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Ärzte Woche

Open Access 09.10.2022 | Gesundheitspolitik

Jenseits des Idylls

verfasst von: Michael Krassnitzer

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In der Gasteiner Beschaulichkeit machten Europas Gesundheitspolitiker ihren Sorgen Luft: Erderwärmung, COVID-19, Ukraine und nun die steigenden Energiepreise: Man befindet sich in einer Dauerkrise.

Gesundheitspolitik ist Sache der EU-Mitgliedstaaten, die Kompetenzen der EU in Sachen Gesundheitspolitik sind beschränkt. In gesundheitspolitischen Fragen konzentriert sich die EU daher auf die Prävention und das Hintanhalten von Krankheiten – dazu gehören Impfungen, die Bekämpfung der Antibiotikaresistenz, Kampagnen gegen Krebserkrankungen und eine verantwortungsvolle Kennzeichnung von Lebensmitteln –, auf den gleichberechtigten Zugang aller Europäer zu einer modernen und effizienten Gesundheitsversorgung sowie die Koordinierung der Reaktion auf schwerwiegende Gesundheitsgefahren, die mehr als ein EU-Land bedrohen. Das sind dann doch gar nicht so wenige Kompetenzen. Daher auch das Treffen hochrangiger Gesundheitspolitiker auf dem European Health Forum in Gastein, der 25. Zusammenkunft dieser Art in dem Salzburger Kongressort.

„Allein geht gar nichts. Internationale Zusammenarbeit ist der Schlüssel“, erklärt der Präsident des EHFG, Dr. Clemens Martin Auer, das europäische Credo. Diese Perspektive ist freilich oft sehr weit entfernt von den konkreten Lösungen für die Probleme in den Gesundheitssystemen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Was nicht heißt, dass europäische Experten nichts zu sagen hätten. Auf einem Medientermin am Rande der Tagung wurde die Frage gestellt: Was hat uns die Pandemie gelehrt? Kurz gesagt: Das Niveau der Gesundheitskompetenz ist erschreckend niedrig. Die Impfkampagnen der Staaten waren aber ebenfalls erstaunlich wirkungslos. Neue Aufklärungskampagnen müssen anders sein, viel dialogischer sein und auch digitaler, sagte etwa die Gesundheitsexpertin Ilona Kickbusch aus Genf.

Die Gesundheitskompetenz in Europa ist erschütternd niedrig

„Die Corona-Krise hat sehr deutlich gezeigt, dass Gesundheitskompetenz eine ganz zentrale Funktion hat. Wissen über Gesundheitsthemen und Kommunikation über Gesundheit helfen den Menschen dabei, gute Gesundheitsentscheidungen zu treffen. Leider ist die Gesundheitskompetenz in Europa erschütternd niedrig. 50 Prozent der Bevölkerung in unseren doch sehr reichen, entwickelten Gesellschaften verfügen nicht über eine ausreichende Gesundheitskompetenz. Unsere Gesundheitskompetenzprogramme haben sich in der Vergangenheit sehr stark auf nicht übertragbare Erkrankungen wie Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen konzentriert. Die Menschen wussten nicht genug über Infektionserkrankungen, über Impfen, über Impfstoffe und wie man sich bei einer Infektionserkrankung verhält. Wir mussten auch erleben, dass die sozialen Medien das Vertrauen in die Kommunikation von Wissenschaft und Gesundheitspolitik systematisch zerstört haben. Jetzt gilt es, eine neue Infrastruktur für Information aufzubauen, der die Leute Vertrauen schenken. Jene Länder, in denen das Vertrauen in die staatlichen Institutionen niedrig war, sind mit der Krise nicht so gut zurecht gekommen wie andere. Neue Aufklärungskampagnen müssen anders sein als jene in der Vergangenheit. Sie müssen viel dialogischer sein und auch digitaler. In bestimmten Bereichen – aber das wird jedes europäische Land anders lösen – wird es wohl auch eine Impfpflicht geben. Es muss vermittelt werden, dass Impfen ein solidarischer Akt ist. Und zwar nicht nur innerhalb der eigenen Gesellschaft, sondern global. Das wird nicht einfach. Impfkritik wird ganz bewusst als politische Chaosstrategie eingesetzt, durch die Gesellschaften in politische Auseinandersetzungen verstrickt und Länder destabilisiert werden sollen. Die Skepsis gegenüber der Corona-Impfung hat sich auch auf andere Impfungen ausgewirkt. Wir werden sehr stark daran arbeiten müssen, das Vertrauen in Impfungen – speziell in Impfungen, die für Kinder wichtig sind – wiederherzustellen. Das ist eine ganz große Aufgabe. Wir müssen auf neue Weise mit Infektionskrankheiten umgehen. Die Klimaveränderung führt dazu, dass es in Europa zu Ansteckungen kommt, die vorher nicht möglich waren, etwa durch die Verbreitung der Tigermücke. Das Gesundheitspersonal muss entsprechend vorbereitet sein.“

Prof. Dr. Ilona Kickbusch, Leiterin des globalen Gesundheitsprogramms am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf

Der Schlüssel ist die internationale Zusammenarbeit

„Globale Krisen brauchen globale Antworten. Das ist eine der Lehren, die wir aus der multiplen Krisenlage gezogen haben. Wir hatten in Österreich zu sehr den Blick nach innen gerichtet und uns auf innenpolitische Diskussionen fokussiert. Dabei haben wir vergessen, dass es für ein kleines Land wie Österreich unmöglich ist, die Klimakrise, die Corona-Pandemie und die Folgen des Krieges in der Ukraine alleine zu lösen.

