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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 1/2017

Open Access 01.02.2017 | Originalien

Gesunde Seelen – starke Kinder

verfasst von: Univ.-Prof. Dr. Peter Scheer

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Ausgabe 1/2017

Zusammenfassung

Auf Basis des Monologs des Polonius aus W. Shakespeares Hamlet, in dem er seinen Sohn für die Welt bereit machen will, werden wesentliche Eckpunkte des Empowerments Adoleszenter besprochen. Vor allem geht es um die Wahrnehmung von Grenzen und Möglichkeiten, die ein gesundes Wachstum in die Gesellschaft ermöglichen sollen. Die Rolle des jungen Manns hat sich in den letzten 400 Jahren weniger geändert als die der jungen Frau, wie zum Schluss an Hand der Abschiedsworte des Laertes an seine Schwester Ophelia gezeigt wird. Dabei spielen Schule, Familie und die Hilfen, die angeboten werden, eine wesentliche Rolle.
Hinweise
Nach einem Vortrag gehalten bei der Tagung der steirischen Psychotherapeuten in Leibnitz am 22.09.2016.
And these few percepts in thy memory Look thou character: Give thy thoughts no tongue,Nor any unproportioned thought thy act.Be thou familiar, but by no means vulgar;Those friends, thou hast, and adoption tried,Grapple them unto thy soul with hoops of steel,But do not dull thy palm with entertainmentOf each new hatched, unfledged courage. BewareOf entrance to a quarrel, but, being in,Bear’t that th’opposed my beware of thee.Give every man thy ear, but few thy vice,Take each man’s censure, but reserve thy judgement.
Und weiter:
This above all, to thine own self be true, And it must follow as the night the day Thou canst not then be false to any man. Farwell – my blessing season thee.1
Was sagt Polonius seinem Sohn? Er bestimmt die Endpunkte einer Erziehung, die an sich richtig ist. Durch den feigen Brudermord ist in Dänemark jedoch gar nichts mehr richtig. Alles ist falsch. Die Wahrhaftigen werden ebenso untergehen wie die Mörder und ihre Spießgesellen. Besonders tragisch ist es, dass sogar Laertes, der so gut erzogen ist, dieser Erziehung zum Opfer fällt. Denn – so müssten wir Polonius fragen, dessen Sohn sich auf eine Reise nach Frankreich aufmacht – in welchem Geist hast du Laertes erzogen? Wolltest Du ihn stark machen, kräftig, lebensfähig und im Stande dein Geschlecht weiter zu vermehren und ihm Würde und Anstand zu geben? Hast du deinen Sohn auch auf schwere Zeiten vorbereitet, auf Mord und Verlust? Wird er mit deinem Tod umgehen können und – schwerer noch – mit dem Selbstmord seiner Schwester an dem er mitschuldig ist?
Wozu erzieht Polonius, Staatskanzler Dänemarks im 17. Jahrhundert, seinen Sohn?

Verschwiegen und selbstbewusst – ist das zeitgemäß?

Er fordert ihn auf verschwiegen zu sein. Und wenn er schon spricht, dann soll er keineswegs unverhältnismäßig sein.
Was machen wir heute? Wir geben den Kindern großes Selbstbewusstsein mit. Wir fordern sie auf, ihre Meinung auszudrücken, stark und mutig zu sein. Dann kommt die Realität: Jugendarbeitslosigkeit, Verführer von rechts, die die Schuld an der Misere den „Anderen“ – wer auch immer das sei – geben. Plötzlich sind die anerzogenen Meinungen und Kenntnisse falsch. Der Junge will in der Masse verschwinden und brüllen – gegen die da „oben“. Die Öffnungen der Grenzen, der Austausch von Schülern und Studenten – sie öffnen Herz und Hirn und machen Angst. Die Europäische Union, das Friedensprojekt dieses blutverseuchten Kontinents der Schlachtfelder und Grenzen, sie wird schlecht gemacht: Demokratieverlust beklagt, Verlust des Heimatlands beschworen. Der junge Mensch, den Eltern, Pädagogen und Medien zu einem „Sieger“ erziehen wollten, wird schwach und krank – oder zumindest aggressiv. Siege wie die von AfD und FP, die behaupten, dass man jungen Menschen schlecht will, sollen zu denken geben. So wie einst Polonius, der seinen Sohn mit den Zielen Ehrlichkeit, Mannesehre und Wahrhaftigkeit auf das Gute vorbereiten wollte und ihn letztlich zum feigen Mörder machte.
Was müssen wir heute machen, um unsere Jugend vorzubereiten? Müssen wir sie internetfit machen, den allgemeinen Sportwahn relativieren und allenfalls Krisen und Krisenmanagement vorbereiten? Machen wir nicht das Falsche, wenn wir sie mit Wissen vollstopfen, das sie auf Wikipedia nachlesen können? Hatten wir schon so ein selbstlernendes Lexikon und sehen wir mit Freude die Entwicklung der Menschheit zu einer gemeinsamen Bildung und einer gemeinsamen Wissensspeicherung? Oder versäumen wir das? Was müssen wir machen, wenn wir sie etwas lehren wollen, was auch dann noch gut ist, wenn wir es nicht mehr sehen?

