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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 5/2019

Open Access 01.10.2019 | Originalien

FocusCP – rehaKIND

Erstmals kombinierter Kongress zu Zerebralparese und Kinderrehabilitation

verfasst von: Prof. Dr. med. univ. Walter Michael Strobl, MBA Health Care Management

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Ausgabe 5/2019

Zusammenfassung

Im deutschen Sprachraum leben etwa 80.000 Kinder mit Zerebralparesen mit Bedarf für eine dauerhafte, hochspezialisierte medizinisch-therapeutisch-orthopädietechnische Betreuung und Versorgung. All diese Aufgaben sind nur durch ein eng mit dem betroffenen Kind, seiner Familie und Bezugspersonen zusammenarbeitendes Expertenteam möglich. Damit diese Kooperation zum Wohl des Kindes funktioniert, muss eine gemeinsame Sprache erlernt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, hatten sich in Deutschland die wissenschaftlichen FocusCP-Kongresse aus einem Zusammenschluss der Neuropädiatrie, Kinderorthopädie und Sozialpädiatrie entwickelt. Parallel dazu entstand RehaKIND als patientennahe Organisation mit dem Ziel, allen betroffenen Kindern und Familien den Zugang zur richtigen Hilfsmittelversorgung und Rehabilitation zu erleichtern. Der Zusammenschluss dieser Institutionen führte nun zu einem gemeinsamen Kongress, dessen Erfolg den richtigen Weg in die Zukunft zu weisen scheint. Vom 6. bis 9. Februar 2019 fand in Fürstenfeldbruck bei München der erste kombinierte Kongress von FocusCP und rehaKIND mit 1300 Teilnehmern, 150 Vortragenden und 60 Ausstellern statt. Sehr viele Expertinnen und Experten und Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem Therapiebereich, der Medizin und der Orthopädie- und Rehabilitationstechnik aus den deutschsprachigen Ländern konnten von den beiden Kongresspräsidenten, dem Neuropädiater Prof. Dr. Florian Heinen aus München und dem Kinderorthopäden Prof. Dr. Walter Strobl aus Wien, zum Austausch zusammengeführt werden. Das dreieinhalbtägige Programm umfasste wissenschaftliche Sitzungen, patienten- und praxisorientierte Vorträge sowie eine Reihe von Workshops und, um bei der Vielzahl an parallel stattfindenden Sitzungen den Teilnehmern zu helfen, den Überblick zu behalten, jeweils am Tagesende gemeinsame Zusammenfassungen aller Themen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Vom 6. bis 9. Februar 2019 ist in Fürstenfeldbruck bei München ein Experiment gelungen: Das neue Fortbildungsformat, ein erstmals kombinierter Kongress von FocusCP und rehaKIND war mit 1300 Teilnehmern, 150 Vortragenden und 60 Ausstellern ein voller Erfolg. Fast alle Expertinnen und Experten und sehr viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem Therapiebereich, der Medizin und der Orthopädie- und Rehabilitationstechnik aus den deutschsprachigen Ländern konnten von den beiden international bekannten Kongresspräsidenten, dem Neuropädiater Prof. Dr. Florian Heinen aus München und dem Kinderorthopäden Prof. Dr. Walter Strobl aus Wien, zum Austausch zusammengeführt werden (Abb. 1234 und 5).
Das dreieinhalbtägige Programm umfasste drei große Programmlinien:
1.
Wissenschaftliche Sitzungen von FocusCP, einer Kooperation der wissenschaftlichen Gesellschaften für Neuropädiatrie, Kinderorthopädie und Sozialpädiatrie, zu den Themenschwerpunkten Muskel bei Zerebralparese, Therapien der Zukunft, Botulinumtoxin, Orthopädietechnik, Forschung, Qualitätssicherung, Präventionsprogramme und Langzeitverlauf
 
2.
Patienten- und praxisorientierte Vorträge für das multiprofessionelle Behandlungsteam von rehaKIND, einer patientennahen internationalen Fördergemeinschaft für die Rehabilitation und Hilfsmittelversorgung von Kindern mit Behinderungen, zu den Themen Teilhabe, motorisches Lernen, Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), Selbstständigkeit, Transition, psychosoziale Betreuung, Hospize und Netzwerke
 
3.
Eine Reihe von Workshops zu wichtigen aktuellen Spezialthemen von rehaKIND-, kinderorthopädischer, sozialpädiatrischer und neuropädiatrischer Seite
 
