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Ärzte Woche

16.10.2022 | Gesundheitspolitik

The kids are not alright

verfasst von: Raphaela Mayerhofer

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Haben wir beim Schützen der Alten die Kinder vergessen? Seit Beginn der Pandemie steigen Angststörungen, Depressionen, Essstörungen, Suizidalität und andere psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen rasant an, und es scheint, dass der Höhepunkt noch nicht erreicht ist.

Der schiere Wahnsinn: So beschreibt eine Pflichtschullehrerin den Schulalltag in der Pandemie. Als während des ersten Lockdowns im März 2020 die Schulen geschlossen wurden und der Präsenzunterricht durch Distanzunterricht ersetzt wurde, gab es keine Zeit für Vorbereitungen und keinen Krisenplan. Von der Volksschule bis zur Oberstufe mussten sich Kinder und Lehrpersonal plötzlich ganz alleine mit der Anwendung digitaler Medien zurechtfinden. Unterrichtsmaterial sollte via Email oder Lernplattformen bereitgestellt werden. Die Kommunikation sollte ebenfalls über Email, Lernplattformen oder diverse Videokonferenzprogramme laufen.

Beim Versuch, möglichst keine Kinder zurückzulassen, boten Lehrerinnen an, mit Schülern per Telefon oder WhatsApp zu kommunizieren, nur um danach von Vorgesetzten für ihren Einsatz gerügt zu werden. Die Tagesstruktur in den Familien wurde völlig durcheinandergebracht und die gewohnte Routine unterbrochen.

In vielen Haushalten mussten plötzlich Eltern und Kinder im Homeoffice arbeiten, oft auf engem Raum, ohne Rückzugsmöglichkeiten. Von Eltern wurde volle Leistungsfähigkeit im Homeoffice erwartet, während sie zeitgleich ihre Kinder durch den Unterricht begleiteten und technische Probleme an Laptops und Videotelefonie lösten. Von Kindern wurde erwartet, aufmerksam am Distanzunterricht teilzunehmen, während Eltern lautstark in Videokonferenzen diskutierten und kleine Geschwister spielten oder weinten.

Viele Eltern verloren ihre Arbeit und waren gezwungen, zu Hause zu bleiben, wo es oft keinen Platz für Privatsphäre gab und keine Möglichkeit, familiären Spannungen auszuweichen. In Familien, in denen Drogen und Gewalt zum Alltag gehören, wurde Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit genommen, sich der Bedrohung zu entziehen. Soziale Strukturen, persönliche Entfaltungsmöglichkeiten und Zufluchtsorte für junge Menschen waren plötzlich nicht mehr greifbar.

Als während des ersten Lockdowns im März 2020 die Schulen geschlossen wurden, bestand die Hoffnung, dass die Pandemie durch hartes Durchgreifen schnell unter Kontrolle gebracht werden könnte. Aber als im August 2020 die Infektionszahlen wieder zu steigen begannen, war klar, dass es für Kinder und Jugendliche kein Zurück zum normalen Schulbetrieb geben würde.

Seit zwei Jahren befinden sich Österreichs Kinder und Jugendliche nun in einem ständigen Hin und Her zwischen Distanzunterricht, wöchentlich wechselndem Präsenzunterricht, täglichen COVID-1-Tests, krankheitsbedingten Ausfällen, inkonsistenten Prüfungsmodalitäten, abgesagten Schullandwochen, Maturabällen und so weiter.

Das Gefühl der Isolation

Diese chaotische Lebensrealität der Pandemie hat bei jungen Menschen in Österreich Spuren hinterlassen. Im Herbst 2021 litten laut einer Studie der Donau Universität Krems 62 Prozent der befragten Mädchen und 38 Prozent der Buben an Depressionen, 49 Prozent der Mädchen und 29 Prozent der Buben an Angststörungen und 28 Prozent der Mädchen und 17 Prozent der Buben an Schlafstörungen. 47 Prozent der Mädchen und 32 Prozent der Buben gaben an, Suizidgedanken zu haben.

Die Adoleszenz ist ein Lebensabschnitt, in dem junge Menschen anfangen, sich von den Eltern und der Kernfamilie zu lösen und die eigene Identität zu erkunden. Sie durchleben zahlreiche biopsychosoziale Veränderungen und haben ein erhöhtes Bedürfnis nach sozialen Interaktionen und gemeinsamen Erfahrungen mit Gleichaltrigen. Jugendliche müssen Autonomie und Selbstbestimmung erfahren können, um sich zu eigenständigen jungen Erwachsenen entwickeln zu können.