Schauen wir bei Polonius weiter: Er soll familiär auftreten, aber nicht vulgär

Heute heißt „sich lustig machen“ selbst im Rundfunk „verarschen“. Mich schmerzt es, wenn ich Schülerinnen und Schüler höre, die diese Worte selbstverständlich aussprechen. Was ist jetzt gesund? Es verbieten oder es selbst sagen?
Ich finde, dass sich der allgemeine Sprachgebrauch geändert hat und dass sich in der Sprache der Gedanke birgt. Daher finde ich den Gedanken, dass jedes Sich-lustig-machen sofort eine braune Note bekommt, schade. Ebenso schade finde ich, dass man zu Sachen, die man verstauen muss, „shit“ sagt. Wenn mich das stört, habe ich Recht? Bin ich noch anschlussfähig? Bin ich noch für die Jungen verstehbar? Wie bin ich als Kinderarzt so glaubwürdig, dass ein Kind von mir lernen will? Was muss ich machen, um in einem jungen Mann eine solche positive Reaktion hervorzurufen, wie Polonius sie bei Laertes vorfindet? Glaubwürdigkeit – wie erreicht man sie?
Albert Einstein2 hat in seinen Aphorismen zur Erziehung Wert darauf gelegt, dass nur das Vorleben einen Einfluss auf die jungen Menschen haben kann. Daher erweitere ich die Fragestellung: Wie leben wir? Wie sprechen wir und welchen Ausdruck geben wir uns? Sind wir Vorbilder für ein „richtiges Leben“?
Ich glaube nein. Wenn man von der Internetsucht der Kinder spricht, dann schauen wir doch die Erwachsenen an, wie sie mit ihren elektronischen Spielzeugen umgehen: ebenso wie die Kinder.

Freunde

Polonius spricht nun das Wichtigste an, das junge Menschen haben: Freunde. Die Freundesgruppe formt den jungen Menschen und ermöglicht es ihm, aus dem Elternhaus herauszukommen. Die Wahl der Freundesgruppe, ob aktiv, oder passiv durch schwierige Lebensumstände, kann entscheidend sein: „In schlechte Kreise kommen“, „sich das Leben verbauen“ – das sind psychosoziale Bezeichnungen. Eltern können oft nicht mehr machen als zuzusehen, manchmal gelingt ein Machtwort. In der Schule obliegt es dem Lehrerkörper, die Entwicklung von Freundeskreisen zu beobachten und Fehlentwicklungen zu beschreiben, wobei eine Konzentration auf Sex und Drogen vielleicht zu wenig wäre. Es zu verändern ist oft schwerer gemacht als gefordert. Wahrhaftiges Wesen, starkes Auftreten und bisweilen kleine Tricks sollten zu Gebote stehen. Die vorgesetzte Schulbehörde wird sich nur selten bedanken, wenn Lehrer psychosozial aktiv sind. Oft gibt es aber auch Eltern, die böse sind, wenn die Klassengemeinschaft mehr adressiert wird als der Lehrstoff. In Zusammenarbeit mit Schulpsychologie, Sozialarbeit und anderen Diensten wären oftmals Lösungen für negativ gewordene Freundeskreise kriminalpräventiv. Erst einzugreifen, wenn junge Menschen etwas Falsches gemacht haben, ist schade. Psychotherapie kann hilfreich sein, indem sie erst annimmt und versteht, bevor sie beurteilt. Wie oft bin ich am Krankenbett eines jungen Menschen gestanden, der wegen eines Rauschs in die Klinik kam und den die Eltern am nächsten Morgen, wenn der Betroffene noch gar nicht so recht wusste wo er war und was er getan hatte, beschimpften. Beschimpften, weil sie selbst betroffen waren, weil sie das so nicht erwartet hatten und weil sie fürchteten, in der Erziehung versagt zu haben. Alles das stimmte so nicht. Stattdessen hat der Eleve das gängige Rauschmittel unserer Kultur ausprobiert und mangels Initiationsritualen zu viel davon eingenommen.