Um bei der Vielzahl an parallel stattfindenden Sitzungen den Teilnehmern zu helfen, den Überblick zu behalten und ausreichend informiert zu werden, wurde von den beiden Kongresspräsidenten jeweils zum didaktisch günstigen Zeitpunkt am Tagesende zur gemeinsamen Zusammenfassung aller Themen des Tages eingeladen.
Eine große Produktausstellung, in der viele Neuigkeiten gezeigt und auch probiert werden konnten, rundete das Informationsangebot für Experten, das Behandlungsteam und betroffene Familien ab. Für die hervorragende Organisation waren Frau Christiana Hennemann und ihr Team von rehaKIND verantwortlich.
Im deutschen Sprachraum leben etwa 80.000 Kinder mit Zerebralparesen mit Bedarf für Entwicklungsdiagnostik, psychologische Betreuung der Familien, Screening und Prävention, regelmäßige Bewegungsförderung und Therapie, dauerhafte Hilfsmittelversorgung sowie in vielen Fällen hochspezialisierte medikamentöse und operative Behandlungsverfahren. All diese Aufgaben sind nur durch ein eng mit dem betroffenen Kind, seiner Familie und Bezugspersonen zusammenarbeitendes Expertenteam möglich. Damit diese Kooperation zum Wohl des Kindes funktioniert, muss eine gemeinsame Sprache erlernt werden.

Kinder mit Zerebralparese und Kinderrehabilitation brauchen Visionen und Mut

Einige Pioniere hatten die Notwendigkeit gemeinsamer Diskussion, Aus- und Fortbildung früh erkannt, darunter in den 1980er-Jahren der erste Neuroorthopäde Österreichs, Dr. Adriano Murri. Er begründete im Orthopädischen Krankenhaus Stolzalpe in der Steiermark die Tradition der Neuroorthopädiesymposien, bei der Patienten ebenso vortragen wie Experten aus allen Berufsgruppen der Medizin, Therapie, Psychologie und Orthopädietechnik. Der von ihm gegründete Österreichische Arbeitskreis Neuroorthopädie veranstaltete, seit 2000 von Prof. Strobl geführt, bisher 13 Symposien in Österreich und Deutschland. Seit 20 Jahren hatte sich in Deutschland aus einem Zusammenschluss der Neuropädiatrie, Kinderorthopädie und Sozialpädiatrie FocusCP entwickelt, das mit dem gleichen Anliegen und Konzept Kongresse in größerem Format anbieten konnte. Gleichzeitig entwickelte sich RehaKIND als Organisation mit dem Ziel, allen betroffenen Kindern und Familien den Zugang zur richtigen Hilfsmittelversorgung und Rehabilitation zu erleichtern. Der Zusammenschluss dieser Organisationen, um einen gemeinsamen Kongress zu veranstalten, erschien zunächst nur jenen logisch, die die bisherige Entwicklung mitgestaltet hatten. Aber der Erfolg des ersten FocusCP-RehaKIND-Kongresses zeigt nun den richtigen Weg in die Zukunft.
Visionen, Tatkraft und Mut wird jedoch vor allem dafür notwendig sein, für die vielen noch bestehenden medizinischen, therapeutischen, orthopädietechnischen und organisatorischen Probleme Lösungen zu finden, um Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese ein Leben mit Teilhabe und ohne lebenslange chronische Schmerzen und sekundäre Einschränkungen zu ermöglichen.