Während Smartphones und soziale Medien zwar seit Beginn der Pandemie im Leben von Kindern und Jugendlichen einen besonders wichtigen Stellenwert einnehmen als wesentliches Werkzeug, um mit Freunden in Kontakt zu bleiben, so wird die verstärkte Nutzung von Smartphones aber auch von einem Anstieg psychischer Probleme begleitet. Die Verwendung von digitalen Medien und Bildschirmen im Distanzunterricht zusätzlich zur Verwendung von Smartphones, Tablets und anderen Geräten in der Freizeit führt bei vielen jungen Menschen außerdem zu reduzierter körperlicher Aktivität. Das Gefühl der Isolation bei Jugendlichen wurde verstärkt durch die pandemiebedingten Einschränkungen im öffentlichen Raum, etwa Organstrafverfügungen beim Aufenthalt in Parkanlagen und auf Spielplätzen und die Schließung von Jugendzentren und Sportanlagen. Bei einer Befragung im Februar 2021 beschrieben Jugendliche ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Perspektivenlosigkeit sowie Besorgnis um die eigene Zukunft.

Die Volkshilfe unternahm im Februar 2021 eine Umfrage unter armutsbetroffenen Familien, deren Haushaltseinkommen unter 1.671 EUR lag. Die Umfrage ergab, dass armutsbetroffene Kinder seit Beginn der Pandemie deutlich trauriger und einsamer sind als andere. 54 Prozent der Eltern beurteilten die Lebensqualität ihrer Kinder mit der Schulnote 4 bis 5. 48 Prozent der Kinder gaben an, sich Sorgen um ihre schulischen Leistungen zu machen, und 19 Prozent machten sich finanzielle Sorgen. Prof. Dr. Christoph Pieh, Leiter des Departments für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Donau Universität Krems, erklärt, dass die durch den Lockdown bedingte Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens in Österreich trotz Ende des Lockdowns unverändert ist.

Es geht sich nicht aus

An der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Landesklinikums Mödling am Standort Hinterbrühl werden Kinder und Jugendliche im Alter von 3 bis 18 Jahren psychotherapeutisch und psychiatrisch betreut und behandelt. Mag. Karin Zajec, Leiterin des Karl Landsteiner Instituts für psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Kindheitsforschung, ist hier die leitende klinische Psychologin. Sie bestätigt Piehs Einschätzung. Die psychosoziale Versorgung für junge Menschen sei bereits vor der Pandemie mangelhaft gewesen, die Situation habe sich trotz des Endes des Lockdowns zugespitzt. „Wir sind noch immer mit Krisenintervention beschäftigt.“ Doch würden für Langzeittherapien die Ressourcen fehlen. „Es geht sich einfach nicht aus.“

Erschwerend kommt hinzu, dass Personen, die in der psychosozialen Versorgung tätig sind, selbst von den Folgen der Pandemie betroffen sind. Trauma und Burnout in helfenden Berufen ist ein weit verbreitetes Problem, das durch die Pandemie weiter verstärkt wurde. Das Personal in psychosozialen Einrichtungen wird immer knapper aufgrund von Erschöpfung, Krankenständen, Long-Covid, bis hin zur Arbeitsunfähigkeit. „Es bräuchte doppelt so viel Personal“, erklärt Zajec. Mangel, wohin man schaut. Neben der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen müssten auch Eltern und das Lehrpersonal „gehört, gesehen und wahrgenommen werden“, sagt Mag. Barbara Haid, Präsidentin des Bundesverbands für Psychotherapie.

Was passieren muss

Während zu Recht versucht wurde, Risikogruppen in der Pandemie zu schützen, scheint es, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen hintangestellt wurde, sagt Zajec. Der Bundesverband für Psychotherapie, die Liga für Kinder- und Jugendgesundheit und die Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie verlangen unisono die Aufstockung des psychosozialen Schulsupportpersonals und nachhaltige Unterstützungs-, Präventions- und Fortbildungsangebote für Schülerinnen und Schüler, Lehrer und Eltern. Psychotherapie auf Krankenschein müsse „endlich“ umgesetzt werden, sagt Zajec.

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Metadaten
Titel
The kids are not alright
Publikationsdatum
16.10.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 42/2022

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