Skip to main content
Ärzte Woche

01.09.2020 | Gesundheitspolitik

Sputnik-V

Corona-Impfung mit Risiken und Nebenwirkungen

verfasst von: Stefan Schocher

print
DRUCKEN
insite
SUCHEN

Der erste Impfstoffs gegen das neue Coronavirus war von Russlands Präsident Wladimir Putin als Befreiungsschlag geplant. Doch die Wissenslücken rund um diesen Impfstoff sind zu groß, um sie zu ignorieren; sie sind auch zu bedenklich, um das Führungsversagen in der COVID-19-Krise zu kaschieren. Und: Wenn Putins Trumpf nicht sticht, droht der totale Lockdown.

Sveta ist eine moderne junge Frau, sie ist viel gereist, hat viel gesehen von der Welt. Und für sie ist klar: Es gibt zwei Arten von Menschen – solche, die eine Führung, Schutz und Richtlinien brauchen und solche, die selbst Entscheidungen treffen. Sie zählt sich zu letzteren. Sie sagt: „Ich brauche keinen Schutz durch andere, keine Impfungen, keine Vorgaben. Ich bin in der Lage, Vorkehrungen zu treffen und meine Schlüsse zu ziehen.“

Sveta glaubt nicht, durch Impfungen werde man gechipt. Sie glaubt auch nicht, dass sie zwingend krank machen oder nur der Bereicherung einer Industrie dienen. „Ich bin ja nicht wahnsinnig“, sagt sie. Sie will sie einfach nicht, wie diese sagt. Und vielleicht werde sie sich sogar impfen lassen – irgendwann einmal. Aber sicher nicht jetzt und sicher nicht mit dem Impfstoff, mit dem Russlands Präsident Wladimir Putin derzeit den Senkrechtstart aus einer für ihn existenzbedrohenden Krise versucht.

Am 11. August hatte Russland als erstes Land der Welt den Coronavirus-Impfstoff Sputnik-V zugelassen. Entwickelt hat das Vakzin das zum russischen Gesundheitsministerium gehörende Gamaleja-Institut in Moskau, das auf Immunologie, Virologie, medizinische Mikrobiologie, Epidemiologie und Biotechnologie spezialisiert ist. 2015 hatte das Institut bereits mit einem Ebola-Impfstoff für Aufsehen gesorgt.

Politisches Manöver des Kreml

Putin sagte bei der Präsentation des Impfstoffes, seine Tochter sei bereits geimpft worden. Zahlreiche Staaten hätten auch bereits Interesse an dem Stoff deponiert. Laut russischer Regierung sind aus 20 Staaten Anfragen im Umfang von einer Milliarde Impfdosen eingegangen.

Dabei riecht schon die Benennung des Impfstoffes nach einem politischen Manöver. Sputnik war der Name des ersten künstlichen Satelliten, den die Sowjets 1957 in die Erdumlaufbahn schossen und mit dem sie sich kurz einen Vorsprung im Wettrennen um die Eroberung des Weltalls mit den USA holten. Sputnik-V wird nun also nach russischer Darstellung nicht weniger als die Menschheit retten.

Mit der Produktion soll laut offiziellen Meldungen noch in diesem Monat begonnen werden. Laut russischer Regierung ist geplant, erst einmal medizinisches Personal sowie Personen in gefährdeten Berufsgruppen auf freiwilliger Basis impfen zu lassen. Danach soll die Impfung auf freiwilliger Basis allen Bürgern zugänglich gemacht werden.

Sveta nennt das einen „Witz“. Auch Evgeny lacht. Der St. Petersburger will sich ganz sicher impfen lassen. Nur ganz sicher nicht mit dem Impfstoff Sputnik-V. Er will warten, bis ein amerikanisches, ein britisches oder ein deutsches Produkt auf den Markt kommt. Dem Impfstoff aus einem russischen Staatslabor vertraut er nicht.

Dafür gibt es handfeste Gründe. Die klinischen Studien, die der Zulassung vorangegangen waren, haben Lücken. So wurde der Impfstoff in der ersten und zweiten Testphase unterschiedlichen Angaben zufolge an 38 oder 78 Menschen getestet – so oder so eine verschwindend kleine Zahl. Noch etwas macht Menschen wie Evgeny stutzig: Die Studiendaten aus Testphasen eins und zwei sind nicht öffentlich zugänglich. Versprochen wurde seitens der Leitung des Gamaleja-Instituts allerdings eine baldige Publikation. Phase drei, also der Feldversuch, fehlt, auch ein detailliertes Studienprotokoll ist nicht bekannt.