Kinder mit Zerebralparese und Kinderrehabilitation brauchen Teamwork

Heute ist Teamwork in der Betreuung von Kindern mit Zerebralparese und neuromuskulären Erkrankungen sowie in der Kinderrehabilitation selbstverständlich geworden:
Teilhabe wird erreicht durch unterstützte Kommunikation, individuelle PC mit Hand‑, Mund‑, Augensteuerung. Spezialisierte Pflege ermöglicht eine individuelle Betreuung, Körperpflege, Ernährung, Wundpflege, Lagerung, unterstützt durch Heilerziehungspflege mit individueller Förderung und Beschäftigung in einer Tagesstruktur. Das pädagogische Angebot ergänzt diese individuelle Förderung von Alltagsaktivitäten und umfasst darüber hinaus Ausbildung, Schule, Prüfungsvorbereitung. Die Psychologie bietet individuelle Beratung, Behandlung, Motivation, Unterstützung der Familie. Therapeutische Berufe wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie unterstützen durch individuelle Bewegungsprogramme, Stehtherapie, Gehtherapie, robotikgestützte Lokomotionstherapie bzw. individuelle Beschäftigungstherapie, Handtraining, Hilfsmittelversorgungen. Spezialisierte Sportwissenschaftler beschäftigen sich mit individueller Bewegungsdiagnostik und Sportberatung. Die Neuropädiatrie ermöglicht individuelle Diagnostik, medikamentöse und andere Therapien, die Neuroorthopädie individuelle Diagnostik, orthetische und operative Behandlungen; andere chirurgische Fächer wie Neurochirurgie, Wirbelsäulenchirurgie, plastische Chirurgie, Handchirurgie, Urologie ermöglichen spezifische Operationsverfahren, die Anästhesie individuelle perioperative Betreuung. Die (Neuro‑)Radiologie bietet dafür eine unterstützende individuelle Diagnostik mithilfe von Röntgen, Computertomographie und Magnetresonanztomographie. Die Orthopädietechnik ermöglicht individuelle Orthesenversorgung, Orthopädieschuhtechnik individuelle Einlagen- und Schuhversorgungen, die Reha-Technik individuelle Hilfsmittelversorgungen, Rollstühle, Stehständer, Gehhilfen, Lifte, Assisted Living; und Sozialpädagogen sowie Sozialarbeiter helfen durch individuelle Beratung zum Zugang zu Rehabilitation und sozialen Einrichtungen.

Kinder mit Zerebralparese und Kinderrehabilitation brauchen Screening und Prävention

Trotz all dieser vernetzt arbeitenden Experten besteht weiterer Handlungsbedarf. Schmerzen schränken die Lebensqualität am meisten ein. Zwei Drittel aller Kinder mit Zerebralparese leben mit Schmerzen, 60 % mit Schmerzen des Bewegungsapparats, 40 % des Verdauungsapparats, 30 % vonseiten der Zähne und Hautproblemen. Weitere Studien zeigen, dass über 50 % der Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter Hüftgelenkschmerzen leiden und bei Schmerzen nur 13 % behandelt werden.
Wir wissen heute zunehmend mehr zur Entwicklung von Fehlstellungen der Arme, Hände, Beine und Füße, von Kontrakturen, die die Bewegung, Mobilität, Selbstständigkeit und damit Lebensqualität im Lauf des Lebens zunehmend einschränken. Wir wissen, bei welcher Lähmung welche Fehlstellung, Schwäche, Muskelimbalance, Gelenk- und Wirbelsäuleninstabilität, reduziertes Bewegungsausmaß mangelnde Muskeldehnung strukturelle Muskelverkürzung, Gelenkkontraktur, fortschreitende Gelenkluxation und Wirbelsäulenverkrümmung, Geh‑, Steh‑, Sitzstörung, Arthrose und letztlich Schmerzen mit Immobilität und somit verstärkter Fehlstellung auftreten. Hüftluxation und Skoliose gehören laut WHO zu den 100 lebensbedrohenden Krankheitsbildern, die jede Art von Vorbeugungsmaßnahme rechtfertigen.
Trotzdem gibt es in Mitteleuropa derzeit noch keine strukturierten Screening- und Präventionsprogramme um diese bekannten Spätfolgen zu vermeiden. Als internationaler Gast berichtet Prof. Gunnar Hägglund von den Ergebnissen der Studie seines südschwedischen Zerebralparese-Registers und Präventionsprogramms CPUP. Die Inzidenz der Hüftluxation bei Zerebralparese-Kindern konnte durch konsequentes Screening und orthetische sowie operative Frühbehandlung in 20 Jahren auf nahezu Null reduziert werden. Für das Hüftgelenk, die Wirbelsäule und die Beweglichkeit der Gelenke existieren Ampelmodelle, für die alle Therapeuten geschult werden [1].
Ein solches Präventionsprogramm zur Vermeidung von Kontrakturen, Hüftluxationen, Wirbelsäulenfehlstellungen wäre auch in Mitteleuropa für viele neuromotorische Erkrankungen sehr sinnvoll und effizient: Zerebralparesen, spinale Erkrankungen, angeborene Neuropathien, Muskelerkrankungen, Kollagenerkrankungen, Arthrogryposen und verschiedene Syndrome. Entsprechend dem oben angeführten Teamkonzept der Betreuung müssten alle Berufsgruppen darin nach entsprechender Schulung eigenverantwortlich eingebunden sein.

