Open Access 16.05.2022 | Freies Thema
Gerinnungsaspekte des nichttraumatischen Herz-Kreislauf-Stillstands
Erschienen in: Anästhesie Nachrichten | Ausgabe 2/2022
Eine universell gültige Aussage über „Gerinnung“ bei kardiopulmonal reanimierten Patient*innen ist schwierig, da multiple, variable Faktoren die Gerinnungssituation einer/s Patientin/Patienten bestimmen. Grunderkrankung, Ursache des Herz-Kreislauf-Stillstands (HKS), Reanimationscharakteristika, Komedikation inklusive Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmer (TAH), Thrombolyse, antifibrinolytische Therapie, Hämodilution, Körpertemperatur determinieren das individuelle Gerinnungsprofil. Noch komplexer wird die Situation, wenn eine extrakorporale Herz-Kreislauf-Unterstützung („extracorporeal cardiopulmonary resuscitation“) das Gerinnungssystem einer großen Fremdoberfläche und retrograder Perfusion exponiert.
Generell erfolgen gerinnungsaktive Therapien im konservativen Herz-Kreislauf-Stillstand (HKS) ursachenorientiert. Die Gerinnungsdiagnostik beschränkt sich in der Regel auf Standardtests. Dennoch gibt es hämostaseologische Aspekte nach Reanimation, die womöglich klinisch und studienthematisch subtilerer Beachtung bedürfen. Dieser Artikel gibt einen kurzen Einblick in drei dieser Aspekte bei Patient*innen mit nichttraumatischem HKS.
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Das fibrinolytische System vermittelt die physiologische Wiederauflösung gebildeter Fibringerinnsel und trägt damit unverzichtbar zur physiologischen Regulation der Hämostase bei. „Tissue plasminogen activator“ (t-PA) ist ein zentrales Enzym der Fibrinolyse. Es wird in geringem Ausmaß kontinuierlich und durch variable Agonisten wie Hypoxie und Hypoperfusion vermehrt aus dem vaskulären Endothel freigesetzt. Eine überschießende t‑PA-Aktivität führt zur Hyperfibrinolyse (= überschießender Fibrin[ogen]abbau).
Hypoxie/Hypoperfusion-bedingte endotheliale t‑PA-Freisetzung wird als ein wesentlicher Mechanismus der (Hyper‑)Fibrinolyse betrachtet, die im Rahmen eines HKS auftritt [1, 2] und deren „Sinn“ vermutlich ist, einer disseminierten Gerinnselbildung entgegenzuwirken.
Die Fibrinolyse ist tatsächlich ein häufiges Epiphänomen, das sich bei einem substanziellen Anteil der Patient*innen beobachten lässt, sowohl thrombelastometrisch als auch klinisch [3]. Therapeutisch kommt der Hyperfibrinolyse im Kontext des HKS vermutlich wenig Bedeutung zu, da der Prozess nach Wiederherstellung des Kreislaufs und Normoxie aufgrund rascher t‑PA-Clearance sistiert [1] und ein Kausalzusammenhang mit neurologischem Schaden denkbar, aber unklar ist.
Die Tatsache, dass die Fibrinolyse im HKS eine Resultante der Hypoxie/Hypoperfusion ist, hat jedoch die Hypothese ermöglicht, dass das Fibrinolyseausmaß als Surrogat für eine protrahierte „downtime“ (Zeit von Kollaps bis Kreislaufrestitution) und/oder limitierte Herzdruckmassagequalität dienen und damit eine frühe Vorhersage des neurologischen Outcomes ermöglichen könnte. In einer prospektiven Kohortenstudie, die diese Hypothese untersuchte, ließ sich letztlich ein Fibrinolysewert von ≥ 20 % bei Krankenhausaufnahme finden, der eine 100 % spezifische Vorhersage eines schlechten neurologischen 30-Tage-Outcomes nach Reanimation ermöglichte (siehe Abb. 1; [4]).
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Als bettseitig messbarer Parameter, der eine gewisse Korrektur der oft geschätzten „downtime“ bzw. der ungewissen Reanimationsqualität (wesentliche Determinanten des neurologischen Schadens nach HKS) erlaubt, wäre die Fibrinolyse potenziell von klinischem Interesse [5]. Es muss natürlich bedacht werden, dass es sich um eine kleine Observationsstudie mit hochselektionierter Kohorte handelte, die Ergebnisse daher rein hypothesengenerierenden Charakter haben und keine individuelle klinische Anwendung erlauben. Die Studienergebnisse liefern womöglich eine Rationale, die Fibrinolyse bei Reanimationspatient*innen noch etwas detaillierter zu beleuchten.
Das akute Koronarsyndrom (ACS) als häufige Ursache des nichttraumatischen HKS erfordert eine rasche perkutane Koronarintervention (PCI) mit suffizienter TAH [6]. Die TAH im Rahmen eines ACS-assoziierten HKS ist besonders sensibel, da therapeutische Hypothermie, Morphinbehandlung und hämodynamische Instabilität Aufnahme und Metabolismus oraler P2Y12r-Inhibitoren beeinträchtigen und zu einer verzögerten und/oder unzureichenden TAH nach Koronarstenting führen können [7, 8]. Die akute Stentthrombose ist ein seltenes, aber potenziell letales Ereignis. Die/der hypotherme reanimierte Patient*in ist hier besonders gefährdet, da sowohl der HKS selbst als auch eine insuffiziente P2Y12r-Blockade unabhängige Risikofaktoren für eine Stentthrombose darstellen [9].