Svetlana Zavidova, Direktorin der in Moskau ansässigen Association of Clinical Trials Organization (ACTO), kritisierte in einem Interview mit der FAZ die Vorgangsweise der russischen Behörden und des Gamaleja-Instituts. Die ACTO sieht sich als „nicht-kommerzielle Vereinigung von Unternehmen, Rechtskörperschaften und Forschungseinrichtungen“. Was Svetlana Zavidova durchblicken lässt, ist, dass die Zulassung schlicht ohne Rücksicht auf klinische Studien und deren Ergebnisse terminisiert wurde. Sie vermutet, dass das Studienprotokoll für die Phase 3 der Tests bei der Registrierung des Impfstoffs am 11. August noch nicht einmal existiert hat.

Svetlana Zavidova zufolge begann die Forschung an dem Vakzin am 17 Juli, der Abschluss der Studien ist mit 10. August datiert. Am 11. August wurde der Impfstoff registriert und am 12 August begann Testphase drei. Zavidova sagt mit Blick auf die knappen Zeitspannen zwischen dem angeblichen Abschluss der ersten Studienphasen und der Zulassung: „Wie hätte da jemand einen Bericht schreiben können? Nun, nachdem die Entwickler im Nachhinein nach Publikationen gefragt wurden, begannen sie zu versprechen, dass sie etwas veröffentlichen würden.“

Ob all das aus schlichter Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Abläufen oder aus politischem Kalkül passierte, lässt die Expertin offen. Und über die mögliche Wirksamkeit sagt sie: „Es liegen uns keine Berichte vor. Wir wissen nicht, welche konkreten Ergebnisse erzielt wurden.“ Schon aufgrund des Forschungsvolumens könnten bisher keine aussagekräftigen Daten über die Wirksamkeit vorliegen.

Klar ist, dass Kremlchef Putin Jubelmeldungen derzeit braucht wie selten zuvor: Im Fernen Osten des Landes hat er es im Oblast Khabarowsk mit einer hartnäckigen Protestbewegung zu tun, die seit Anfang Juli anhält. Der Auslöser: Die Verhaftung des Gouverneurs Sergei Furgal. Der Politiker der rechtsextremen LDPR hatte 2018 die Gouverneurswahlen in der Region in einem Erdrutschsieg (knapp 70 Prozent) gegen den Kandidaten der Kreml-Partei Einiges Russland gewonnen und war zuletzt der mit Abstand beliebteste Politiker in der Region – weit vor Putin. Seit seiner Verhaftung gehen in Khabarowsk regelmäßig Zehntausende Menschen auf die Straße, die nicht weniger als den Rücktritt Putins fordern.

Eine Protestbewegung, die auch der höchst wahrscheinlich vergiftete russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny unterstützt hatte. Und noch ein zweites Thema hatte Nawalny zuletzt intensiv aufgegriffen: Die Proteste im benachbarten Belarus, die den Kreml nervös machen. Dann ist da noch die Pandemie.

Russland steht mit mehr als 900.000 bestätigten Infektionen weltweit derzeit auf Platz vier. Und Evgeny sagt: „Über Jahrzehnte hat man uns erklärt, dass die Machtvertikale, die Putin und seine Leute aufgebaut haben, schlicht effizient ist. Effizienter als die Horizontale in einer liberalen Demokratie. Die Pandemie hat aber gezeigt, dass nichts funktioniert in diesem Land – trotz Vertikale und den damit verbunden Freiheitsbeschränkungen und Demokratiedefiziten.“

Staatsversagen hüben wie drüben

Und es ist Belarus, das dem Kreml derzeit vor Augen führt, was passiert, wenn Bürger in einem vertikal geführten autoritären Staat plötzlich erkennen, dass sie den Staat nicht brauchen. Mehr noch: Dass er ihnen im Weg steht wenn es darum geht, sich selbst zu organisieren und sich gegenseitig zu helfen. Genau das ist während der Pandemie in Belarus passiert und passiert nach wie vor. Sehr ähnliche Erfahrungen haben aber auch die Russen gemacht.

Nichts hat funktioniert, während der Pandemie: Erst redete die Führung das Problem klein, verordnete aber Zwangsurlaub, schickte die Stadtbürger auf ihre Datschen, erklärte aber, alles im Griff zu haben, zog dann sehr spät mit harschen Lockdown-Regelungen nach. Schließlich scheiterte das russische Gesundheitswesen vor den Augen des Landes an fundamentalen Kleinigkeiten wie Schutzausrüstung und einfachen Vorsichtsmaßnahmen. Im Stakkato kamen laute Hilferufe von Ärzten und Spitalspersonal aus allen Landesteilen, die über Unkoordiniertheit, Materialknappheit und durchseuchte Spitäler berichteten – während der Kreml ohne Rücksicht auf jegliche Schutzmaßnahmen im Juni die Siegesparade zum 75. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg nachträglich (der Termin am 9. Mai war nicht zu halten) durchzog – mit mehr als 20.000 Soldaten, die in enger Formation über den Roten Platz in Moskau marschierten.