Insbesondere die permanente Angst, wie sich der Krieg in der Ukraine weiterentwickelt, ist eine massive Belastung für die mentale Gesundheit der Bevölkerung. Da ist es ganz wichtig, die Balance zu halten. Ja, es stimmt, wir stecken in einer ganz außergewöhnlichen Situation aufgrund der multiplen Krisenlage. Wir sollten aber auch das Gefühl vermitteln, dass diese Krisen bewältigt werden können. Ein Verharren in Pessimismus und Fatalismus sowie eine Rhetorik des Untergangs und der Katastrophe verstärken nur das Gefühl in der Bevölkerung, wir seien all diesen Krisen hilflos ausgeliefert. Das sind wir nicht.

Der Schlüssel liegt in der internationalen Zusammenarbeit. Wenn es nicht gelingt, die europäische Solidarität über das nächste halbe, dreiviertel Jahr zu bewahren, etwa indem wir in Richtung billiges Gas schielen, werden wir am Ende alles verlieren. Das meine ich wirklich ernst. Die europäische Solidarität aufrecht zu erhalten, ist in diesen Tagen die allerwichtigste Aufgabe. In der Corona-Krise zum Beispiel war die europäische Kooperation entscheidend für die Entwicklung und gerechte Verteilung von Impfstoffen. Es wird aber auch weltweite Solidarität brauchen. Solidarität ist globale Solidarität oder es ist gar keine. Wir haben eine Verantwortung für den globalen Süden, auch in einer Krisensituation, die uns selbst trifft. Was die Corona-Krise anbelangt, kehrt eine gewisse Art von Normalität ein. Impfungen, Medikamente und eine funktionierende Surveillance erlauben es, ganz anders mit der Krankheit umzugehen als zu Beginn der Pandemie. „The new normal“ war kürzlich auch Thema bei der Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa.

Die Schlüsselfrage in Europa für die kommenden Monate lautet: Wie gelingt es uns, die Preissituation im Energiebereich einigermaßen zu stabilisieren? Auch da wird es eine europäische Lösung brauchen.“

Johannes Rauch, Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz

COVID-19 zusammen mit Influenza überwachen

„Was wir aus der Corona-Pandemie gelernt haben? Wir müssen bereit sein, auf das Unerwartete zu reagieren. Die Risiken werden durch das Virus und seine Mutationen bestimmt, aber die Auswirkungen liegen in unserer Hand. Wir müssen langsam dazu übergehen, COVID-19 so zu behandeln wie andere respiratorische Erkrankungen auch. Was müssen wir für die Zukunft besser machen? Wir brauchen vier Dinge: Surveillance, also das Erheben, Bewerten, Analysieren und Verbreiten wissenschaftlicher und technischer Daten betreffend Infektionskrankheiten. Da dürfen wir nicht locker lassen. Wir müssen versuchen, die einzelnen Länder in die Überwachung einzubauen, so dass es keine separaten Surveillance-Systeme mehr gibt und COVID-19 zusammen mit anderen Erkrankungen wie Influenza überwacht werden kann. Zweitens müssen möglichst viele COVID-19-Proben sequenziert werden. Drittens muss die Durchimpfungsrate erhalten, wenn nicht erhöht werden. Und viertens muss die Kommunikation verbessert werden. Die Pandemie hat gezeigt, dass die Bevölkerung nicht mehr willens ist, einfach Anweisungen hinzunehmen. Wenn die Bevölkerung dazu beitragen soll, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen oder unter Kontrolle zu halten, dann muss sie auch eingebunden werden. Wir haben gesehen, dass die Maßnahmen, die wir getroffen haben, ethische Dimensionen haben: Die Freiheit des Einzelnen wurde im Namen des Gemeinwohls beschränkt. Solche Maßnahmen erfordern einen konstanten Dialog mit der Bevölkerung. Kein Land kann eine derartige Krise allein bewältigen. Wir beabsichtigen, stärker mit den EU-Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten und auch länderspezifische Bedürfnisse zu berücksichtigen. Die EU-Behörden können natürlich nicht auf lokaler Ebene eingreifen, weil sie auch nicht den lokalen Kontext kennen. Was wir aber machen können: Wenn wir nun die Pandemiepläne überarbeiten, müssen wir auch darauf achten, die lokale Pandemievorsorge mehr als bisher miteinzubeziehen. Wir stehen auch in sehr intensiven Arbeitsbeziehungen mit den Balkanstaaten und der EU-Nachbarschaft. Eine wichtige Aufgabe ist es, das Vertrauen in Impfungen wiederzugewinnen. Die Gründe für diesen Vertrauensverlust sind sehr unterschiedlich, nicht nur in den verschiedenen Ländern, sondern auch innerhalb eines Landes. Die Lösungen müssen gruppen- und länderspezifisch sein.“

Dr. Andrea Ammon, Direktorin des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC)


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Metadaten
Titel
Jenseits des Idylls
Schlagwort
Gesundheitspolitik
Publikationsdatum
09.10.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 41/2022

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