Kampf

Polonius spricht das so an, wie es sein soll: Kämpfe nicht, wenn es sich vermeiden lässt, aber sei stark, wenn du kämpfst. Mehr kann man dazu nicht sagen. Stattdessen sind Kämpfe in der Schule verboten, obwohl sie zur Herstellung der Hackordnung unerlässlich sind. Könnte man sie nicht standardisieren, wie es zu Zeiten des Polonius Vorschrift war? Damals hatte man Fechtunterricht und kämpfte dann rituell. Heute haben wir Fußball, Eishockey und sogar Ultimate: Ersetzt das den Kampf mit dem Ziel der Selektion des Stärkeren?
Ich finde, wir müssen dem Unvermeidlichen Raum lassen. Wenig Raum, zugegeben. Aber Raum. Sonst werden wir immer heimlich Kämpfe haben: in der Pause, am Schulhof und auf dem Weg zur und von der Schule. Nie verstand ich, wieso Lehrerinnen und Lehrer nicht wussten, dass die Herstellung der Hackordnung für Jungen unvermeidbar war, nie, wie sie ihre eigene Jugend vergessen konnten.

Geld in der Jugend

Die finanziellen Ratschläge Polonius sind heute so wahr wie damals: Sei sparsam mit deiner Kleidung, du musst nicht alles haben. Borge keinem Geld, Borgen bringt Unglück. Oft geht die Freundschaft mit dem Borgen – das ist heute so wahr wie damals.

Selbstreflexion

Vor allem aber – und das ist das Wichtigste: Sei ehrlich zu dir selbst. Du darfst alle betrügen außer dich selbst. Das ist doch die Essenz aller Erziehung. Das ist die Grundlage allen Lernens. Nur wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, kann ich lernen. Wenn ich mich selbst betrüge, mir einrede, dass ich nicht saufe, obwohl ich es längst mache, dann gibt es keine Änderungs- und Beratungsmöglichkeit. Ich muss in den Spiegel schauen und wissen, was ich lebe und allenfalls was ich den anderen vormache.

Zuletzt: ein wenig zu Mädchen

Gehen wir noch zur Perspektive der Mädchen, bei denen ich mich schlechter auskenne. Bei ihnen vollzogen sich seit dem Jahr 1602 die dramatischsten Veränderungen: Die jungen Frauen heute müssen, als Resultat der Frauenbewegung, sehr vieles unter einen Hut kriegen. Sie wollen:
1.
eine gute Ausbildung machen,
 
2.
sexuell attraktiv und verfügbar sein,
 
3.
eine Familie gründen und
 
4.
im Beruf ihre Frau stehen.
 