Kinder mit Zerebralparese und Kinderrehabilitation müssen Muskelkraft verbessern

Zahlreiche Vorträge aus Sicht der Grundlagenforschung, Sportwissenschaften und klinischer Medizin zum Schwerpunktthema Muskel bei infantiler Zerebralparese zeigten, dass das Wissen zur Struktur, Funktion und vor allem zur erstaunlich guten Adaptationsfähigkeit und Trainierbarkeit des Muskels bei Kindern mit Zerebralparese in den letzten Jahren rasch zugenommen hat. Aber nach wie vor bleiben zahlreiche Fragen ungeklärt. Wir gehen heute daher davon aus, dass jede Schwächung der Muskulatur in jedem Fall ungünstig ist. Alle die Muskelkraft schwächenden Behandlungsmethoden müssen kritisch hinterfragt oder überhaupt vermieden werden, während Muskelkrafttraining gezielt eingesetzt werden soll.
Botulinumneurotoxin(BoNT)-Injektionen sind gemäß der aktuellen Studienlage auch mit deutlich niedrigeren Dosen in der Lage, funktionelle Verbesserungen zu erzielen. Die Indikation zur Funktionsverbesserung sollte biomechanisch begründet und streng gestellt werden. Der Stellenwert der BoNT-Injektionen für die Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese und Spastik kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schmerzhafte Spastik bleibt oft unerkannt, trägt jedoch – wie bereits oben erwähnt – deutlich zu einer reduzierten Lebensqualität bei. Die selektive dorsale Rhizotomie als ebenso muskeltonusreduzierendes Verfahren bedarf gleichfalls einer strengen Indikation, ergänzt das Behandlungsspektrum aber besonders bei Kindern mit guter selektiver Muskelsteuerung, die durch eine funktionell störende Spastik überlagert wird.
Behandlungsverfahren, die die Muskelkraft verbessern, rücken zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Kraftverbesserung ist durch Stabilisierung von instabilen Gelenken durch Orthesen oder Sehnentransfers, die operative Verkürzung überdehnter Muskelgruppen, Normalisierung fehlgestellter Hebelarme, richtig aufgebautes Krafttraining, eventuell in Kombination mit der minimalinvasiven Verlängerung pathologisch strukturell verkürzter Muskeln oder Faszien, erreichbar. In kinderorthopädischen Zentren sehr bewährte und evidenzbasierte Verfahren sind dabei muskelkraftbalancierende Sehnentransfers an der Hand und am Fuß, Tibialis-anterior- und Patellaligamentverkürzungen, Single-Event-Multilevel-Operationen mit knöchernen Umstellungen, z. B. Femur-Extensionsosteotomien, Hüft- und Fuß-Rekonstruktionen und Spondylodesen. Studien wiesen sowohl postoperativ als auch nach Jahren und Jahrzehnten sehr gute und anhaltende Effekte auf Alltagsaktivitäten, wie die Geh‑, Steh‑, Sitz- und Greiffähigkeit nach.
Bei Hochrisikopatienten und Hochrisikooperationen, wie beidseitige Mehretagenosteotomien und besonders Wirbelsäulenstabilisierungen, ist eine sehr kritische individuelle Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung klinischer und psychosozialer Faktoren unerlässlich. Klinische Ethikkomitees können dabei mithilfe ethischer Fallbesprechungen im Expertenteam mit professioneller Moderation durch eine medizinethisch geschulte Person Hilfestellungen geben.
Um das Verständnis für neuroorthopädische Operationen zu erleichtern, konnten die Kongressteilnehmer in Workshops selbst erstmals Osteotomien an Kunstknochen erleben und selbstständig durchführen.

Kinder mit Zerebralparese und Kinderrehabilitation müssen für die Teilhabe neue orthopädietechnische Technologien nutzen

