. Die Menschen bei der Bewältigung ihrer Lebensaufgaben unterstützen.
Am einfachsten, sagt Barth, sei das zu bewältigen, indem man auf das Milieu der Adaptiv-Pragmatischen Mitte zielt. Deren Prinzip sei die Nutzen-Maximierung: „Was habe ich davon? Was nützt mir das? Was hilft mir das?“ Was diese Gruppe erreicht, strahlt auch in die darunterliegenden Milieus aus: Die Traditionellen; die Nostalgisch-Bürgerlichen; die Konsumorientierte Basis. Zusammen machen diese Milieus fast die Hälfte der Bevölkerung aus. Zählt man noch die Hälfte der Hedonisten dazu, ergibt sich sogar eine Bevölkerungsmehrheit.
Nur: Wie erreicht man diese schwer zu überzeugende, negativ-abwehrend eingestellte Hälfte der Bevölkerung? Barth meint, über den direkten Kontakt: Über Gemeindezeitungen, über die Bürgermeister, über örtliche Vereine, Dorffeste, Volksfeste. Und bei Aufklärung/Werbung über Massenmedien eher über regionale Zeitungen und Zeitschriften. Personen, die mit ihrem Namen und mit ihrem Bild für Gesundheits-Werbung einstehen, sollten den Lebensstil dieser Mitte verkörpern. Barth dazu: „Das heißt, die Frage ist, wie erreichen wir jetzt Milieus, die antielitär eingestellt sind und damit auch antiwissenschaftlich? Nicht, indem wir von oben herab agieren, nicht indem wir unverbindliche Lifestyle-Welten vorspiegeln, sondern indem wir uns in ihre Welt hineinbegeben und die widerspiegeln.“
Einfache Slogans, bürgerliche Welt
Barth hält die Werbung der Lebensmittel-Gruppe Lidl mit der Sängerin Christine Stürmer für ein gutes Beispiel. „Entdecke Lidl mit Christina“, heißt es da. Schlägt man die Website auf, empfängt einen zunächst ein Video von einem ländlichen Fest in einer Scheune. Mit Glühlampenkette und Sensen an der Holzwand. Darunter folgen drei einfache Slogans: „Qualität muss nicht teuer sein“; „heimische Produkte sind mir einfach am liebsten“; „Ich will, dass auch meine Kinder in einer sauberen und gesunden Umwelt aufwachsen“. Und, groß als Abschluss: „Und natürlich achte ich beim Einkaufen darauf, dass es schmeckt.“ Barth meint, das sei eine bürgerliche Normalität, die ganz gut ankomme.