Und Putin? Der tauchte zwischenzeitlich ab und überließ das Krisenmanagement Bürgermeistern und Gouverneuren – nachdem er die Krise lange kleingeredet hatte. Das ist der Punkt, an dem Evgeny seien Gedanken über die Vertikale und die Horizontale der Macht fortführt: „In dem Moment, wo der Kreml Entscheidungen treffen musste, schaltete er in die Horizontale, weil er nicht in der Lage war, Verantwortung zu übernehmen und Mängel einzugestehen.“

Für Sveta aus Moskau besteht demnach auch kein Zweifel, was hinter Sputnik-V steht: „Ein verzweifelter Befreiungsschlag.“ Ein politischer. Denn es rieche nach „einem Ende der Ära Putin“. Sie sagt: „So schwach und unkoordiniert, so angeschlagen, so richtungslos“ hätten die Russen ihren Staatschef noch nie erlebt. Evgeny sagt: „Das ist erst der Beginn.“

Derzeit kursieren Gerüchte über einen Total-Lockdown Ende September. Dabei ist es die Widersprüchlichkeit der Maßnahmen, die für Verwirrung sorgt: Da waren Gastronomie und Einkaufszentren in St. Petersburg etwa bis vor kurzem noch geschlossen, während der öffentliche Verkehr aber ungebremst in Betrieb war und niemand auch nur im Ansatz die Maskenpflicht in U-Bahnen, Bussen oder Straßenbahnen kontrollierte oder sanktionierte, wie Evgeny sagt.

Ratlose Russen

Die COVID-19-Krise lässt viele Russen ratlos zurück und hat vor allem das an sich bisher klar geregelte Verhältnis zwischen Bürger und Staat zerrüttet. Und langsam werden auch die wirtschaftlichen Folgen tragend. Ein flächendeckender Einbruch der Wirtschaft wäre für die Führung wirklich gefährlich. Und genau in diesem Licht, so sagt Sveta, sei wohl auch die überhastete, wenn auch staatstragend inszenierte Veröffentlichung des Impfstoffes Sputnik-V zu betrachten.

Aber kommt das bei der russischen Bevölkerung gut an? Laut einer Studie des staatlichen „Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung“ wollen sich mehr als 40 Prozent der Russen impfen lassen. Interpretiert wird das seitens der Studien-Autoren als großer Erfolg. Kritiker sehen diese Zahlen zugunsten der Führung geschönt.

Laut dem Lewada-Zentrum, einem unabhängigen Umfrage-Institut, vertrauen in der Corona-Krise jedenfalls gerade einmal 16 Prozent der Russen offiziellen Informationen und Angaben.

Gemäß Expertin Zavidova ist allerdings noch nicht einmal klar, ob es die Produktion von Sputnik-V „überhaupt geben wird“. Laut offiziellen russischen Stellen wird an eine Massenproduktion in Indien gedacht.

print
DRUCKEN
Metadaten
Titel
Sputnik-V
Corona-Impfung mit Risiken und Nebenwirkungen
Publikationsdatum
01.09.2020
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 36/2020

Weitere Artikel der Ausgabe 36/2020

www.gesundheitswirtschaft.at (Link öffnet in neuem Fenster)

Mit den beiden Medien ÖKZ und QUALITAS unterstützt Gesundheitswirtschaft.at das Gesundheitssystem durch kritische Analysen und Information, schafft Interesse für notwendige Veränderungen und fördert Initiative. Die ÖKZ ist seit 1960 das bekannteste Printmedium für Führungskräfte und Entscheidungsträger im österreichischen Gesundheitssystem. Die QUALITAS verbindet seit 2002 die deutschsprachigen Experten und Praktiker im Thema Qualität in Gesundheitseinrichtungen.

zur Seite

www.pains.at (Link öffnet in neuem Fenster)

P.A.I.N.S. bietet vielfältige und aktuelle Inhalte in den Bereichen Palliativmedizin, Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerzmedizin. Die Informationsplattform legt einen besonderen Schwerpunkt auf hochwertige Fortbildung und bietet Updates und ausgewählte Highlight-Beiträge aus Schmerznachrichten und Anästhesie Nachrichten.

zur Seite