Die 3D-Printtechnologie ist zwar noch in Entwicklung, hat aber durch eine noch bessere Balance zwischen Mobilität und Stabilität ein enormes Potenzial, den Alltag der betroffenen Kinder und Eltern zu erleichtern. Neue Werkstoffe und Materialien ermöglichen neue, leichtere Konstruktionsprinzipien und damit eine effizientere Verbesserung der gewünschten Funktion sowie des Tragekomforts und der Akzeptanz.
Zur orthetischen Behandlung des häufigen neurogenen Knickplattfußes gibt es mehrere interessante neue Ansätze und technische Lösungen mithilfe neuer Orthesentypen, wie spezieller Dynamic Ankle Foot Orthosis (DAFO®), Talusrepositionsorthese (TRO), calcaneusaufrichtende multidirektionale Unterschenkelorthese (CAMAFO®), Metatarsale-1-Supination-Orthese (MT1SO), die noch weiterer Erfahrungen bedürfen. Ebenso wurden bei den häufigen neuromuskulären Wirbelsäuleninstabilitäten mit der Entwicklung von Kyphoskoliosen neue Ansätze der Korsettversorgung vorgestellt. Wichtig ist dabei die exakte Differenzierung zwischen allen rumpfstabilisierenden Verfahren, von der rein propriozeptiv wirksamen Kompressionsorthese bis zum mechanisch stabilisierenden Doppelschalenkorsett.
Das breite Gebiet der Sitzversorgung wird durch die Elektronik, völlig neue Werkstoffe bzw. Materialien und eine möglicherweise neue stufenlose Orthetik ebenso Unterstützung erhalten wie Gehorthesen und Gehapparate. Die derzeit noch sehr sperrigen Exoskeletons sind Vorboten einer neuen mechatronischen Orthopädietechnik, die die bestmögliche Teilhabe der Betroffenen erzielen möchte. Interessant wird, ob und wann die Willkürsteuerung der Hilfsmittel durch Brain-Machine-Interfaces durch das Nutzen von Elektroenzephalogrammsignalen in Echtzeit im Patientenalltag möglich wird.
Zum Thema Selbstständigkeit gibt es zahlreiche Neuentwicklungen, die die Bemühungen vonseiten der Orthetik demonstrieren. Vorgestellt wurde z. B. eine erste Hüft-Nachtlagerungsorthese, die selbstständiges Umdrehen ermöglicht, und ein mikroprozessorgesteuertes Kniegelenk, das das selbstständige Gehen trotz Lähmung erleichtern soll. Auch Bewegungshilfen mithilfe funktioneller Elektrostimulation zeigen, dass die Forschung auf dem richtigen Weg ist, zunehmend alltagspraktikable Hilfsmittel zu entwickeln.
ICF ist als strukturierte Funktionsdiagnostik für Teilhabe und Entwicklung daher auch in der Hilfsmittelversorgung angekommen und wird in deren Forschung, Anpassung und Fachhandel zunehmend genutzt werden. Die Implementierung der ICF wird auch Teil akademischer Ausbildungs- und Schulungsprogramme, wie z. B. im PART-CHILD-Projekt. Das Thema Hilfsmittel vs. Selbstständigkeit wurde auch vonseiten der konduktiven Förderung und vonseiten des MOVE-Konzepts diskutiert.

Kinder mit Zerebralparese und Kinderrehabilitation müssen motorisches Lernen fördern

Eine strukturierte klinische Untersuchung im Rahmen von verschiedenen Assessments wird, neben der teilhabeorientierten Hilfsmittelversorgung, auch im Therapiebereich immer mehr zum Standard. Neue neurowissenschaftliche Erkenntnisse bieten die Grundlage für innovative Therapieansätze, die die alten neurophysiologischen Behandlungsverfahren integrieren helfen.
Die zahlreichen Möglichkeiten der Virtual Reality bieten in der Hand der erfahrenen Therapeuten ein sehr gutes Werkzeug, motorisches Lernen zu fördern. Ihre erste Anwendung für die dynamische Haltungskontrolle als Basis der Bewegung wurde dargestellt. Des Weiteren dargestellt wurden Assessments und Trainingsstrategien für motivierendes Biofeedback, um Muskeln gezielt zu aktivieren und zu entspannen. Auch Robotics wird den therapeutischen Bereich in Zukunft zunehmend ergänzen und unterstützen. Interessante internationale Forschungsprojekte, wie Advanced Robotic Therapy Integrated Centers (ARTIC), wurden vorgestellt.
In einem Workshop wurde gerade auch für den therapeutischen Arbeitsbereich Bewusstsein für Schmerzen und „Red Flags“ zur Frühdiagnostik von Fehlentwicklungen des Bewegungsapparats, besonders im Bereich der Hüften, Wirbelsäule, Füße und Hände geschaffen.
Die Evaluierung der ambulanten und stationären Rehabilitationsverfahren, deren Zugang, Antrags- und Bewilligungsverfahren, Messung der Ergebnisqualität mithilfe ICF und Singer-Index sowie Goal Attainment Scaling (GAS) war wichtiges Thema eines Kongressteils.