Cangrelor, der einzige verfügbare intravenöse P2Y12r-Inhibitor, erreicht innerhalb weniger Minuten eine suffiziente P2Y12r-Blockade, vermutlich auch im HKS [10], und bietet sich aus oben genannten Gründen zur Anwendung bei reanimierten Patient*innen intuitiv an. Ein relevanter Aspekt ist allerdings die generelle Notwendigkeit einer folgenden Transition zu einem oralen P2Y12r-Inhibitor. Da die Datenlage zu Wirksamkeit und Sicherheit von Cangrelor in Patient*innen mit HKS prinzipiell limitiert ist, ist auch unklar, ob der in der Fachinformation vorgegebene Transitionszeitpunkt (orale P2Y12r-Inhibitor-Gabe unmittelbar nach Absetzen der Cangrelor-Infusion oder, für Ticagrelor und Prasugrel, 30 min vor Ende der Infusion [11]) für reanimierte Patient*innen adäquat ist. Die Gefahr bei „zu später“ Transition ist ein „recovery“ der Plättchenfunktion mit akuter Stentthrombose als möglicher Komplikation.
Diese Vermutung ließ sich in einer prospektiven Beobachtungsstudie zumindest vorerst nicht ausräumen: In einer selektionierten Kohorte hypothermer, reanimierter Patient*innen mit ST-Hebungsinfarkt, die peri-PCI mit Cangrelor behandelt wurden, fanden wir unter Transition zu Ticagrelor innerhalb des empfohlenen Zeitrahmens eine relativ beträchtliche Anzahl von Patient*innen mit „high platelet reactivity“ (HPR; definiert als Thrombozytenaktivität > 46 Units, Impedanzaggregometrie), die mit abnehmender Überlappungszeit der beiden P2Y12r-Inhibitoren anstieg (siehe Abb. 2; [12]).
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Die Studienergebnisse suggerieren, dass ein Cangrelor-Ticagrelor-Transitionsschema mit längerer Überlappungszeit mit einer geringeren Anzahl an HPR-Episoden assoziiert ist (und potenziell auch mit einem geringerem Risiko an Stentthrombose?), lassen allerdings angesichts der kleinen Fallzahl und Selektion keine klinische Translation zu. Auch ist das Sicherheitsprofil eines derartigen Schemas unklar. Die Studie illustriert jedoch, dass die Cangrelor-Ticagrelor-Transition bei Reanimationspatient*innen vermutlich eine sensible Phase ist, die klinisch und studienthematisch weiterer Beachtung bedarf.
Die beiden TTM-Studien unterstreichen die Notwendigkeit neuer therapeutischer „targets“ in der Postreanimationsphase. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass der HKS-assoziierte neurologische Schaden nicht nur während der Kreislaufunterbrechung geschieht, sondern auch in der Reperfusionsphase nach Kreislaufwiederherstellung [13]. Die ischämische Reperfusion triggert eine komplexe proinflammatorisch-thrombotische Ereigniskaskade, die die (zerebrale) mikrovaskuläre Perfusion trotz Restitution des makrovaskulären Flusses irreversibel beeinträchtigen kann [14]. Die Aktivierung neutrophiler Granulozyten durch Hypoxie/Hypoperfusion wird als ein potenzieller Mechanismus des ischämischen Reperfusionsschadens angesehen [15]. Mediatoren des neutrophilen Organschadens nach HKS sind jedoch bisher wenig erforscht.
„Neutrophil extracellular traps“ (NETs) werden innerhalb von Minuten nach ischämischer Reperfusion freigesetzt [16] und wären attraktive Kandidaten für derartige Mediatoren. NETs sind Chromatinfäden, die aus Histonen und zellfreier DNA bestehen und thromboinflammatorische Eigenschaften besitzen, die Endothelschäden, Mikrogefäßverschlüsse und letztlich Organschäden verursachen können. In einer hypothetisch darauf basierenden Studie an reanimierten Erwachsenen konnten wir beobachten, dass die Wahrscheinlichkeit eines schlechten neurologischen 30-Tage-Outcomes mit der Höhe der NETs-Plasmakonzentration 12 h nach Kreislaufwiederherstellung signifikant anstieg [17].
Abb. 3 illustriert die Freisetzung von NETs mit citrulliniertem Histon H3 (H3Cit) als spezifischer Komponente und Indikator der NETs Formation.
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Die Studiendaten sind ausschließlich als hypothesengenerierend zu werten. Wäre H3Cit jedoch tatsächlich ein zentraler Mediator des neurologischen Reperfusionsschadens, könnte eine frühzeitige Hemmung der Histon-H3-Citrullinierung durch selektive Peptidylarginin-Deiminase-4(PAD-4)-Inhibitoren ein möglicher neuer therapeutischer Ansatz in der frühen Postreanimationsphase sein [18]. Angesichts der hohen Rate an ACS-assoziiertem HKS wären PAD-4-Inhibitoren besonders attraktiv, da sie die physiologische Gerinnung präservieren und – als potenzielles Additiv zu TAH und Antikoagulation – vermutlich kein zusätzlich erhöhtes Blutungsrisiko bedingen [19].
M. Schwameis, N. Buchtele, A. E. Merrelaar und M. S. Bögl geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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