Das ist nicht wenig, und so wundert es nicht, dass viele Mädchen daran scheitern. Ich will ihnen keineswegs die Geschichten der Hunderten Kinder, die an Magersucht erkrankt waren und die ich behandelt habe, erzählen. Ich will nicht schimpfen, dass Frauen heutzutage in einem Alter Kinder kriegen, das biologisch unvernünftig ist. Ich will weder freudig die vielfachen Belastungen junger Frauen kommentieren, noch Mitleid haben. Es ist wie es ist, und wir haben damit fertig zu werden, dass Frausein heute etwas anderes bedeutet als im frühen 17. Jahrhundert.
Was wir aber sagen können, wenn wir Mädchen erziehen: Bei euch wie bei den Burschen kommt es darauf an, dass ihr euch nicht selbst belügt. Nicht jede ist schön, nicht jede ist klug und nicht jede wird bei „Germany’s Next Topmodel“ gewinnen können. Wenn ihr euch vergleicht, dann seht doch auf eure Vorteile, nicht nur auf eure Schwächen. Der Ruhm ist meist ein kurzes Vergnügen. Selten hält er lange, selbst wenn man geschickt und klug und schön ist. Selbst Brigitte Bardot wurde, wie sie selbst sagt, ausgenutzt und ist heute im Rahmen des Tierschutz zu einer Aktivistin geworden, die gegen Ausländer und Minoritäten hetzt, so als ob sie nie die große Welt kennen gelernt hätte.
Jetzt kommt die Gretchenfrage. Nicht, wie in Faust: „Sag’ Heinrich wie hältst du’s mit der Religion?“, sondern: Wie leben es die heute erwachsenen Frauen, Mütter, Lehrerinnen und Psychotherapeutinnen? Können sie zu ihrem Älterwerden, zu ihrem Verfall stehen? Können sie einen „vernünftigen“ Umgang mit ihrer Figur vertreten oder sind sie ebenso wie die Männer dem Jugendwahn verfallen und scheuen jede Auseinandersetzung mit sich selbst? Können sie vorleben, dass Schönheit wichtig, aber nicht entscheidend ist? Können sie sich dagegen wehren, dass heute sogar Schriftstellerinnen wie Vea Kaiser nicht nur jung und begabt sein sollen, sondern auch noch schön?
Hier gilt es, die Aufforderung des Laertes an seine Schwester Ophelia, die mit zu deren Selbstmord beigetragen hat (nebst der Aufforderung des Hamlet: „Go thy in the nunnery!“), neu zu schreiben. Nicht mehr das Bewahren der Unschuld und der Reinheit ist das oberste Ziel, wenn es denn bei uns überhaupt noch ein Ziel ist, sondern die Auseinandersetzung mit der Frage, was ein gelingendes Frauenleben heute ausmacht.
Tauchen wir zum Abschluss noch in eine vergangene Welt, die Worte des Laertes als liebender, älterer Bruder an seine Schwester:
Then weigh what loss your honour may sustain If with too credent ear you listen to his songs, Or lose your heart, or your chaste treasure open To his unmastered importunity. Fear it, Ophelia, fear it, my dear sister, And keep you in he rear of your affection, Out of the shot and danger of desire.3
Gestehen wir den Mädchen mehr zu, so müssen wir sie auch mehr und mehr unterstützen. Lebenslang, denn ihre Aufgaben werden eher mehr als weniger.

Fazit für die Praxis

Die beinahe zeitlosen Worte des Polonius enthalten:
  • Regeln für den Umgang mit Freunden,
  • Regeln für den Umgang mit Geld,
  • Regeln für den Umgang im Streitfall und
  • die Hoffnung auf eine Einordnung in die Gesellschaft.
Diese umfassende Förderung ist heute Anliegen von Familien, Schule und Gesellschaft. Dabei geht es darum, jedes Kind, jeden Jugendlichen umfassend zu fördern und so ein optimales Ergebnis für das Leben der Wachsenden herzustellen.
Open access funding provided by Medical University of Graz.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

Die Tagung wurde vom steirischen Psychotherapieverband und dem steirischen Elternverein organisiert, der dem Autor eine Spesenvergütung zur Verfügung stellte.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Fußnoten
1
W. Shakespeare: Hamlet, 1. Akt, 3. Szene.
 
2
Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein, wenn es nicht anders geht, ein abschreckendes. http://​www.​gutzitiert.​de/​zitat_​autor_​albert_​einstein_​thema_​erziehung_​zitat_​1398.​html Abgefragt 27.09.16 8:27:39 am.
 
3
W. Shakespeare: Hamlet, 1. Akt, 3. Szene: Abschiedsrede des Laertes an seine jüngere Schwester Ophelia, die in den Prinzen Hamlet verliebt ist und diese Liebe leben will.
 
Metadaten
Titel
Gesunde Seelen – starke Kinder
verfasst von
Univ.-Prof. Dr. Peter Scheer
Publikationsdatum
01.02.2017
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe 1/2017
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-016-0440-2

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