Kinder mit Zerebralparese und Kinderrehabilitation brauchen eine Weiterversorgung im Erwachsenalter

Die Notwendigkeit einer altersübergreifenden Versorgung vom Kindes- bis ins höhere Erwachsenenalter ist zunehmend im Bewusstsein aller Behandler und Institutionen angekommen. In mehreren Vorträgen wurden die medizinischen und organisatorischen Bedürfnisse von Erwachsenen mit Zerebralparese und Mehrfachbehinderung beleuchtet. Verschiedene Transitionsmodelle sollen die Schnittstellen zwischen Kinder- und Erwachseneninstitutionen überbrücken helfen und leisten dies am besten, wenn gut funktionierende, professionelle Netzwerke aufgebaut werden.
Der Aufbau von ambulanten (Steuerungs‑)Zentren für Erwachsene findet in Deutschland in den neuen Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) statt, in Österreich und der Schweiz gibt es derzeit noch keine gesetzliche Grundlage für diese Strukturen. Der Aufbau von stationären Zentren für die interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung von Erwachsenen mit Zerebralparese und ähnlichen Krankheitsbildern ist ebenso erforderlich. Das Curriculum eines Facharztes für Behindertenmedizin soll zum Aufbau von Versorgungsnetzen für Erwachsene beitragen, in dem viele Spezialisten notwendig sein werden: spezialisierte Neurologen, Orthopäden, Internisten, spezialisierte Fachärzte für Zahnmedizin, HNO, Augenheilkunde, Dermatologie, Urologie, Gynäkologie, Psychiatrie etc.
Erstaunlich einfache und praktische Schnittstellenproblemlösungen wurden für das Entlassungs‑, Rehabilitations- und Case Management vorgestellt – von Personen, die täglich patientenorientiert in spezialisierten Institutionen arbeiten. Weitere wichtige Beiträge und Diskussionen zu Nachsorge, Hospiz, Palliativmedizin, Sport, Bundesteilhabegesetz (BTHG) im Alltag, Notfallversorgung und zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen und zur psychosozialen Betreuung von Kindern mit emotionalen Bedürfnissen bei chronischen Erkrankungen wurden von den Kongressteilnehmern erfreulich gut angenommen.

Kinder mit Zerebralparese und Kinderrehabilitation brauchen weiterhin Experten mit einer guten interdisziplinären Aus- und Weiterbildung

Die Abschlussdiskussion zeigte, dass in vielen Bereichen die Lösungen und entweder Visionen, Takraft oder Mut für deren Umsetzung noch fehlen. Es besteht sehr großes Interesse an weiteren alltagsrelevanten und Forschungsthemen und einem – auch unter einem weiblichen Präsidium – ähnlich gestalteten Folgekongress.
Der nächste RehaKIND-Kongress ist vom 25. bis 27. Februar 2021 in Dortmund geplant und, wenn es nach den Vorstellungen der diesjährigen Veranstalter geht, soll auch FocusCP wieder mit dabei sein, und der erste FocusCP-rehaKIND-Kongress eine Fortsetzung finden.
Das kleinere österreichische 14. Internationale Symposium für Neuroorthopädie & Rehabilitation wird ebenfalls 2021 an der Donau-Universität Krems in Niederösterreich zu aktuellen Themen sowie zum Thema Ausbildung und Fortbildung des Behandlungsteams stattfinden. Bei diesem Symposium ist traditionell auch die Graduierung der Studierenden des 5. Universitätslehrgangs für „Neuroorthopädie – Disability Management“ zum Master of Science geplant, den bisher 112 Fachärzte, Therapeuten und Orthopädietechniker aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Ungarn und Israel absolviert haben. Der 7. Lehrgang wird im Sommersemster 2021 starten und zwischen 2021–2023 an der Donau-Universität Krems und den spezialisierten Einrichtungen an der Neuroorthopädie Salzburg + Reha Vogtareuth, Neuroorthopädie Wien-Speising, Neuroorthopädie Rummelsberg, Universitätsklinik Basel und dem Schweizer Paraplegikerzentrum Nottwil stattfinden.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

W.M. Strobl gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Hägglund G et al (2014) Prevention of dislocation of the hip in children with cerebral palsy: 20-year results of a population-based prevention programme. Bone Joint J 96-B(11):1546–1552CrossRefPubMed Hägglund G et al (2014) Prevention of dislocation of the hip in children with cerebral palsy: 20-year results of a population-based prevention programme. Bone Joint J 96-B(11):1546–1552CrossRefPubMed
Metadaten
Titel
FocusCP – rehaKIND
Erstmals kombinierter Kongress zu Zerebralparese und Kinderrehabilitation
verfasst von
Prof. Dr. med. univ. Walter Michael Strobl, MBA Health Care Management
Publikationsdatum
01.10.2019
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe 5/2019
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-019-00713-z

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